Wie lange dauert es bis eine Sepsis zum Tod führt?

Verlässliche Daten über die Zunahme der Sepsis in Deutschland gab es bislang nicht. Doch seit kurzem liegt eine alarmierende Untersuchung vor. Von Januar 2003 bis Januar 2004 besuchten Spezialisten des erst 2001 gegründeten »Kompetenznetzwerks Sepsis« (SepNet) an zufällig übers Jahr verteilten Stichtagen mehr als 400 Intensivstationen in deutschen Kliniken, um zu ermitteln, wie viele Sepsis-Patienten dort jeweils versorgt wurden.

Das Ergebnis: Auch in Deutschland ist die Blutvergiftung ein unterschätzter Killer. Hochgerechnet 154 000 Bundesbürger erkranken danach jährlich daran - fast dreimal so viel wie bisher vermutet. Hochgerechnet 57 000 Deutsche sterben daran - fast zehnmal mehr, als es die offiziellen Sterbestatistiken ausweisen.

Die im Zeitalter der Antibiotika-Hämmer überwunden geglaubte Plage ist demnach die vierthäufigste Todesursache in Deutschland - nach chronischen Herzkrankheiten, akuten Herzinfarkten und Herzinsuffizienz. Sie fordert weit mehr Todesopfer als der Lungen-, der Brust- oder der Darmkrebs: »Die SepNet-Zahlen zeigen, dass wir in einer ganz anderen Größenordnung liegen, als wir es bisher vermutet haben«, erklärt Frank Martin Brunkhorst, Intensivmediziner an der Uni-Klinik Jena.

1,7 Milliarden Euro - rund ein Drittel der Ausgaben, die auf deutschen Intensivstationen anfallen - gehen auf das Konto der Blutvergiftung. »Die Sepsis ist dort der wichtigste Kostenfaktor«, berichtet Konrad Reinhart, Leiter der SepNet-Studie und Vorsitzender der Deutschen Sepsis-Gesellschaft, die Ende voriger Woche in Weimar tagte.

Jede Blutvergiftung ist potentiell lebensbedrohlich. Die Sterberaten schwanken je nach Schwere und Stadium der Erkrankung (siehe Grafik Seite 180) zwischen 20 und 55 Prozent, wie die SepNet-Studie zeigt. »Wir dachten, wir wären besser«, gesteht Tobias Welte, Pneumologiechef und Sepsis-Experte an der Uni-Klinik Hannover.

Blutvergiftungen entwickeln sich häufig aus anderen Grunderkrankungen, deshalb tauchen sie als Todesursache so selten auf: »Wenn Ärzte die Sterbepapiere ausfüllen, notieren sie Lungen-, Bauchfell-, Hirnhaut- oder Harnwegsentzündung - das Wort Sepsis kommt nicht vor«, klagt Kreymann.

Ob »Superman«-Darsteller Christopher Reeve, Fürst Rainier von Monaco oder der Popkünstler Andy Warhol - sie alle sind angeblich an Herzversagen oder Lungenentzündung gestorben. »In Wahrheit wurde ihnen eine nicht mehr beherrschbare Sepsis zum Verhängnis, die sich aus ihrer Grunderkrankung oder einer zusätzlichen Infektion entwickelt hat«, sagt Reinhart.

Nur die Ärzte des unlängst verstorbenen Papstes waren präzise. In der Sterbeurkunde von Johannes Paul II. wird ausdrücklich »Urosepsis« als Todesursache genannt. Ausgelöst hatten die finale Attacke auf seinen Organismus Keime, die über einen Harnwegskatheter in seinen Körper geflutet waren.

Für die Opfer kommt oft jede Hilfe zu spät, weil die Symptome nicht erkannt werden: Der Puls der Kranken rast, das Atmen fällt ihnen schwer, Nägel und Lippen sind bläulich verfärbt. Auffällig sind oft Schüttelfrost, plötzliche Verwirrtheit und extrem hohe oder zu niedrige Körpertemperatur - Anzeichen dafür, dass Herz, Lunge, Nieren, Leber und Hirn durch das Störfeuer der Erreger bereits mit zu wenig Sauerstoff versorgt werden.

Das Problem dabei: Fast alle diese Symptome können auch von Krankheiten herrühren, die nichts mit einer Sepsis zu tun haben. In den Notaufnahmen der Kliniken oder beim ambulanten Notarzteinsatz am Wochenende gehen Sepsis-Patienten deshalb leicht unter.

Die Diagnose ist schwieriger als beim Herzinfarkt. Vor allem unerfahrene Ärzte sind damit oft überfordert: »Ein Doktor im ersten Jahr kriegt das nicht gebacken«, erklärt Norbert Suttorp, Infektiologe an der Berliner Charité. In fast jedem zweiten Fall, so rechnen die Experten, wird die tödliche Bedrohung deshalb zu spät erkannt.

Doch Zeit ist der entscheidende Faktor. Mit jeder Stunde verringert sich die Überlebenschance der Opfer um rund fünf Prozent. Suttorp: »Das ist wie bei einem Brand im Keller - wenn man nicht gleich mit dem Feuerlöscher reinhält, ist es zu spät.«

Die Keime und die überschießende Abwehrreaktion des Immunsystems lösen bei den Kranken binnen Stunden Dominoeffekte im ganzen Körper aus: Der Flüssigkeitshaushalt gerät aus dem Lot, die Blutgerinnung spielt verrückt, der Kreislauf droht zu versagen, ein Organ nach dem anderen stellt seinen Dienst ein.

Nur mit der geballten Kraft der Apparatemedizin können die ausgefallenen Funktionen ersetzt werden: Patienten mit Lungenversagen werden künstlich beatmet, den Ausfall der Nieren überbrückt die maschinelle Blutwäsche. Der Kreislauf der Opfer wird durch gewaltige Flüssigkeitsgaben von 10, 20, manchmal 30 Litern stabilisiert.

Sepsis-Kranke, die auf der Intensivstation ums Überleben ringen, sind deshalb für ihre Angehörigen kaum wiederzuerkennen: Ihr Gesicht ist aufgedunsen, der Körper voll gesogen mit Kochsalz- und Elektrolytlösung, sie nehmen innerhalb kürzester Zeit bis zu 30 Kilogramm zu. Intensivmediziner sprechen vom »Quallenstadium«.

Immerhin haben die Heilkundler in den letzten fünf Jahren Therapien erprobt, die das Leben der Patienten auch zu einem relativ späten Zeitpunkt noch zu retten vermögen. An die künstliche Lunge angeschlossene Opfer etwa haben deutlich bessere Überlebenschancen, wenn sie mit niedrig dosierten Luftstößen versorgt werden, weil aggressivere Beatmungsformen entzündliche Prozesse in den Lungenbläschen eher ankurbeln.

Etwa 90 Prozent der von den SepNet-Fahndern befragten Intensivmediziner gaben an, sich bei ihren Blutvergiftungspatienten

an diese spezielle Beatmungsart zu halten. Tatsächlich erhielten nur vier Prozent der Erkrankten mit schwerer Sepsis und Lungenversagen die schonende Therapie.

Vor allem »Aktiviertes Protein C«, seit Ende 2002 als Arzneimittel auch in Deutschland zugelassen, kann Leben retten. Das von gentechnisch veränderten menschlichen Embryonalzellen ausgebrütete Mittel ("Xigris") gilt als erste wirkliche Neuerung bei der medikamentösen Behandlung der schweren Sepsis und des septischen Schocks.

Das in der Leber gebildete, natürliche Protein C spielt eine wichtige Rolle bei der Balance zwischen gerinnungsfördernden und gerinnungshemmenden Faktoren im Blut. Im Organismus der Sepsis-Kranken ist dieses System gestört: Die körpereigenen Gerinnungshemmer werden unter den Keimattacken sinnlos verpulvert, ihre Konzentration im Blut sinkt auf bedrohliche Werte. Die Folge: Kleine Blutgerinnsel verstopfen die feinen Äderchen in nahezu allen Organen. Deren Sauerstoffversorgung wird dadurch immer schlechter.

Das künstliche Protein C aus dem Genlabor normalisiert die Blutgerinnung und hemmt Entzündungsreaktionen des Körpers (allerdings birgt es auch ein erhöhtes Risiko für innere Blutungen und Schlaganfälle). Bei klinischen Studien rettete der Gerinnungshemmer einem von 16 Patienten, die mit ihm behandelt wurden, das Leben.

Zehn bis 15 Prozent der deutschen Sepsis-Patienten, so rechnen die SepNet-Experten, könnten von der Pharma-Neuerung profitieren; aber nur 0,9 Prozent bekommen sie derzeit nach den Recherchen der Fahnder. Ein Grund für die Zurückhaltung der Mediziner ist der Preis: Die Behandlung mit »Xigris« kostet pro Patient rund 10 000 Euro.

Auch andere Behandlungsfortschritte aus den vergangenen fünf Jahren sind bisher kaum im Klinikalltag angekommen. Niedrig dosiertes Hydrocortison etwa dämpft den Amoklauf der körpereigenen Abwehr gegen die Invasion der Keime und hilft bei der Stabilisierung des Kreislaufs - doch nur knapp jeder dritte deutsche Patient wird bereits damit behandelt. Stattdessen erhalten viele Sepsis-Opfer noch immer niedrig dosiertes Dopamin, obwohl es wegen seiner Nebenwirkungen eher schädlich ist.

Erst ein Drittel der behandelnden Ärzte, so ergaben die SepNet-Recherchen, kennt die neuen Therapiemöglichkeiten und wendet sie auch an; ein weiteres Drittel kennt sie zwar, verzichtet aber auf ihren Einsatz, unter anderem aus Kostengründen; und das letzte Drittel hat noch nichts von ihnen gehört. »Nur ein kleiner Teil der Patienten wird richtig behandelt«, kritisiert Reinhart.

Selbst bei der Verabreichung lebenswichtiger Antibiotika regieren die Klinikökonomen immer stärker ins Handwerk der Heiler hinein. Der standardisierte Einsatz der Bakterienkiller oder die Verabreichung der wenigen neuen Antibiotika, die es gibt, ist teuer: »Viele Behandler sagen klipp und klar, das können wir aus Kostengründen nicht machen, das gibt unser Budget nicht her«, berichtet Welte.

Rund 25 Prozent der Sepsis-Patienten wären nach Schätzungen von US-Experten jährlich zu retten, wenn sie die optimale Therapie bekämen. »Wenn bei uns zehn Prozent weniger an der Blutvergiftung sterben würden, wäre das schon ein Riesenerfolg«, sagt Welte.

Die Rückkehr der Sepsis kommt nicht von ungefähr. So werden immer mehr große Operationen auch noch bei älteren, immungeschwächten Patienten vorgenommen. Der 78-jährige Milliardär Friedrich Karl Flick etwa schwebte im vergangenen Jahr wegen einer schweren Blutvergiftung auf der Intensivstation im Münchner Klinikum Großhadern wochenlang zwischen Leben und Tod - er hatte sich die Sepsis beim Einpflanzen einer künstlichen Hüfte zugezogen, von der aus Bakterien ins Blut gewandert waren.

Ein erhöhtes Risiko haben generell Menschen mit chronischen Krankheiten wie Diabetes, Aidskranke, Frühgeborene, Transplantierte, die immunsupprimierende Mittel schlucken müssen, oder Krebskranke nach Chemotherapien. In einigen Fällen scheinen bei der höheren Verwundbarkeit für die Invasion der Erreger auch genetische Faktoren eine Rolle zu spielen.

Das Durchschnittsalter der deutschen Sepsis-Patienten liegt nach Erkenntnissen der SepNet-Forscher bei 67 Jahren: »Die Sepsis ist zweifellos eine Krankheit des älteren Menschen«, räumt Welte ein.

Doch auch junge und bis dato gesunde Menschen rafft der Killer dahin. Nach US-Daten von 2001 hatte sich knapp jedes zweite Opfer vor der Keimattacke noch putzmunter gefühlt.

Eine 16-jährige Hamburgerin, so berichtet Kreymann, starb nach dem Genuss von Kartoffelsalat innerhalb von 48 Stunden an einer Salmonellen-Sepsis - der Notarzt hatte noch am Tag zuvor angesichts von Fieber, Durchfall und Erbrechen keinen Verdacht geschöpft. Und Julia Boenisch, die 41-jährige Frau des unlängst verstorbenen Ex-Regierungssprechers und ehemaligen »Bild«-Chefredakteurs Peter Boenisch, starb im vergangenen Jahr an einer Streptokokken-Infektion nach einer simplen Mandel-OP. Auch tödliche Blutvergiftungen nach Fettabsaugungen sind keine Seltenheit.

»Es kann jeden erwischen, das ist ja das Verrückte«, warnt Gordon Bernard, Infektionsexperte an der Vanderbilt University School of Medicine. »Auch Gesunde sind gegen die Krankheit nicht gefeit.«

GÜNTHER STOCKINGER