Wie viele menschen küsst man durchschnittlich im leben

5 Min. Lesezeit

Küssen ist viel mehr als ein Zeichen der Verbundenheit. Menschen tauschen bei einem Kuss geheime Botschaften aus - etwa ob der Partner eher rabiat ist oder sinnlich, gesund oder kränklich, zurückhaltend oder begierig

Seit einigen Jahrzehnten streiten Wissenschaftler über den Ursprung eines Phänomens, das uns so vertraut ist wie das Händeschütteln: Sie fragen sich, weshalb Menschen einander küssen. Was treibt uns dazu, im Laufe eines Lebens durchschnittlich 100 000-mal die Lippen eines anderen Menschen zu liebkosen?

Das Saugen an der mütterlichen Brust, vermutete Sigmund Freud Anfang des 20. Jahrhunderts, verschaffe dem Baby einen derart großen Genuss, dass sich der Erwachsene noch immer nach jener oralen Befriedigung sehne. Zeitlebens suche er das Verlangen mit Küssen zu stillen.

Frauen in der Urzeit haben womöglich den Kuss erfunden

Später stellte der britische Zoologe Desmond Morris die These auf, die Mütter selbst hätten den Urkuss erfunden: In der Frühzeit des Menschen hätten Frauen ihren Kindern das Essen vorgekaut und dann mit gespitzten Lippen eingeflößt – ähnlich wie es Schimpansenweibchen heute noch tun. Mit der Zeit seien sie dann dazu übergegangen, ihre Kinder durch liebevolles Küssen zu beruhigen und ihnen ein Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln. Und daraus habe sich der partnerschaftliche Kuss entwickelt, als Ausdruck für Leidenschaft und Erotik.

Vielleicht aber, so die Bremer Kulturwissenschaftlerin Ingelore Ebberfeld, hat es sich auch ganz anders zugetragen. Etliche Tiere schnüffeln zur Begrüßung oder während der Partnersuche am Hinterteil eines Artgenossen – dieses Ritual aber wurde für unsere Vorfahren schwierig, als sie ihren Oberkörper aufrichteten und auf zwei Beinen zu laufen begannen, vermutet die Kussforscherin. Mit dem aufrechten Gang habe sich die Geste wohl vom Gesäß zum Gesicht verlagert.

Immerhin sind sich die Wissenschaftler darin einig, dass ein verblüffender Prozess in Gang kommt, sobald sich zwei Lippenpaare berühren. In Bruchteilen einer Sekunde senden Abertausende Nervenzellen Botschaften an Gehirn und Körper – Informationen darüber, wie der fremde Mund schmeckt und riecht, ob die Lippen warm oder kalt sind, glatt oder rau, fest oder weich. Allein fünf der insgesamt zwölf Hirnnerven werden aktiviert.

Beim Küssen schicken Tausende Nervenzellen Signale ans Gehirn

Das neuronale Signalfeuer löst in unserem Kopf aber nicht nur ein bewusstes, sinnliches Erlebnis aus. Vielmehr schicken die Nerven Befehle ans limbische System – ein archaisches Hirnareal, das unterbewusst arbeitet.

Dort stellen Drüsenzellen einen Cocktail körpereige-ner Drogen her und schütten sie in die Blutbahn, wodurch weitere Botenstoffe produziert werden: Endorphine und Hormone, etwa Oxytocin, die Stress abbauen, das soziale Bindungsgefühl steigern, uns sexuell erregen.

Die Küssenden werden intimer, streicheln sich. Über das Rückenmark werden die Berührungen an den Händen, am Rücken oder am Hals registriert und ans Nervensystem weitergeleitet. Sofort beauftragt der Hirnstamm Muskeln in den Arterienwänden, sich zu entspannen: Die Durchblutung steigt, unser Gesicht errötet.

Hirnregionen für depressive Stimmungen werden deaktiviert. Wir atmen flacher, unser Herz schlägt schneller. Der Körper heizt sich auf – und wird sogleich wieder abgekühlt: Schweißdrüsen sondern winzige Tropfen ab, die sexuelle Duftstoffe freisetzen. Die Nebennieren-rinden bilden Adrenalin und putschen den Körper damit auf. Mitunter zittern die Knie, oder wir bekommen Gänsehaut. Insgesamt bewegt ein Mensch beim Küssen mehr als 30 Muskeln.

Steigt die Erregung über ein bestimmtes Maß hinaus, produzieren Hoden und Eierstöcke das Lusthormon Testosteron: Penis und Klitoris erigieren, die Vaginalwände und die äußeren Schamlippen schwellen an. Die besondere Lippen- und Zungenfertigkeit, die der Homo sapiens im Lauf seiner Entwicklungsgeschichte erworben hat, vermag ihn also in einen rauschhaften Zustand zu versetzen. Nicht zufällig sind die Lippen der Körperbereich mit der dünnsten Haut und der wohl höchsten Dichte sensorischer, also Sinneseindrücke verarbeitender Nervenzellen.

Beim Küssen erschnüffeln Partner die Pheromone des anderen

Mit dem Kuss, lehrte einst Platon, verlagere sich „die Seele auf die Lippen, um aus dem Körper zu gelangen“. In gewisser Weise wird diese Erkenntis von den jüngsten Ergebnissen aus der Philematologie bestätigt, der Wissenschaft vom Küssen.

Denn Küssende geben mehr von sich preis, als ihnen bewusst ist. Jeder Mensch hat ein individuelles Geruchsprofil. Es gleicht einer olfaktorischen Visitenkarte, die unter anderem Informationen darüber enthält, wie sein Immunsystem beschaffen ist: etwa, ob der Betreffende über eine starke Abwehrkraft gegen Erreger verfügt.

Gerade beim Küssen nehmen die Partner die Duftstoffe des anderen sehr intensiv wahr. Wohl deshalb werden besonders viele dieser Pheromone an den Nasenflügeln gebildet und abgesondert: Beim Küssen kommen sich die Nasen zweier Menschen so nahe wie möglich. Noch um das Jahr 1900 war der sogenannte Schnüffelkuss, bei dem Liebende ihre Nasen aneinanderreiben, weiter verbreitet als der Kuss auf den Mund.

Um bereits winzige Mengen eines Duftprofils wahrzunehmen und auszuwerten, besitzen viele Tiere – darunter Katzen, Hunde, Hirsche – einen Pheromon-Detektor: das Vomeronasal-Organ. Es verbirgt sich oberhalb des Gaumens, zwischen Mund und Nase. Noch aber streiten Anatomen, ob auch der erwachsene Mensch über eine derartige Empfangsstation verfügt.

Der Kuss eine Art weiblicher Tauglichkeitstest?

Wissenschaftliche Untersuchungen jedenfalls lassen darauf schließen, dass wir beim Küssen in der Lage sind, mehr wahrzunehmen als nur die Berührung von Lippen oder Zunge. Der Psychologe Gordon G. Gallup von der State University of New York in Albany hat bereits im Jahr 2007 eine Studie an 180 Probanden erarbeitet, die ergab: Mehr als die Hälfte der befragten Männer und fast zwei Drittel der Frauen hatten sich schon einmal von einem anderen Menschen angezogen gefühlt, den potenziellen Partner dann auch geküsst – und erlebt, dass anschließend jedes Interesse erlosch, die zuvor empfundene Attraktivität verflog.

In einer anderen Befragung behaupteten die meisten Frauen sogar, sie könnten an einem Kuss erkennen, ob sich ein Verehrer langfristig als Partner eigne. Offenbar vermögen besonders Frauen unbewusst zu erriechen, ob ein Mann zu ihnen passt. Ist der Kuss demnach eine Art weiblicher Tauglichkeitstest? Ein erstes Abschmecken?

Biologisch gesehen würde das durchaus einen Sinn ergeben: Frauen tragen die Last der Schwangerschaft, das Risiko der Geburt. Bei der Wahl eines Partners sollten sie sich also sicher sein, dass er ihnen bei der Versorgung der Kinder hilft – „und wenn nun eine Frau einen Mann küsst, erfährt sie nicht nur, ob er ein netter Kerl ist“, so die US-Anthropologin Helen Fisher, „sondern sie bekommt auch eine Ahnung davon, ob er ein guter Vater wäre“.

Menschen, die küssen, leben länger

Kein Wunder also, dass Frauen Küsse anders bewerten als Männer: Sie wollen eine Beziehung emotional voran-treiben, die gemeinsame Gefühlswelt vertiefen, sich mit ihrem Gegenüber synchronisieren. Männer dagegen verbinden den Lippenkontakt meist mit einem konkreten Ziel: dem Orgasmus. Sie mögen lieber nasse Küsse, Küsse mit offenem Mund. Ein Zungenkuss ist für sie der Auftakt zu einer sexuell intensiveren Phase, eine Zwischenstation zum Koitus.

Männer lieben wohl auch deshalb feuchtere Küsse, weil ihr Speichel Testosteron enthält. Gelangt das Hormon in den Mund einer Frau, passiert es deren Schleimhäute, verteilt sich im Blut und versetzt die Partnerin womöglich in lustvolle Stimmung.

Darüber hinaus ist Küssen gesund – das Immunsystem wird angeregt, der Abbau des Hormons Cortisol vermindert Stress. Und Forscher haben herausgefunden: Menschen, die viel küssen, leben länger.