Wie viel Prozent des Gehirns nutzen Menschen

Das Gehirn ist immer noch ein Mysterium. Doch die Frage, wie viel wir davon nutzen, können wir schon sicher beantworten.

Wie viel Prozent des Gehirns nutzen Menschen

Die Vorstellung, dass wir nur einen Bruchteil unseres Gehirns nutzen, inspirieren Sciencefiction-Filme wie "Lucy": Dort mutiert die gleichnamige Hauptperson zur Superheldin allein deshalb, weil sie auf 100 Prozent ihres Gehirns zugreifen kann. Alle anderen, das weiß man ja, nutzen nur zehn Prozent. Lucy aber kann mehr: Telepathie, Telekinese; für sie kein Problem. Schade, dass "Lucy" nur ein Film ist. Denn real nutzen wir alle unser Gehirn voll und ganz – und nicht nur zehn Prozent. Die übermenschlichen Fähigkeiten aber bleiben uns verwehrt.

Willkommen in der Wirklichkeit

Ein Organ herumzutragen und es nur teilweise zu nutzen – das würde aus evolutionärer Sicht ja auch wenig Sinn machen, wie Michael Pecka, Mitarbeiter des Neurobiologischen Instituts der Ludwig-Maximilians-Universität München erklärt: "Das Gehirn ist bezogen auf seine Größe das Organ, welches bei Weitem den größten Anteil an Energie in unserem Körper verbraucht – nämlich etwa 20 Prozent. Wer Evolution nur ein bisschen verstanden hat, der weiß, dass wir es uns unter diesen Umständen nicht leisten können, es nur zu zehn Prozent zu nutzen." Das Gehirn hat viel zu tun: mit Atmung, Sinneswahrnehmungen, Filtern von Eindrücken. Es erhält uns am Leben und ermöglicht nebenbei noch das, was wir "Bewusstsein" nennen. Aber braucht es dafür zu jedem Zeitpunkt wirklich alle Nervenzellen?

Was macht ein Gehirn eigentlich so den ganzen Tag?

Nervenzellen – auch Neurone genannt – sind untereinander verbunden: Sie kommunizieren über Botenstoffe und elektrisch über Aktionspotenziale. Aber auch wenn Neurone gerade keine Signale "abfeuern", können sie viel beschäftigt sein: "Wenn eine Nervenzelle sich 'entscheidet', eine Information nicht weiterzuleiten, dann ist das auch eine wichtige Funktion und besitzt einen eigenen Informationsgehalt", erklärt Pecka. "Deswegen tun wir uns so schwer, nur anhand von Aktionspotenzialen von 'aktiven' Zellen zu sprechen."

Selbst wenn man nur diese Potenziale messen würde, würde man nach einigen Minuten überall im Gehirn Signale detektieren, ist Pecka sich sicher. "Es gibt sogar 'Spontanaktivität': Ein Gebiet, das scheinbar nichts macht, feuert einfach ohne erkennbare Reizeinwirkung", führt Pecka aus. Dieses spontane Feuern zeigen Neurone wohl unter anderem, um in Form zu bleiben. Denn hätten sie wirklich lange Zeit nichts zu tun, behielte das Gehirn sie nicht etwa als Reserve für schlechte Zeiten. Die Neurone würden abgebaut, selbst wenn sie theoretisch gesund sind. Das kann zum Beispiel bei Unfällen oder Hirnschäden geschehen. Sind die Neurone dann einmal weg, kommen selten welche nach. "Die Neubildung von Neuronen ist nur im Hippocampus nachgewiesen – einer Region, die hauptsächlich für das Ortsgedächtnis zuständig ist. Eine zweite Region ist der olfaktorische Bulbus, eine Riechregion im Gehirn, quasi die erste Station nach der Nase. Da entstehen zwar neue Neurone, aber dafür sterben auch welche ab. In anderen Hirnregionen geht man davon aus, dass keine Neubildung von Neuronen stattfindet", sagt Pecka.

Neurone brauchen eine Aufgabe

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Nervenzellen wollen also beschäftigt werden, um am Leben zu bleiben. Nicht selten werden unterbeschäftigte Nervenzellen daher umgeschult: So ist es zum Beispiel nachgewiesen, dass Sehregionen bei erblindeten Menschen Aufgaben des Hörsinns übernehmen. Dabei werden nicht die Neurone selbst, sondern die Verbindungen zwischen ihnen ab- und aufgebaut. Die daraus entstehenden flexiblen Netzwerke unterscheiden das Gehirn in seiner Funktionsweise grundlegend von einer starren Computerfestplatte.

Gehirnjogging und andere "Trainings fürs Gehirn" zielen auf diesen Effekt ab: Indem wir lernen und bestimmte Fähigkeiten trainieren, bilden sich neue Verbindungen aus oder bestehende festigen sich. Die Gehirnkapazität selbst wird nicht "vergrößert" – ebenso wenig, wie Medikamente wie Ritalin oder Amphetamine das machen. Sie erhöhen stattdessen unsere Aufmerksamkeit, indem sie die Konzentration der Botenstoffe verändern, über die Neurone miteinander kommunizieren.

Gemessene Aktivitäten im gesamten Gehirn, die Bildung interaktiver Netzwerke, Abbau oder anderweitige Nutzung brachliegender Neurone – in der Wissenschaft besteht kein Zweifel daran, dass unser gesamtes Gehirn ständig im Einsatz ist. Wenn wir es aber längst besser wissen – woher stammt der Glaube, dass wir es nur zum Teil nutzen? Vielleicht trägt die anschaulichste Methode der Hirnforschung – bildgebende Scans wie die funktionelle Magnetresonanztomografie – zu seinem Bestehen bei. So leuchten auf einem Bildschirm immer nur begrenzte, klar definierte Bereiche des Gehirns auf, während ein Proband irgendeine Handlung ausführt. Dabei bedeuten die bunten Bereiche nicht, dass nirgendwo anders Aktivität zu finden ist. Pecka stellt klar: "Bei den Messungen wird die Grundaktivität einfach auf null gesetzt. Erst das, was signifikant über diese Aktivität geht, wird eingefärbt." Den Rest hinterlegt man einfach grau – obwohl auch dort Neurone fleißig am Arbeiten sind.

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Die Vorstellung, Menschen würden nur einen Bruchteil ihrer neuronalen Kapazität nutzen, geht meilenweit an der Realität vorbei.

Wie viel Prozent des Gehirns nutzen Menschen

Die Behauptung, wir würden nur 10 Prozent unseres Gehirns nutzen, findet sich in Selbstfindungsbüchern und Ratgebern – oft gepaart mit Tipps, wie man endlich sein volles Potenzial ausschöpft. Manchmal wird diese Idee auch Albert Einstein zugeschrieben. Ohne Beleg, versteht sich!

Um sie zu entkräften, muss man kein Hirnforscher sein. Es genügt ein wenig gesunder Menschenverstand. Wer diesen bemüht, stellt schnell fest: Es ist völlig unklar, was die 10-Prozent-These überhaupt besagt. Feuern etwa immer nur 10 Prozent unserer Nervenzellen gleichzeitig? Oder nutzen wir überhaupt nur 10 Prozent unserer Neurone? Oder sind nur 10 Prozent unserer Hirnareale aktiv? Vielleicht geht es aber auch um das Erinnerungsvermögen – nutzen wir lediglich einen Bruchteil davon?

Die These ist so falsch, dass nicht einmal das Gegenteil richtig wäre

Wir sehen also: Man kann diese Zahl gar nicht prüfen, weil offenbleibt, worauf sie sich bezieht. Sie ist demnach nicht bloß falsch, sondern – um eine Wendung des Physikers Wolfgang Pauli zu bemühen – »so falsch, dass nicht einmal das Gegenteil richtig wäre«.

Mit etwas Hintergrundwissen darüber, wie unser Nervensystem funktioniert, können wir die gängigsten Interpretationen der Aussage sofort ausschließen. Wenn die erste davon zuträfe (»Nur 10 Prozent unserer Neurone feuern gleichzeitig«), dann würden Seminare, die die restlichen 90 Prozent mobilisieren, ein Lernerlebnis der besonderen Art versprechen: nämlich einen epileptischen Schock! Der entsteht, wenn zu viele Nervenzellen gemeinsam feuern. Die zweite Interpretation (»Wir nutzen nur 10 Prozent unserer Neurone«) scheidet ebenfalls aus, weil nicht genutzte Neurone entweder absterben oder andere Funktionen übernehmen. Folglich müsste man bei Autopsien regelmäßig großräumige Degenerationen feststellen, was aber bei Personen ohne Hirnerkrankungen nicht der Fall ist. Das gleiche Argument spricht gegen die dritte Interpretation (»Wir nutzen nur 10 Prozent unserer Hirnareale«). Zudem zeigen bildgebende Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomografie, dass selbst im Schlaf große Teile des Gehirns aktiv sind. Und die vierte Interpretation schließlich (»Wir nutzen nur 10 Prozent unseres Erinnerungsvermögens«) wirft die besondere Schwierigkeit auf, dass man anders als bei einem Computer gar keine Kapazitätsgrenze unseres Gedächtnisses bestimmen kann. Diese Lesart ergibt also ebenso wenig Sinn.

Aus evolutionsbiologischer Sicht wäre es zudem sehr ungünstig, einen Großteil des Denkorgans ungenutzt zu lassen. Würden wir tatsächlich – in welcher Form auch immer – nur einen Bruchteil davon verwenden, hätten sich höchstwahrscheinlich kleinere, effizientere Hirne entwickelt. Das würde wertvolle Energie sparen und wäre damit ein Überlebensvorteil.

Die 10-Prozent-Idee ist ein Mythos. Dennoch steckt ein Körnchen Wahrheit darin. Wir können unser Gehirn nämlich durchaus zu mehr Leistung anregen, indem wir es trainieren. Etwa dadurch, dass wir unser Denken systematisch ordnen und unsere Fähigkeit schulen, mit komplizierten Problemen umzugehen. Wir können unsere Argumentation auf Lücken prüfen und versuchen, diese zu schließen. Und wir können uns vergewissern, ob eine Annahme plausibel ist. Dann fallen wir auch nicht so leicht auf gut klingende, aber unsinnige Behauptungen herein.

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Boyd, R.: Do people only use 10 percent of their brains? Scientific American, online, 7. 2. 2018

Herculano-Houzel, S.: Do you know your brain? A survey on public neuroscience literacy at the closing of the decade of the brain. The Neuroscientist 8, 2002

LITERATURTIPP

Mukerji, N.: Die 10 Gebote des gesunden Menschenverstands. Springer, 2017

Eine Anleitung zum vernünftigen Denken