Viele deutsche Unternehmer haben ein Anliegen, für das sie sich einsetzen. Über die Medien, über Verbände, über ihre Stiftungen. Aber kaum einer würde für seine Ideale auf die Straße gehen. Joseph Wilhelm, Jahrgang 1954, Selfmade-Unternehmer seit 1975, tut genau das. In seinem 20. Lebensjahr eröffnete er – entgegen seinen ursprünglichen Plänen von Ausstieg und Auswandern nach Tasmanien – den Bio-Laden Rapunzel in Augsburg. Gleichzeitig betrieb er eine kleine Bio-Gärtnerei. „Dies geschah aus dem Drang heraus, etwas zu bewegen“, wie er sagt. Es war die Geburt seiner Mission: Leben fördernde, gesunde Lebensmittel – Mittel zum Leben – herstellen und handeln, um einen Beitrag zum Erhalt unserer Lebensgrundlagen zu leisten. Das hat ihn schon damals motiviert. In den Anfängen musste er alles selbst bewegen: die Erde im Garten, das Müsli in der Badewanne, die abgepackte Ware bis zu den Kunden … Heute erledigen das 300 Mitarbeiter an den beiden modern eingerichteten Standorten, der Rapunzel Naturkost GmbH in der Zentrale in Legau und im Logistikzentrum in Grönenbach. Das Unternehmen erwirtschaftet rund 110 Millionen Euro mit dem Handel von Bio-Rohstoffen, deren Verarbeitung zu einer breiten Produktpalette von Grundnahrungsmitteln und Spezialitäten sowie mit dem Vertrieb im In- und Ausland. Die beiden Firmenstandorte im Allgäu sind nicht weit entfernt von Wilhelms Wohnort Kimratshofen, wo er auf seinem „Bioland“-zertifizierten Hof lebt. Hier im Stall bei seinen Pinzgauer Rindern und im Hausgarten schafft er sich den Ausgleich zur Büroarbeit im Unternehmen – er „erdet sich“. Das ist ganz wichtig für ihn.
Was bewegt Joseph Wilhelm, den Inhaber eines mittelständischen Unternehmens, drei Wochen Zeit zu opfern, um in den USA für eine Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel auf die Straße zu gehen? Mit einer Gruppe von Unterstützern machte sich Wilhelm im Oktober 2011 von New York auf den Weg zum Weißen Haus nach Washington D.C. Knapp 500 Kilometer in 16 Tagen. Zu Fuß. Und fast ausschließlich auf asphaltierten Straßen, auf Landstraßen, aber auch auf den Seitenstreifen von Highways. Kein entspanntes Wandern in schöner Natur, sondern das Wandern als Mittel zum Zweck. Für eine gentechnikfreie Zukunft. Entdeckt hatte Wilhelm das Laufen in einer Auszeit im Jahr 2000 – der ersten nach 25 Jahren Aufbau der Firma. Damals war es der Jakobsweg und eine ganz private Angelegenheit. Doch Wilhelm lernte die „positiven Effekte des Langstreckenlaufens kennen und schätzen“. Washington ist schon sein dritter Marsch. 2007 durchquerte er Deutschland von Lübeck nach Lindau. 2009 lief er von Berlin nach Brüssel. Immer mit dem gleichen Anliegen: Gentechnik verhindern, Bewusstsein schaffen, aufklären und aufmerksam machen auf die Risiken der Agro-Gentechnik.
Stolze Bilanz von „Genfrei Gehen“, so der Name seiner Initiative: 2.800 Kilometer, fast 200.000 gesammelte Unterschriften gegen Agro-Gentechnik bzw. für eine Kennzeichnung der Lebensmittel mit gentechnisch veränderten Zutaten; Hunderttausende von verteilten Flyern und Broschüren, Hunderte von kleineren Aktionen und größeren Veranstaltungen; auch die Medien haben das Thema aufgegriffen. „Alles in allem dürften wir mehrere Millionen Menschen erreicht haben“, schätzt Wilhelm. „Genfrei Gehen America“ respektive „Right2Know March“ war schon eine sehr spezielle Unternehmung, da sind sich die Akteure einig. Jeder in der kleinen Gruppe von ca. 40 Mitwanderern brachte sich auf seine Art und Weise in die Aktion ein. Musiker kreierten Right2Know-Songs, Theaterleute entsprechende Stücke. Die rollende Everybody’s Kitchen zauberte täglich kreative bio-vegetarische Menüs, das Organisationsteam twitterte und postete Nachrichten auf Facebook und Videos auf YouTube. Stephanie, die nicht mehr laufen konnte, steuerte ein Begleitfahrzeug, andere füllten morgens die bunten Luftballons mit Gas, die jeder an seiner Jacke oder seinem Rucksack befestigte. Viele verteilten wo immer möglich Infomaterial und sprachen Leute an. Besonders beeindruckt war Wilhelm vom Schlussevent in unmittelbarer Nähe des Weißen Hauses: „Es ist doch erstaunlich, was hier passiert“, sagt er. Keine 200 Meter vom Oval Office entfernt, erinnerte er Präsident Obama an sein Versprechen aus dem letzten Wahlkampf. Von der Bühne aus rief er: „Mr. President, we want a label – yes we can!“ Der vielstimmige Chor der Aktivisten wiederholte die Forderung. Es ist tatsächlich höchste Zeit, und es muss schnellstens etwas geschehen in Amerika. Im Vergleich zu Europa ist das Land wesentlich stärker von der Agro-Gentechnik betroffen. Experten schätzen, dass bereits in 80 Prozent der verpackten Lebensmittel gentechnisch veränderte Zutaten stecken. Die Konsumenten lehnen die Technologie überwiegend ab, haben jedoch kaum eine Chance, ihr beim Lebensmitteleinkauf auszuweichen, da es keine gesetzliche Kennzeichnungspflicht gibt. Einzige Alternative ist der Kauf von Bio-Produkten. Doch hier ist das Angebot noch viel zu klein und nicht überall verfügbar. „Die Amerikaner wachen langsam auf und beginnen ihr Recht, zumindest zu wissen, was sich in ihren Lebensmitteln verbirgt, einzufordern“, erklärt Wilhelm. „We have a right to know – just label it“, war einer der „Schlachtrufe“ der Marschierer. Transparenz und Wahlfreiheit sind ja auch an anderer Stelle immer mehr gefragt, wie die Occupy-Bewegung gerade zeigt. Stichwort Transparenz: In Deutschland ist die Kennzeichnung von gentechnisch veränderten Organismen (GVO) Gesetz. Für Bio-Produkte sowieso, aber auch konventionelle Ware muss ausweisen, wenn sie gentechnisch veränderte Zutaten einsetzt. Große Ausnahme: tierische Produkte. Hier gibt es bislang nur das freiwillige „Ohne Gentechnik“-Label, das beispielsweise auf immer mehr Molkereiprodukten auftaucht. Das Unternehmen Rapunzel Naturkost GmbH hat als Händler und Verarbeiter von 100-Prozent-Bio-Rohstoffen ein essentielles Interesse und vor allem auch die Verpflichtung gegenüber seinen Kunden, die Ware „sauber“ – frei von GVO – zu halten. Das bedeutet in der Konsequenz, die Ausbreitung dieser Technologie mit allen Mitteln zu verhindern, denn Koexistenz ist unmöglich. „Eigene Erfahrungen mit kontaminierter Rohware im eigenen Betrieb und eine Vielzahl von internationalen Studienergebnissen bestätigen das vielschichtige Gefahrenpotential dieser Technologie“, sagt Wilhelm. Es sei skandalös, dass die Agro-Gentechnik weltweit angewendet werde, ohne dass die Langzeitfolgen hinreichend erforscht sind. Wohl wissend, dass gentechnisch veränderte Organismen (GVO), einmal in die Umwelt freigesetzt, nicht mehr rückholbar sind. „Ich fühle mich als Bio-Unternehmer, Familienvater, Großvater und Mensch verpflichtet, mich für eine gentechnikfreie Welt einzusetzen“, bekräftigt Wilhelm.
Er ist Vater von fünf Kindern. Die älteste Tochter, Seraphine Wilhelm, hat viele Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt, jetzt lebt und studiert sie in Berlin. Ihre Schwester Justina lebt mit ihrer Familie in Österreich und ist angehende Fotografin. Sohn Leo ist Geschäftsführer von Rapunzel Türkei und am Stammsitz der Firma in Legau verantwortlich für den Ein- und Verkauf von Rohwaren. Dann sind da noch die beiden jüngeren Töchter Meike und Rosalie, die eine ist Gymnasiallehrerin, die andere noch im Studium. Wilhelms Ex-Frau Jennifer Vermeulen, mit der er gemeinsam das Unternehmen aufgebaut hat, leitet heute das Exportgeschäft bei Rapunzel. Rapunzel ist ein Familienunternehmen: Zwar sind nur einige Mitglieder der Familie im Unternehmen tätig, aber alle stehen voll hinter der Sache und dem Engagement ihrer Eltern. So modelte beispielsweise Justina Wilhelm für die Kampagne „We legalized Müsli“ zum 30. Firmengeburtstag. Außerdem besuchte sie die Rapunzel-Hand-in-Hand-Projekte (Fairtrade) in aller Welt und berichtete darüber in einem Blog auf der Firmenwebsite. Seraphine Wilhelm war einige Jahre für die Tochterfirma Rapunzel Pure Organics in den USA tätig. Im Oktober 2011 hat sie den Right2Know March von New York bis Washington als Fotografin begleitet. Darüber hinaus war es für sie eine willkommene Gelegenheit, Zeit mit ihrem Vater zu verbringen: „Eine schöne und mal ganz andere Familienzeit“, sagt sie. Zurück zur Mission. Die Gefühle waren durchaus gemischt während des 16-tägigen Right2Know-Marsches. Des Öfteren stellte sich Wilhelm die Frage: „Was mache ich hier eigentlich?“ Aber am Ende siegte die Überzeugung, dass es Sinn macht. Je erdrückender die Macht der „Multinationals“ wie Monsanto und BASF sei, desto wichtiger sei auch der Auftrag seiner Mission. Er erklärt in seinem Internet-Reise-tagebuch: „Es hat vielleicht mit meinem Glauben an Homöopathie zu tun, dass mich Übermacht nicht erschüttern kann. Als alles angefangen hat mit unserer Firma Rapunzel und der Bio-Bewegung, hat auch niemand gewusst, was daraus werden würde. Ich habe kein Problem damit, den ‚Großen Plan‘ des Lebens nicht zu kennen und trotzdem oder erst recht mit Begeisterung und Hingabe meinen Beitrag dazu zu leisten und zu tun, was ansteht.“ Die Umstände waren mit Sicherheit nicht optimal. Mehr Medienaufmerksamkeit wäre schön gewesen. Die Streckenführung war eindeutig zu „asphaltlastig“, zwei Tage mit 50 bzw. knapp 50 Kilometern waren eine echte Herausforderung. Und doch sei es richtig und wichtig gewesen, es zu tun. Sich zu bewegen. „Es macht nur Sinn zu kämpfen, wenn man sich Chancen auf einen Sieg verspricht, sonst ist es nur Energieverschwendung.“ Das ist eine von Wilhelms Lebensweisheiten. Die „Genfrei Gehen“-Märsche zum Bundestag und zum Europäischen Parlament haben gezeigt, dass sehr wohl mit den Füssen abgestimmt werden kann. Diese neue Form der „Volksbewegung“ hat etwas bewegt, und dies gibt genügend Anlass, seinen Überzeugungen weiter laufend Nachdruck zu verleihen. © 2022 wir |