Wie lernen Kinder am besten Lesen und schreiben?

Gastartikel

Wie lernen Kinder am besten Lesen und schreiben?
Wenn man verstehen will, wie Kinder schreiben lernen, dann hilft es, sich bewusst zu machen, wie sie sprechen gelernt haben. Das ist nämlich ganz nebenbei passiert, ohne dass wir Erwachsenen großartig etwas steuern, beibringen oder korrigieren mussten. Die Kinder haben zugehört, alles Sprachliche in ihrer Umwelt aufgesaugt und im Laufe der Jahre immer komplexere Sätze hervorgebracht. Manchmal erstaunlich, manchmal witzig, manchmal geradezu verblüffend ähnlich zu unseren eigenen Sprechweisen und mit zunehmendem Alter immer situationsangemessener – bei Oma darf man am Tisch eben nicht kacken sagen.

Dass wir Erwachsenen unsere Stimme ein wenig verstellen, wenn wir mit einem Kind im Spracherwerb sprechen, ist ganz normal. Das nennt sich child directed speech oder Motherese und alle Menschen auf der ganzen Welt machen das mit ihren kleinen Kindern. Dass wir Erwachsenen einen Satz des Kindes wiederholen, in dem zum Beispiel ein Verb falsch gebeugt wurde, ist auch ganz normal. 

- Ich hab den Sand auf den Auto geladet.
- Du hast den Sand auf das Auto geladen. Schön! 

Das passiert alles nebenbei und das Kind lernt ohne darüber nachzudenken, wie das komplexe Sprachsystem funktioniert, in das es hineingeboren wurde.


Wenn Kinder in die Schule kommen, können sie aber nicht nur sehr gut sprechen – z. B. mit geschachtelten Nebensätzen, in der Vergangenheits- oder Möglichkeitsform – sie wissen auch schon eine ganze Menge über das Lesen und Schreiben, über Buchstaben und Schrift. Sie wissen, wie man ein Buch hält, wenn man vorliest. Manche Kinder imitieren das und tun so, als läsen sie vor. Sie wissen, dass das Gekrakel der Erwachsenen eine Unterschrift sein kann und imitieren auch das. Sie können vielleicht schon ihren Namen schreiben. Sie erkennen Logos wieder und können sie benennen, wenn man ihnen verraten hat, was sie bedeuten (zum Beispiel das große M auf der Autobahn). Das bedeutet nicht, dass sie schon lesen können, sondern eher, dass sie sich die Einheit als Ganzes eingeprägt haben (also Wortbild, Schrifttype, Farbe usw.).

Wie lernen Kinder am besten Lesen und schreiben?
Einige kennen vielleicht schon ein paar Buchstaben und die dazugehörigen Laute und können damit aufschreiben, was ihnen in den Kopf kommt. Wahrscheinlich haben sie sich bei Erwachsenen danach erkundigt. Hier funktioniert der Vergleich mit dem Spracherwerb sehr gut. Diese Kinder nehmen nebenbei wahr, was Buchstaben für eine Funktion haben – nämlich die Laute unserer Sprache zu repräsentieren. Sie nehmen außerdem wahr, dass man mit diesem Buchstabeninventar alles verschriftlichen kann, was man sprechen kann. Da das Buchstabeninventar meistens noch nicht vollständig ist, behelfen sich Kinder mit dem, was sie haben (siehe Bild).

Einige können auch vor der Schule schon lesen. Diese Kinder haben den umgedrehten Clou unserer Alphabetschrift verstanden und übersetzen die Buchstaben, die sie sehen, in die Laute, denen diese zugeordnet sind, und ziehen sie zusammen. 

Es gibt auch Kinder, die beides vor der Schule lernen. Und es gibt Kinder, die sich bis zur Grundschule nicht die Bohne für Schrift interessieren, obwohl sie lesende und schreibende Vorbilder und Bücher im Regal haben. Die meisten Kinder interessieren sich trotzdem für Reime und haben zum Beispiel Spaß an Spielen wie dem folgenden, das den Schriftspracherwerb schon perfekt vorbereitet: -Sag mal Nase! -Nase. -Du bist ein Hase. Soweit alles kein Problem. Sie alle werden wahrscheinlich im Laufe der Grundschulzeit "in der Schriftkultur Fuß fassen" (Maas 2015, S. 43). Ein Problem haben vor allem die Kinder, die „schriftfern“ aufwachsen, denen nicht vorgelesen wird oder deren Fragen beim Vorlesen nicht beantwortet werden, die selten Gelegenheit dazu haben, am Gespräch beteiligt zu werden, die wenig Übung darin haben, einen Stift zu halten. Diese Kinder werden hoffentlich auch schreiben und lesen lernen, aber sie haben einen ziemlich großen Nachteil im Gepäck. 

Dann kommen also all die Kinder mit ihren verschiedenen Vorkenntnissen in die Schule und nun passt der Vergleich mit dem Spracherwerb nur noch ein bisschen, denn in der Schule werden Kinder im Schreiben und Lesen unterrichtet. Das heißt, der Erwerb ist nun nicht mehr selbstgesteuert durch soziale Einbindung, er verläuft nun institutionell gesteuert und methodenabhängig. Das heißt, die ursprüngliche Frage „Wie lernen Kinder lesen und schreiben?“ lässt sich jetzt gar nicht mehr beantworten. Stattdessen müssen wir ein paar neue Fragen stellen.

Fibeln sind Leselehrgänge und gewissermaßen die Dinosaurier unter den Methoden. Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde es notwendig, zunächst alle Kinder möglichst zügig und zugleich kleinschrittig in der Technik des Lesens zu unterweisen. Dazu wurden Fibeln genutzt, die im Wesentlichen aus einem schrittweisen Einführen der Buchstaben bestehen und zwar nach der Devise „vom Einfachen zum Schweren“ – das heißt das M und das O werden vor dem ß und dem Qu eingeführt. Nachdem das Kind einen Buchstaben lautierend gelernt hat („Das ist ein mmmmm.“), soll es anschließend diesen Buchstaben mit einem anderen zusammenziehen (m + o = mooo). Das machen die Kinder mit allen Buchstaben und später mit einfachen Wörtern und mit der Zeit müssen sie nicht mehr zusammenziehend lesen, sondern erkennen einzelne Buchstabenkombinationen auf einen Blick und später auch ganze Wörter – genauso wie ein kompetenter Leser. Bis das Lesen aber so flüssig klappt, dass es auch Spaß macht, kann es schon ein paar Schuljahre dauern. Begleitend zum Leselehrgang in der Fibel gibt es einen Schreiblehrgang, der früher in einer Schreibschrift gestaltet war. Heute ist die verbindliche erste Schrift, die Kinder benutzen, eine Druckschrift.

Die allermeisten haben selbst noch mit einer Fibel lesen gelernt, daher soll an dieser Stelle nicht mehr in die Tiefe gegangen werden. Nur eines soll noch erwähnt werden: Eine Studie, die im vergangenen Herbst rege in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, stammt von zwei Bonner Psychologen Kuhl, T. & Röhr-Sendlmeier, U. M (2018) und singt ein Loblied auf die Fibel. Dabei gibt es die Fibel gar nicht, es gibt viele hunderte Fibeln und dementsprechend gibt es auch nicht den Fibelunterricht. Kurioserweise ist diese Studie bis heute nicht veröffentlicht, sondern liegt nur in Form eines Posters vor. Das ist für den Wissenschaftsbetrieb vollkommen unüblich, nur mit einem Poster an die Öffentlichkeit zu gehen, weil die Forschungs-Community so nicht nachvollziehen kann, wie die Forschenden zu ihren Ergebnissen gelangt sind. Auch jetzt, bald ein Jahr nachdem die Studie in allen Print-, TV- und Hörfunk-Medien rauf- und runterzitiert wurde, liegt keine Veröffentlichung vor. Hinter die Aussage, dass der Fibelunterricht allen anderen Lese- und Schreiblernmethoden überlegen ist, sollte man also nach wie vor ein großes Fragezeichen setzen.

Die Kritik am Fibelunterricht wurde in den 1980er Jahren besonders laut. Meistens waren nämlich die Texte, die die Kinder in Fibeln lesen mussten, hochgradig dadaistisch (Mimi bei Omi. Omi im Haus.) und das, was die Kinder in ihre Hefte schrieben, hochgradig langweilig (mi mi mi mi mi mi mi mi mi mi mi mi). Fibeln zwingen allen Kindern einer Klasse das gleiche Tempo auf. Fibeln sind Bücher von Erwachsenen für Kinder, das heißt, sie sind so aufgebaut, wie sich Erwachsene vorstellen, dass es für Kinder einfach ist. Heiko Balhorn schreibt dazu sehr prägant: „Die fibel kann die unterschiedlichen spracherfahrungen nicht produktiv aufnehmen. Sie muß die kinder fiktiv auf null stellen.“ (Eichler und Balhorn 1992, S. 41). Weiter heißt es, dass die „einführungsteile vorliegender fibeln […] bei weitem das sprachniveau von kindern mit sechsjähriger lebenserfahrung“ unterschreiten. Das lässt sich nicht leugnen. Wenn man sich vor Augen hält, was Schulanfänger bereits erzählen und für welche Geschichten sie sich interessieren, sind sie mit Omi im Haus tatsächlich arg unterfordert. Aus dieser Kritik heraus wurden reformpädagogische Ansätze zum Schreiben-Lernen geboren, die sich statt für die Vermittlung der Buchstaben in einer bestimmten Reihenfolge für die Lernwege der Kinder interessierten. Plötzlich wurden alle Buchstaben auf einmal zur Verfügung gestellt – das zentrale Medium war nun keine Fibel mehr sondern eine Anlauttabelle. Anlauttabellen sind sehr unterschiedlich, wichtig für eine gute (An-)Lauttabelle ist, dass sie z. B. alle Laute der deutschen Sprache darstellt, zum Beispiel auch die beiden -ch-Laute, die unterschiedlich klingen wie in Buch und Milch, aber (fast) nur im Wortinneren vorkommen.

Eine Methode, die häufig in der Öffentlichkeit verhandelt wird, ist „Lesen durch Schreiben“ – sie wird fälschlicherweise auch oft als „Schreiben nach Gehör“ bezeichnet. Nehmen wir das Kind von oben, das schon einige Buchstaben kennt und damit Wörter verschriftet. Es bekommt nun in der Schule eine Anlauttabelle in die Hand und lernt mithilfe der Bilder, den Buchstaben die richtigen Laute zuzuordnen (F wie Fisch, B wie Banane usw.). Das Kind wird im Unterricht dazu angehalten, alles Mögliche aufzuschreiben, sich Geschichten auszudenken, seine Bilder zu beschriften, einen Wunschzettel zu Weihnachten oder ein Warnschild für sein Zimmer zu schreiben. Es kann zwar noch nicht alles, aber mit dem Verschriften seiner eigenen Ideen unterschreitet es nicht mehr seine eigene sechsjährige Lebenserfahrung und auch nicht sein Sprachniveau. So verläuft der Schriftspracherwerb ungesteuerter als mit einer Fibel. Das Lesen kommt bei dieser Methode erst an zweiter Stelle – also genau entgegengesetzt zum Leselehrgang Fibel. Mit der Zeit haben die Kinder immer mehr Übung im Verschriften und wie von selbst stellt sich irgendwann auch das Lesen-Können ein, ohne mühsames Zusammenziehen. Die Wörter springen die Kinder einfach an, genauso wie beim kompetenten Leser. So weit, so gut.

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Die Sache ist aber komplizierter, denn nicht alle Kinder lernen mit so wenig Input gut schreiben und lesen. In einer idealen Welt würde unser Kind von oben nun zunächst sehr lautsprachlich verschriften und mit der Zeit immer mehr nach der richtigen Schreibung von Wörtern fragen – weil es eine Normschreibung in Büchern und bei kompetenten Schreibern beobachtet oder weil die Lehrkraft seiner „Kinderschreibung“ die „Erwachsenenschreibung“ gegenüber stellt. Mit der Zeit würden sich orthographische Muster einschleichen (z.B. schreibt das Kind nun nicht mehr aba dea lera hat gesacht ea famisd saine kadse sondern aber der lerer hat gesagt er vermisd seine kaze). Wie das Kind nach dieser Methode allerdings zu einer vollständig korrekten Schreibung gelangen soll, also zum Beispiel die Groß- und Kleinschreibung oder Doppelkonsonantenschreibung erlernt, ist Eltern häufig unklar.

Diese Lücke haben auch Hans Brügelmann und Erika Brinkmann erkannt und den Spracherfahrungsansatz entwickelt. Hierin geht es auch, wie bei „Lesen durch Schreiben“, darum den Kindern das Selberschreiben mit einer Anlauttabelle zu ermöglichen und sie zum In-Gebrauch-Nehmen der Schriftsprache zu motivieren. Zugleich ist systematische Unterweisung zu Buchstaben, Wortbausteinen, Wortschatz, Lesen und so weiter vorgesehen. Unser Kind von oben kann also sofort mit dem Schreiben loslegen und wird zugleich auf seinem Weg in die Schrift an die Hand genommen. Diese Methode wurde in den frühen 1980ern entwickelt und fand in den 1990er Jahren große Verbreitung. Viele Lehrer*innen, die wirklich aktiv mit einer Anlauttabelle arbeiten und Schülertexte nicht sofort korrigieren, sind gar keine Anhänger*innen von „Lesen durch Schreiben“, sondern nutzen kluge Ideen aus dem Spracherfahrungsansatz für ihren Unterricht.

De facto lässt sich aber auch oft ein Bruch in der Schriftspracherwerbsbiographie von Schüler*innen beobachten und genau dieser Bruch wird so häufig in der Öffentlichkeit diskutiert, wenn mal wieder von „Schreiben nach Gehör“ die Rede ist. Zunächst sollen die Kinder schreiben, wie sie wollen. Das ist ein sehr eigenaktiver Prozess: das Wort, das ein Kind aufschreiben will, muss es gewissermaßen selbst konstruieren aus dem Buchstabenmaterial, das ihm mit der Anlauttabelle vorliegt oder das es bereits im Kopf hat. Dahinter steckt die lerntheoretische Annahme, dass Menschen anderen Menschen nichts „beibringen“ können, sondern dass man nur selbst lernen kann. Irgendwann wird aber das „Schreiben, wie ich es mir selbst konstruiere“ (aka „Schreiben nach Gehör“) nicht mehr toleriert, sondern es muss ab der zweiten oder spätestens dritten Klasse richtig geschrieben werden. Das ist der Bruch. Interessanterweise gibt es einen ähnlichen Bruch auch beim Fibelunterricht, denn hier ist das Wortmaterial zum Lesen anfangs ebenfalls sehr lautgetreu (Banane, Salami, Lama). In der zweiten Klasse wird dann recht unvermittelt mit dem Lernen von Rechtschreibregeln und dem endlosen Abschreiben von Ausnahmen begonnen.

Ein weiteres Problem ist, dass sprachaffine Kinder auch völlig ohne Unterweisung mit der Zeit verstehen, bei welchen Wörtern sie ein silbeninitiales h schreiben müssen, wo der Punkt und das Komma hingehören und welche Wörter zusammengeschrieben werden. Diese Kinder lernen immer noch implizit, selbstgesteuert und nehmen wie Schwämme alles, was sie an der geschriebenen Sprache beobachten können, in ihre eigenen Schreibungen mit auf. Bei ihnen ist kein Bruch spürbar. Kinder, deren Sprachgefühl oder implizites Sprachlern-Können vor der Schule nicht so gut unterstützt wurde, könnten in diesem Unterricht abgehängt werden und den Bruch sehr deutlich spüren. Das betrifft auch Kinder, die deutsch nicht muttersprachlich sprechen, weil ihnen immer wieder der Schritt von der Lautsprache (lera) zur Schriftsprache (Lehrer) schwer fällt, manchmal auch, weil sie Wörter nicht kennen oder nicht aus Grundwörtern ableiten können (die Gabe → geben). All das kann auf offene Unterrichtskonzepte genauso zutreffen wie auf den Fibelunterricht.

An dieser Stelle ist es wichtig, sich klar zu machen, dass ich hier versuche, sehr kontrastiv darzustellen, wie so ein Unterricht prototypisch stattfinden könnte. Ganz sicher sind Lehrpersonen, die sich für offenen Unterricht einsetzen und eine konstruktivistische Auffassung vom Lernen haben, daran interessiert, dass keine*r in ihrem Unterricht „abgehängt“ wird. Auch „Fibel“-Lehrer*innen wollen alle mitnehmen. Ich argumentiere hier mehr logisch als empirisch. Denn selbst wenn Lehrer*innen sehr engagierten Unterricht machen, ist unser Schulsystem nicht darauf ausgerichtet, dass sich alle Kinder so viel Zeit für das Lesen- und Schreiben-Lernen lassen können, wie sie benötigen. Die Methode „Lesen durch Schreiben“ kann nur im offenen Unterricht sinnvoll angewendet werden. In den meisten Klassenzimmern herrscht ein kluger und verantwortungsbewusster Umgang mit den verschiedenen Lehrmitteln, Methoden und Konzepten zum Lesen- und Schreiben-Lernen.


"In der Schriftkultur Fuß fassen" (Maas 2015, S. 43) – das ist das Ziel für den Deutschunterricht in der Grundschulzeit. In diesem kurzen Zitat steckt eine ganze Menge drin. Fangen wir mit dem Offensichtlichen an: Das Deutsche hat eine lange Geschichte. Seit dem 11. Jahrhundert mühen sich Schreiber mit der Verschriftung des Deutschen und nutzen dazu das eigentlich wenig zur deutschen Lautsprache passende lateinische Alphabet. Die mittelalterlichen Schreibgewohnheiten waren für die wenigen Schriftkundigen einigermaßen überschaubar, vor allem auch deswegen, weil alle des Lateinischen mächtig waren. Dann aber wollte mit der Erfindung des Buchdrucks ein großes Publikum mitlesen und daher wurde weitere Jahrhunderte um eine Vereinheitlichung der Schriftsprache gerungen. Das Ergebnis goss man dann 1901 in einen Kodex, der allen bekannt sein dürfte: den Ur-Duden. Die ebenfalls bekannte Reform von 1996 hat die Ablagerungen der Jahrhunderte viel zu wenig systematisch und viel zu halbherzig abgetragen. Das Deutsche bleibt eine sehr leserfreundliche, aber sehr schreiberunfreundliche Sprache. Denn all die Ablagerungen – das vollkommen unmotivierte Dehnungs-h, die wenig intuitive Morphemkonstanz, die s/ss/ß-Schreibungen – sind für Lesende gedacht! Sie erleichtern das Lesen wirklich ungemein. Zugleich verkomplizieren sie das Schreiben. Dass also irgendwann einmal alle Menschen in der Schriftkultur des Deutschen Fuß fassen, war von den Schriftkundigen der vergangenen Jahrhunderte nicht vorgesehen.
Nun sind wir über die Methoden ein wenig im Bilde und es stellt sich die empirische Frage, welche Methode denn nun überlegen ist. Swantje Weinhold (Weinhold 2006, 2009) hat versucht, genau diese Frage mit ihrer Längsschnittstudie über 4 Schuljahre hinweg zu beantworten. Dazu wurden jeweils zwei starke, zwei mittlere und zwei schwache Schülerinnen und ebenso viele Schüler aus insgesamt 13 Klassen in Bezug auf ihre Fortschritte im Lesen und Schreiben untersucht. Vier Klassen arbeiteten mit einer „klassischen“ Fibel (Fara und Fu), zwei Klassen arbeiteten mit einer innovativeren Fibel (Tobi). Fünf Klassen arbeiteten nach der "SilbenanalytischeMethode" von Christa Röber und zwei Klassen arbeiteten nach dem Ansatz „Lesen durchSchreiben“. Sie kam zu einem ernüchternden Ergebnis. Am Ende der zweiten Klasse war keiner der Ansätze statistisch signifikant überlegen, die Streuung der Schülerleistungen war sehr hoch. Man kann dieses Ergebnis folgendermaßen zusammenfassen: Die ohnehin guten Schüler*innen erlernen mit (oder trotz) jeder Methode das Lesen und Schreiben gut und zügig. Langsameren Schüler*innen jedoch hilft keine der Methoden besonders gut und zuverlässig dabei, sich an den Durchschnitt in der Klasse anzuschließen.


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Da sich die Frage nach der besten Methode also bisher nicht beantworten lässt, könnten wir noch einmal andere Studien in den Blick nehmen, die untersuchen, was beim Schreibenlernen hilft. Eine davon stammt von Günther Thomé und Irene Corvacho del Toro (2013). Darin konnten sie feststellen: Je höher das Fachwissen der Lehrkraft, desto schwächer der Zusammenhang auf Seite der Schüler*innen zwischen Intelligenz und Rechtschreibleistung. Sowie: Bei niedrigem Lehrerwissen ist der Zusammenhang zwischen Intelligenz und Rechtschreibleistung stärker ausgeprägt. 

Fachdidaktisch ist das ein interessanter Befund, aber in der Bildungspolitik und den Medien wurden andere Studien viel stärker wahrgenommen. Das trifft auf die oben erwähnte Studie von Röhr-Sendlmeier und Kuhl ebenso zu wie auf die Studie von Steinig und Betzel aus dem Jahr (2013). Der SPIEGEL zog in seiner Titelstory „Die Rechtschreib-Katerstrofe“ die Schlussfolgerung, dass die meisten Kinder wegen der reformpädagogischen Bemühungen der vergangenen Jahrzehnte (siehe Abschnitt 3) überhaupt nicht mehr richtig schreiben lernen. Diese Aussage geht an den Ergebnissen der Studie vorbei. Sehr viel naheliegender ist stattdessen die Schlussfolgerung, die Stefan Sasse zieht: „Die Häufigkeit der Fehler korreliert in einem wesentlich stärkeren Ausmaß als früher mit dem sozialen Status der Eltern. Kinder aus der Unterschicht machen wesentlich mehr Fehler als Kinder aus der unteren und oberen Mittelschicht.“

Die Konsequenzen, die Verantwortliche in der Bildungspolitik aus diesen medial hochgekochten Studien gezogen habe, sind fatal. Ab dem Schuljahr 2019/2020 ist „Lesen durch Schreiben“ sowohl in Nordrhein-Westfalen als auch in Brandenburg untersagt, für Hamburg und Baden-Württemberg gilt das schon seit längerem. Das selbstgesteuerte Lernen ist verdächtig geworden. In welchem anderen Unterrichtsfach hat man es eigentlich mit den bildungspolitischen Verboten von Unterrichtsmethoden zu tun? 

Das Fazit aus diesem kleinen Rundumblick könnte sein: Wir sollten uns dafür stark machen, dass Lehrkräfte gut ausgebildet werden (was für eine Binsenweisheit in Zeiten des Lehrermangels), weil das Kindern dabei hilft, „in der Schriftkultur Fuß zu fassen“. Wir sollten zugleich dafür sorgen, dass die gesellschaftliche Anerkennung für Lehrer*innen zunimmt: Keine Lehrkraft möchte Kinder davon abhalten, schreiben und lesen zu lernen, die meisten gehen mit einer Mischung aus verschiedenen Ansätzen in den Deutschunterricht und wollen Kindern beistehen, sie unterstützen und fördern. Das sollte eine akzeptierte Grundannahme sein! Wir sollten uns jeden Tag mit der himmelschreienden Ungerechtigkeit auseinandersetzen, dass in Deutschland der Bildungserfolg noch immer stark von der sozialen Herkunft abhängig ist.

Das wäre das große Ganze. Und im Kleinen? Können wir unseren Kindern Lese- und Schreibvorbilder sein, können wir ihre Texte anerkennen, wertschätzen, aufhängen und sie dazu ermutigen, die Schriftsprache als Kommunikationsmittel zu nutzen. Wir können ihnen an so vielen Stellen zeigen, wie sehr unsere Kultur eine in der Schrift verwurzelte Kultur ist und sie so dazu anspornen, daran teilzuhaben. Wir können unsere Kinder Einkaufzettel schreiben lassen, Postkarten und ein Türschild. Wir können sie in ihrem Selbstverständis als schreibende (kleine) Menschen unterstützen, wo wir nur können. Wir sollten Ihnen so lange Bücher vorlesen, wie sie es sich wünschen, auch wenn sie schon längst in der Schule lesen gelernt haben. In diesem Sinne…

© Pauline Majumder



Pauline Majumder ist ein Sprachen-Nerd und Mutter von zwei Kindern, eines mitten im Spracherwerb und das andere hochmotiviert im Schriftspracherwerb. Sie dankt Beate Leßmann für Ihre wertvollen Anmerkungen zu diesem Text.

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Weinhold, Swantje (2006): Entwicklungsverläufe im Lesen- und Schreibenlernen in Abhängigkeit verschiedener didaktischer Konzepte. Eine Longitudinalstudie in Klasse 1-4. In: Swantje Weinhold (Hg.): Schriftspracherwerb empirisch. Konzepte - Diagnostik - Entwicklung, Bd. 15. 

Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren (Diskussionsforum Deutsch, 23), S. 120–151.


Weinhold, Swantje (2009): Effekte fachdidaktischer Ansätze auf den Schriftspracherwerb in der Grundschule. Lese- und Rechtschreibleistungen in den Jahrgangsstufen 1-4. In: Didaktik Deutsch 15 (27), S. 53–75.


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