Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen Bewertung

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    Rezensiert von Dr. med. Joachim Gneist, 18.09.2020

    Thema

    Im Zentrum dieses neuartigen Erziehungshandbuchs stehen Fragen, was einer guten Verbindung zu unseren Kindern im Wege stehen und was sie verbessern kann. Antworten ergeben sich – oft überraschend – daraus, wie wir selbst erzogen wurden, welche Fehler wir nie machen wollten und was wir dagegen tun können. Perrys Ziele sind, Eltern und Betreuer zu inspirieren, eine Kraftquelle für Kinder zu sein, weniger kämpfen zu müssen und selber zufriedener zu werden. Es geht nicht um Töpfchen-Training und Einschlaf-Hilfen, sondern um gefühlsmäßige Beziehungsgestaltung. Es ist mit Fehlern und Brüchen zu rechnen, die repariert und Versäumnissen, die nachgeholt werden können.

    Autorin

    Philippa Perry, Jahrgang 1957, ist eine britische Psychotherapeutin, seit 20 Jahren in eigener Praxis in London und auch sehr aktiv in öffentlichen Medien als Moderatorin, Kolumnistin und Ratgeberin. Ihre Ausbildung wurzelt in relationaler Psychoanalyse, u.a. bei dem Post-Jungianer Andrew Samuels, Jahrgang 1949. Ihren Kenntnisreichtum und pragmatisch intuitive Zugänge verdanke sie jahrelanger Teilnahme an Lese- und Supervisions-Gruppen über Säuglingsforschung und Bindungstheorie, Gestalttherapie und psychoanalytisch orientierte Körpertherapie. Ihre erwachsene Tochter Flo erlaubte ihr, sie als nicht anonymisierte Fallstudie heranzuziehen. Genauso ermutigt beim Schreiben fühlte sich Perry von ihrem Mann Grayson, Flos Vater, einem Künstler und Transvestiten.

    Aufbau

    Das Buch gleicht einem Gebäude mit sechs Stockwerken, die immer subtiler aufeinander aufbauen. Eine durchgängige Erkenntnis lautet: Unsere Vergangenheit fällt auf uns und unsere Kinder zurück. Eine andere: Kinder tun nicht, was wir sagen; sie tun, was wir tun. Als roter Faden zieht sich durch das Buch: Definieren Sie sich selbst und nicht Ihr Kind! Soll heißen, ergründen Sie Ihre eigenen Gefühle und Vorlieben, statt mit dem Kind „Fakten-Tennis“ zu spielen. Das machen die ausführlichen Beispiele und zahlreichen Übungen Perrys sehr deutlich.

    Ihren gesamten Text adressiert die Autorin an Mütter und Väter; ein Stil, den ich auch in meiner Inhaltsangabe meist beibehalte.

    Inhalt

    Teil 1: Ihr elterliches Erbe.

    Mehr als alles andere kann uns im Wege stehen, was wir selbst als Babys und Kinder mitbekommen haben: Unser Mangel an Vertrauen, unser Selbstschutz, der unsere Gefühle blockiert, Angst von Gefühlen überwältigt zu werden. Hier ein erstes Beispiel, das solche Zusammenhänge offenlegt und eine Lösung zeigt:

    Eine knapp 7-Jährige ruft ihre Mutter um Hilfe, weil sie auf dem Klettergerüst festsitzt. „Das schaffst du allein, komm sofort runter!“ brülle ich wütend. Schließlich schaffte sie es. Eine Woche später: wir sind im Zoo, und da steht wieder ein Klettergerüst, ein Schuldgefühl durchzuckt mich, meine Tochter schaut mich fast ängstlich an. Diesmal stand ich am Gerüst und beobachtete sie. Als sie steckenblieb, streckte sie mir hilfesuchend die Arme entgegen. Ich machte ihr Mut, wie sie es selbst schaffen könnte. Und das tat sie. „Warum hast du mir beim letzten Mal nicht geholfen?“, fragte sie. „Als ich klein war, behandelte mich Nana wie eine Prinzessin, ich solle vorsichtig sein, gab mir das Gefühl, nichts allein zu können … Ich habe meine Wut an dir ausgelassen, das war nicht fair!“ „Ich dachte, ich bin dir egal.“ „Oh nein, du bist mir wichtig, aber in diesem Moment habe ich nicht gemerkt, dass ich wütend auf Nana und nicht auf dich war. Und das tut mir leid“ (S. 19 f.). Eine erste Übung lautet „Herausfinden: woher kommt diese Emotion?“ Dazu gehört innehalten und die Situation aus der Perspektive meines Kindes sehen. Vielleicht können Sie allmählich begreifen, wie sehr diese Reaktion zu einer Gewohnheit geworden ist. Nicht der Bruch, sondern die Reparatur ist das Entscheidende (S. 24 f.). So ziehen sich Mutter oder Vater oft etwa in dem gleichen Alter von ihrem Kind zurück, in dem sie das auch bei ihren jeweiligen Eltern erlebt haben. Verhaltensmuster finden sich oft in der Art und Weise wieder, wie wir mit uns selbst sprechen. Die Stimme unseres harten inneren Kritikers verleitet auch unsere Kinder dazu, sich selbst und andere zu verurteilen. Mehrere Übungen dieses ersten Teils handeln von Reaktionen, die unsere Kinder in uns auslösen. Das Ergebnis ist, überhaupt weniger zu bewerten.

    Teil 2: Die Umgebung Ihres Kindes.

    Nicht die Familienstruktur, der Umgang miteinander zählt. Ob Eltern sich verstehen, wird von ihren Teenagern oft viel stärker beachtet als von Eltern selber. Sind Eltern nicht zusammen, ist es wichtig, dass Sie sich respektvoll über den andern Elternteil äußern, sonst sieht das Kind sich selbst oftmals als „schlechte Person“. Viel Einfühlung und Sachverstand investiert Perry in praktische Voraussetzungen, richtig zu streiten. Schon Meinungsverschiedenheiten über Abwasch jetzt oder später schaukeln sich zum „Fakten-Tennis“ hoch, wenn man Gefühle ausklammert.

    „Aufschlag“: Wenn du den Abwasch stehen lässt, trocknen die Essensreste ein, deshalb mach es sofort! 15–0. Return: Ich nutze die Zeit besser, wenn ich das Geschirr tagsüber sammle und alles auf einmal abwasche. 15 beíde – und so fort bis zum Einstand. Wenn eine Person Verlierer ist, bringt sie dem Gegner sicher keine liebevollen Gefühle entgegen (S. 51). Ablenkung – die Autorin nennt es „Schau mal, ein Eichhörnchen!“-Spiel – und höfliches Umschiffen von Themen kann Ihr Kind, Ihren Partner ganz schön einsam machen. Beim idealen Streit-Stil geht es nicht ums Gewinnen, sondern ums Verstehen, um Mitteilen, wie ich mich fühle.

    Ein Streit-Beispiel zwischen Sohn, 22, und Vater: „Dad, du bist 60, du wirst deine alte Lederjacke nie wieder tragen, kann ich sie haben?“ „Was, kannst du nicht einmal warten, bis ich tot bin, bevor du anfängst meine Sachen zu fleddern?“ Der Streit könnte so enden: „Hier hast du sie!“ „Jetzt will ich sie nicht mehr.“ Perrys Version; „Ich finde deine Lederjacke toll, kann ich sie haben?“ „Ich brauche etwas Zeit, sie loszulassen.“ Ziel ist, zu verstehen, wie sich der andere Mensch fühlt.

    Teil 3: Gefühle.

    Es kommt darauf an, dass die wichtigsten Menschen in unserem Leben unsere Gefühle wahrnehmen und verstehen. Überlegen Sie einmal: Wann müssen Sie besonders laut schreien? Wenn Sie nicht gehört werden. Gefühle müssen gehört werden. Vom Verdrängen und Überreagieren zum Aufnehmen und Einordnen führt ein Weg, z.B. Wut in unserem Kind zu akzeptieren. Für das Kind seine Wut in Worte fassen, sie nicht bestrafen oder sich von ihr überwältigen lassen. Dem ist eine grundlegende Übung gewidmet: „Wie wohl fühlen Sie sich mit Ihren Emotionen?“ Beispiel: Ihr 8-Jähriger sagt „ich will nicht in die Schule gehen“, Ihre Antwort „du gehst und damit basta“, wenn man in Eile ist. Aber für Ihr Kind ist es erleichternd zu hören „du hasst die Schule im Moment wirklich, oder?“ (S. 71).

    In einer 6-seitigen Fallstudie beschäftigt sich die Autorin mit der Gefahr, Gefühle nicht zuzulassen. Beide Eltern des 10-jährigen Lucas sind berufstätig und besorgt, die bestmögliche Betreuung zu organisieren. Dem Jungen schien es trotz häufigem Betreuerwechsel gut zu gehen – bis er versuchte, aus dem Fenster im 6. Stock zu springen. Der Therapeut und Lucas fanden heraus, dass das Problem nicht darin lag, dass beide Eltern arbeiteten, sondern dass er mit seinen Gefühlen alleingelassen wurde. Z.B. schloss er Freundschaft mit den jeweiligen Au-pairs, vergaß einige und bekam das Gefühl, dass sie ihn sicher auch vergessen hatten. Das in diesem Fall stärkere Schuldgefühl der Mutter könnte auch etwas mit den traditionellen Geschlechterrollen zu tun haben. Beide Eltern lernten, ihre Gefühle und diese Erfahrungen einzuordnen und sich Lucas anders zuzuwenden. Man kann Kinderbetreuung delegieren, aber Liebe nicht (S. 76–81).

    Vertrauen ist Voraussetzung, dass Ihr Kind mit Ihnen reden mag. Wenn Sie es albern nennen, weil es sich über Omas leckeren Linseneintopf beschwert, kann es vielleicht das Gefühl bekommen, dass es Ihnen nicht sagen darf, dass der widerliche Klavierlehrer ihm die Hand aufs Bein legt. Der Unterschied zwischen beidem ist klar, doch ein Kind bucht beides unter „etwas Ekliges“ ab (S. 87).

    Was ist, wenn Ihr Kind etwas sagt, was Ihnen überhaupt nicht gefällt? „Ich mag das Baby nicht, ich möchte, dass du es ins Krankenhaus zurückbringst!“ Dann ist es umso wichtiger, zuzuhören, zu verstehen, wie sich Ihr Kind fühlt. Antworten Sie z.B. „du bist in letzter Zeit wirklich zu kurz gekommen“, „wie fühlt es sich an, dass du jetzt ein Bruder bist?“ Dazu passen Übungen, sich zu erinnern, wann habe ich eventuell selbst als Kind ein Geschwisterchen gehasst und wie wurde mit mir darüber gesprochen. Mit der Zeit lernt ein Kind von Ihnen, seine Gefühle zu beobachten und einzuordnen.

    Teil 4: Das Fundament.

    Schwangerschaft. Wenn eine 38-Jährige schwanger wird, ist es nicht zu spät für sie, heraus zu finden, wie es wohl für ihre jetzt 81-jährige Mutter war, damals mit ihr schwanger zu sein und ein Kind zu gebären, mit dem es zeitlebens schwierige Gefühle gibt. Die werdende Mutter macht sich in ihrer Therapie mit Perry klar, dass Traurigkeit wohl immer bedrohlich war für ihre Mutter, sowohl ihre eigene wie die des Kindes, die jetzt Mutter wird und ihrer eigenen Tochter gegenüber so ehrlich und offen wie möglich sein will. Fundamental ist, einen Menschen auf die Welt zu bringen, mit dem Sie eine lebenslange positive und liebevolle Beziehung pflegen möchten. Fundamental ist auch, dass alle Regeln und Vorsichtsmaßnahmen ein falsches Gefühl von Kontrolle vermitteln. Es kann Eltern in Panik versetzen, wenn sie den vielen, zum Teil kulturell bedingten Ratschlägen nicht ganz genau gefolgt sind. Ihr Kind muss wissen, dass Sie an es glauben, damit es gedeihen kann. Joan Raphael-Leff unterscheidet zwei Haupttypen von Eltern: die eher erwachsenen-zentrierten Regelsetzer und die eher dem Kind sich anpassenden Ermöglicher. Statt sich in Streit darüber zu verlieren, empfiehlt Perry werdenden Müttern und Vätern eine Übung, sich mit den eigenen Erwartungen zu beschäftigen; wie kann ich schon mit dem ungeborenen Kind eine Beziehung aufnehmen und mich freuen, es kennenzulernen? – Die Geburt planen? Perry ermutigt dazu, aber flexibel auf das zu reagieren, was sich Ihrer Kontrolle entzieht. Die Autorin erzählt von der traumatischen Geburt ihrer eigenen Tochter vor 25 Jahren, „weil sie und ich nicht den Hautkontakt hatten, den ich damals schon für so wichtig hielt. Aber immerhin waren wir beide am Leben. Sobald ich stehen konnte, ging ich auf die Station und lernte meine Tochter kennen. Das Personal dort tat alles, damit ich mich wieder in mein Bett legte, aber ich blieb“ (S. 118). 

    Wenn nun aber eine Verbindung immer problematischer wird? Eine Mutter hatte den Drang, ihrer kleinen Tochter weh zu tun: Wenn sie nicht aufhörte, nachts zu schreien und mich zu wecken, wollte ich sie in die Luft werfen oder schütteln. Meine Gedanken quälten mich mehr als ihr Schreien, dass man sie mir vielleicht wegnehmen sollte? Als ich im Teenageralter meine Eltern umbringen wollte, waren diese Gedanken nicht so drängend gewesen wie die über meine Tochter. Ich nahm meinen Mut zusammen und redete mit meiner Schwester. Sie erklärte mir, dass jede Mutter sich manchmal so fühle, und dass sie sich dann von außen betrachte, wie wenn sie einer lästigen Person zuhörte. Es hat mir wirklich geholfen, dass sie mich als normal betrachtete. Die Gedanken, meine Tochter zu verletzen, haben nachgelassen. Außerdem weiß ich, dass ich mich wieder meiner Schwester anvertrauen kann.

    Sich Unterstützung holen zu können, kann ein Zeichen von Bindungsfähigkeit sein. Perry unterscheidet vier Bindungstypen: den sicheren, unsicher-ambivalenten, vermeidenden und abweisenden. Die Autorin bietet eine geführte Visualisierung an, um versteckten Teilen seiner Erziehung auf die Spur zu kommen. Sie können als Eltern Gefühle wieder erleben, die sie abgespalten haben. Abgesehen von hormonellen Auslösern postnataler Depressionen, können sich durch unerkannte Überforderung Tendenzen entwickeln, sich vom Kind oder von sich selbst bis hin zu Selbstmordgedanken zurückzuziehen. Lassen Sie sich mit solchen Gefühlen nicht allein.

    Teil 5: Voraussetzungen seelischer Gesundheit.

    Zu ihren wichtigsten Indikatoren zählt ein starkes Band zwischen Eltern und Kindern: beim Baby zu sein, wenn es seine Gefühle und Stimmungen erkundet, und körperlich nahe zu sein. Gesten, Geräusche und Geschrei sind Gesprächsvorläufer. Die glücklichsten Eltern lernen von ihren Kindern. Wechselseitiges Geben und Nehmen ist jedoch nicht selbstverständlich. Möglicherweise haben wir das als Kinder nicht erlebt, auch wenn wir gut versorgt wurden.

    Als Übung empfiehlt Perry: Wenn Sie, sobald Ihr Kind Aufmerksamkeit fordert, fast immer an etwas Dringenderes denken, kommt wahrscheinlich Ihre Diaphobie (Dialogscheu) zum Vorschein. Überwinden Sie den Instinkt, Ihr Kind wegzuschieben, statt sich ihm zuzuwenden. Seien Sie stolz darauf, dass Sie das Problem erkannt und darauf anders reagiert haben. Häufig glauben wir nur, dass wir zuhören. In Wirklichkeit warten wir nur auf eine Pause, um selbst zu reden. Erlauben Sie Ihrem Baby, auf Sie einzuwirken. Ihr Kind wird sich sonst allzu stark anpassen, um ein Zugehörigkeitsgefühl zu bekommen, und verliert dabei das Gefühl für sich selbst. Als Psychotherapeutin habe Perry Erwachsene kennengelernt, die auf der Stufe der ständigen Gier nach Aufmerksamkeit stehen geblieben sind. Daher wendet sie sich auch dagegen, ein Baby oder Kleinkind in der Nacht schreien zu lassen. Eine Erkenntnis aus der Schlaftrainingsforschung sei, nicht das Bedürfnis nach der Bezugsperson verschwindet, nur das Schreien. Wir lernen uns selbst zu beruhigen, indem wir von anderen beruhigt werden. Ein Kind wird sich weniger wehren, ins Bett zu gehen, wenn es schon immer ein Ort des Trostes und nicht der Einsamkeit war. Natürlich ist es oft schwierig zu wissen, ob man dem Kind zu Hilfe kommen, es ermutigen oder nur beobachten soll. Üben Sie, Ihrem Kind die Führung zu überlassen, auch im Spielen.

    Dazu ein Beispiel: Neulich beobachtete ich einen Vater und seine Tochter am Strand. Das Mädchen war wohl etwa 6 Jahre alt. Als sie ankamen, hieß es zuerst „Papa, tu das“ „komm mit“ „komm ins Wasser“ „hol den Eimer“. Der Vater tat alles, was ihm gesagt wurde. Nach einer Weile versenkte sich das Mädchen immer mehr in das Spiel mit dem nassen Sand. Papa war in der Nähe, aber schaute nur zu, spielte nicht mit. Er schaffte es sogar noch, seine Zeitung zu lesen. Es war ein schönes Beispiel dafür, wie das Mädchen allmählich seinen inneren „Autopiloten“ fand. Seelische Gesundheit fördert auch, wenn Kinder mehr Zeit draußen und mit anderen Kindern zum Spielen bekommen, weniger Zeit drinnen und mit strukturierten Aktivitäten oder vor dem Bildschirm. Es überrascht nicht, wenn die Autorin meint: Langeweile kann ein notwendiger Bestandteil von Kreativität sein.

    Teil 6: Jedes Verhalten ist Kommunikation.

    Von Manipulation und Kampfverhalten zum gefühlsmäßigen Respektieren geht es im letzten Teil. Wie streng Eltern sein sollten, wie man mit Jammern und Klammern umgeht und wann und wie man Grenzen setzt. Früher meinten Eltern, dass Kinder nicht ihren Kopf durchsetzen dürften. In diesem „Lass-es-nicht gewinnen!-Spiel“ gibt es keine eigentliche Beziehung. Indem Sie ein Kind dominieren, bringen Sie ihm bei, andere zu dominieren. Wenn es die meiste Erfahrung in den Rollen Opfer und Täter hat, wird es sich automatisch (?) in eine der beiden Rollen einleben. Um uns in unserem sozialen Umfeld angemessen zu verhalten, brauchen wir vier Fähigkeiten: Einfühlungsvermögen, Flexibilität, Problemlösungskompetenz und Frustrationstoleranz.

    Übung: Wenn Sie eine Situation ändern wollen oder eine neue bevorsteht, kann es helfen, sich vorzustellen, wie es ist, Ihr Kind zu sein, was es sagen würde, wenn es seine Gefühle identifizieren und sich artikulieren könnte. Versuchen Sie diesen Rollentausch in Form eines Briefes an sich selbst aufzuschreiben. Vorher haben Sie vielleicht unterstellt, Ihr Kind wüsste genau, wie es Sie auf die Palme bringt. Die drei häufigsten Stile, um das Verhalten eines Kindes zu steuern sind:

    1. Strenge. Sie birgt aber die Gefahr, dass Sie vorleben, recht zu haben. Es kann Ihr Kind sogar an Zusammenarbeit hindern oder daran, selbst Anführer zu sein.
    2. Laxheit heißt, dass Sie Ihrem Kind nie Standards oder Erwartungen vermitteln. Es kann sich verloren und unsicher fühlen.
    3. Die kooperative Methode kann z.B. so gehen „ich brauche Ordnung in deinem Zimmer und ich möchte, dass du es aufräumst“. Nicht „räum dein Zimmer auf!“ Finden Sie heraus, ob sich das für Ihr Kind ungerecht anfühlt oder überfordernd. Suchen Sie gemeinsam nach Lösungen.

    Nochmals zu Wutanfällen: Es geht nicht darum, dass Sie tun, was das Kind will, wenn es einen Wutanfall hat, sondern dass Sie seine Frustration mitfühlen. Wenn der Wutanfall Sie an Ihre Grenzen bringt – erst reflektieren, bevor Sie reagieren. Manchmal kann es notwendig sein, das Kind aus einer Situation herauszunehmen. Dann sagen Sie „ich muss dich hochnehmen, weil ich nicht zulassen kann, dass du den Hund verletzt“. Und dann tun Sie das auch. Wenn Sie zurück schreien, bestrafen Sie das Kind für seine Gefühle.

    Lügende Eltern – lügende Kinder. Eltern verbergen oft Familiengeheimnisse, z.B. Adoption, um das Kind zu schonen. Aber es wird körperlich spüren, dass etwas nicht stimmt. Nicht selten lügen Kinder, weil die Erwachsenen die Wahrheit nicht unvoreingenommen anhören würden. Oder um ein Geheimnis für sich zu behalten, z.B. als 16-Jährige eine Gefahr bestanden zu haben, wie die Autorin es von ihrer Tochter später erzählt bekam. Eine andere Mutter musste einmal ihren 16-jährigen Sohn von der Polizeiwache abholen, weil er an einer „Supermarktplünderung“ beteiligt war, Bier und Süßigkeiten (!) aus dem Laden zu schieben. Die Mutter wollte herausfinden, warum das passiert war und mit ihrem Jungen klären, wie so eine Situation beim nächsten Mal nicht aus seiner Kontrolle gerät, auch nicht unter Gruppendruck von peers.

    Perry schließt mit dem Hinweis, genauer zu sehen, wie unsere eigenen Eltern jetzt mit uns als Erwachsenen umgehen. Interessiert, bevormundend, gleichgültig? Wenn wir gelernt haben, unseren Kindern zu vertrauen, werden Entscheidungen für uns und für sie einfacher sein.

    In ihrem Nachwort fasst Perry nochmals zusammen, was ihr am wichtigsten ist:

    Situationen sowohl aus der Sicht Ihres Kindes wie auch aus Ihrer eigenen Perspektive sehen.

    Dem Bedürfnis Ihres Kindes helfen, sich auszudrücken, wie es sich wirklich fühlt (und nicht, wie Sie sich wünschen, dass es sich fühlt). Brüche zu reparieren fällt leichter, wenn wir uns selbst vergeben, an unser Kind glauben und an uns selbst (S. 281–283).

    Dem schließt sich ein ausführliches, aktuelles Literatur-Verzeichnis und ein Stichwort-Register an.

    Fazit

    Ein Buch zur Erwärmung und Vertiefung unseres Umgangs mit Kindern vom Baby- bis ins Erwachsenen-Alter. Erfahren als Mutter und Psychotherapeutin versteht Philippa Perrry sich so kritisch und heilsam auszudrücken, dass Leserinnen und Leser sich von Anfang bis Ende angesprochen und einbezogen fühlen können. Verblüffend der erlernbare Perspektivenwechsel zwischen Kind und Eltern, gewinnreich die Lektüre der stets ein bis zwei Generationen übergreifenden Fallstudien. Darin bringt Perry sich auch immer wieder selbst als Modell nicht bewertender, sondern verständnisvoller Selbstkritik ein. Ebenfalls ermutigend lesen sich die semistrukturierten Übungen, sich auftretenden Problemen mit innerem Abstand zu stellen. Manche werden sich beim Lesen in ungewohnter Dichte mit eigenen Gefühlen konfrontiert sehen und sich danach denen ihres Nachwuchses umso intensiver hingeben. Da ist auch freiwilliger und unfreiwilliger Humor von Nutzen, wenn die Autorin z.B. schreibt: „Der Frontallappen Ihres Teenagers muss eben noch wachsen.“ Gerne ergänze ich den langen Titel des für Eltern, Erzieher und Therapeuten empfohlenen Buches noch um den Zusatz „ … und Sie selber werden glücklich sein, dieses Buch zu lesen“.

    Rezension von
    Dr. med. Joachim Gneist Psychiater, Psychotherapeut, Evang. Theologe, Sachbuch- und Roman-Autor.

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    Es gibt 22 Rezensionen von Joachim Gneist.

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    Zitiervorschlag
    Joachim Gneist. Rezension vom 18.09.2020 zu: Philippa Perry: Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen. (und deine Kinder werden froh sein, wenn du es gelesen hast). Ullstein Buchverlage GmbH (Berlin) 2020. 7. Auflage. ISBN 978-3-550-20074-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27269.php, Datum des Zugriffs 22.04.2022.

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