Warum ist Martin Luther so berühmt geworden?

Bildnisse in einer Luther-Ausstellung

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Der eine Mann schaut mutig in die Welt, fast wie ein Krieger. Sein Blick offen und selbstbewusst, Gott ist auf seiner Seite. Er weiß, es gibt kein Zurück.

Der andere Mann dagegen schaut müde. Er ist mächtig, das sieht man an seiner Gestalt, an seiner Pose. Er ist sich immer noch sicher, dass Gott auf seiner Seite steht. Aber er weiß auch, wie viele Opfer die Kämpfe gekostet haben, die er ausgelöst hat, und er weiß wohl auch, wie viele Opfer es noch geben wird.

Das eine Bild zeigt Luther als hageren Mönch, mit Tonsur und Kutte. Es ist das Jahr 1520, in dem einige seiner wichtigsten Schriften erscheinen. Es ist das Jahr, in dem Luther zu dem Luther wird, den wir zu kennen glauben.

Das andere Bild zeigt Luther als Würdenträger mit feistem Gesicht. Seine Ängste, die immer stark waren, werden fast übermächtig in dieser Zeit. Er rechnet mit dem Ende, der Apokalypse. Es ist das Jahr 1541, in dem die Türken die Städte Buda und Pest erobern. Für Luther sind die Türken, wie er schreibt, "des Teuffels diener, das hat keinen Zweifel".

In den Jahren, die zwischen den beiden Bildern liegen, die Lucas Cranach der Ältere von Martin Luther machte, war die Welt eine andere geworden. Sie war brüchiger geworden, komplizierter, größer, moderner. Schon in den Jahrzehnten zuvor hatte sie große Fortschritte gemacht. Johannes Gutenberg hatte um 1450 die Druckerpresse mit beweglichen Metalllettern erfunden und damit eine mediale Revolution hervorgerufen, die Luthers Wirkung erst möglich machte. Christoph Kolumbus hatte 1492 Amerika entdeckt und eine frühe Globalisierung in Gang gesetzt. In Italien arbeiteten Künstler und Gelehrte der Renaissance wie Leonardo da Vinci daran, den Menschen ins Zentrum des Denkens zu stellen, was Luther auf seine Weise bekämpfte. Und Luthers Zeitgenosse Nikolaus Kopernikus stellte fest, dass sich die Erde um sich selbst und um die Sonne dreht. Es waren bewegte, verwirrende Zeiten, für alle.

Der Mensch wurde sich seiner Möglichkeiten bewusst, der Weg der Freiheit zeichnete sich ab - das alles steigerte die Angst derjenigen, die diesen Weg nicht mitgehen wollten. Es war ein Zeitalter im Umbruch, ganz ähnlich wie heute. Die technischen, naturwissenschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen erzeugten einen Druck, dem das gesellschaftliche Gefüge nicht länger standhalten konnte. Und Martin Luther war mittendrin, er war der Mann auf der Schwelle, er war es, der das Alte mit dem Neuen verband, auf eine so einmalige Art, dass er noch heute als Modell dienen kann, der erste Rebell der Neuzeit.

Er war der Mann, der die Kirche nicht spalten wollte und schon gar nicht die Welt, denn Welt und Kirche waren eins im Mittelalter - aber der Bruch, der von ihm ausging, setzte die Kräfte frei, die Europa in die Neuzeit vorantrieben.

Er formulierte den Zweifel an Teilen der herrschenden Lehre, und weil der Zweifel dem Menschen eigen ist, stärkte er den Einzelnen gegenüber der Institution, das war sein Widerstand. Er bot dem Papst die Stirn und dem Kaiser und der Korruption, die die weltliche und die geistliche Macht verband, er war ein moralischer Krieger, und etwas von diesem Fanatismus ist bis heute geblieben.

Die Reformation war tatsächlich eine Revolution

Er wollte die Kirche retten, die er teilte, das ist der Widerspruch Luthers, der aus einem tiefen Glauben heraus handelte, weil er sah, dass dieser Glaube in Rom verraten wurde. Die Reformation also, die "Wiederherstellung" oder "Erneuerung", das ist die eigentliche Bedeutung dieses Wortes, war tatsächlich eine Revolution. Die Folge von Luthers Tat waren neue Institutionen, er veränderte die konfessionelle Landkarte in Deutschland, er setzte einen Prozess in Gang, der das Denken, den Glauben und die abendländische Kirche grundlegend umstürzte.

Ein halbes Jahrtausend danach sind die Folgen noch immer spürbar, kulturell und politisch, sie betreffen Alltag wie Kunst, Essen wie Musik. Luther wurde zum Erfinder der Deutschen. Wie so oft in der Geschichte ist es schwierig, Folge, Wirkungen und Zufall auseinanderzuhalten - aber etwas war in ihm, Luther, diesem groben, genialen, ehrgeizigen, volksnahen Mönch und Professor, das ihn zum wütenden Weltenstürzer werden ließ.

Weil auch das deutsche Reich in einer Krise war, agierte er in einem hochpolitischen Umfeld, er baute seine Macht auf die Unterstützung einiger Fürsten, die ihn beschützten, weil sie ihre Macht gegenüber dem deutschen Kaiser stärken wollten, die ihm 1518 die Flucht ermöglichten und ihn 1521 sich auf der Wartburg verstecken halfen. Er war und ist für viele eine deutsche Sehnsuchts- und Schicksalsgestalt und eine Figur auf dem Schachbrett der europäischen Geschichte - jede Zeit sieht einen anderen Luther, jeder hat seinen eigenen Luther.

Dabei ist dieser Mann immer noch nah, in seinen Widersprüchen, in seinem Wollen, in seinen eigenen Worten. Er ist der Mann zwischen Mittelalter und Neuzeit.

Martin Luder, mit diesem Namen wurde er geboren, am 10. November 1483 in Eisleben, der erste oder zweite Sohn, ganz sicher ist das nicht, von insgesamt wohl neun Kindern - mitten im damals boomenden mitteldeutschen Bergbaugebiet, wo der Vater vom Bergmann zum Hüttenpächter aufstieg. Seine Familie war den Zwängen der Herkunft enthoben und doch dem Druck der Erwartungen verpflichtet. Sie war nicht arm und nicht bäuerlich, wie es manche Lutherlegende wollte, sondern Teil des im 16. Jahrhundert entstehenden Bürgertums und durchaus wohlhabend - Martin sollte den Aufstieg fortsetzen, er sollte Jura studieren, das war der Plan des Vaters.

Hans Luder hieß der Vater, streng guckt er auf dem Bild, das Cranach auch von ihm gemalt hat, breite Stirn, wuchtige Nase, der Blick in die Ferne - seine Frau Margarete dagegen, hager, fast bäuerlich karg in ihrem Aussehen, hat ihren Blick nach innen gewendet.

Der Vater ließ den Sohn in verschiedenen Dom- und Pfarrschulen erziehen - schon äußerlich unterschied sich der junge Martin damals von seinen Altersgenossen durch die Uniform, die er trug, die Uniform des Lateinschülers. Die Erziehung war streng und auf Strafen und Ordnung angelegt. Der junge Luther galt als zurückhaltend und auch etwas eingeschüchtert von dem harten Regiment, aber seine intellektuelle Begabung war früh deutlich.

"Hilff du, S. Anna, ich wil ein monch werden"

1501 begann er sein Studium in Erfurt, einer der bedeutendsten Universitäten des Landes. Das vom Vater gewünschte Jurastudium im Jahr 1505 aber dauerte nur wenige Wochen, bis zu einem Ereignis, das durch Luther selbst zur Legende geworden ist.

Es war ein Gewitter, das alles veränderte, am 2. Juli 1505, in der Nähe des Dorfes Stotternheim. In Todesangst übergab Luther sein Leben Gott: "Hilff du, S. Anna, ich wil ein monch werden", so schilderte er es später selbst. Die eigentümliche Wechselwirkung von Altem und Neuem, die Luthers Wesen und Werk prägte, wird hier deutlich - er wendet sich zurück, zum Aberglauben, zum Mittelalter, und forciert gerade dadurch den Gang in die Neuzeit.

Noch im selben Monat trat er gegen den Willen des Vaters ins Kloster der Augustinereremiten in Erfurt ein, wo es zu dieser Zeit Diskussionen über den Zusammenschluss verschiedener Konvente des Ordens gab. Luther wurde von diesen Diskussionen geprägt, er wurde hier zum Diakon und Priester und schließlich zum Professor in Wittenberg, wo es erst seit ein paar Jahren eine Universität gab. Er war der Mann des Neuen.

Unter dem Einfluss seines Mentors Johannes von Staupitz formte er in dieser Zeit sein theologisches Weltbild: Gottes Barmherzigkeit, so erkannte er, offenbart sich in Christus - der leidende Jesus, das war seine theologische Revolution, ist ein Zeichen der Hoffnung und des Heils. Es war die antike Tradition, die Luther dabei vor allem in seinem Denken beeinflusste, die Gnadentheologie des lateinischen Kirchenlehrers Augustinus, der im 4. und 5. Jahrhundert nach Christus gelebt hatte und eine entscheidende Figur im Übergang von der Antike zum Mittelalter war.

All das blieb die spirituelle Grundlage der theologischen Schlachten, die Luther später focht. Seine frühen Schriften als Theologieprofessor zeugen davon. In dieser Zeit, zwischen 1512 und 1518, formte sich sein Glaubensfundament. Er formulierte Revolutionäres und orientierte sich an der Vergangenheit.

Zum Werkzeug wurde ihm die Bibel selbst, er las sie immer wieder und neu - der Rückgriff auf die Quellen, auf die Ursprünge des Glaubens, eröffnete ihm einen Weg in die Zukunft. Die römische Kirche hatte sich von den Gläubigen getrennt, sie war ein System, das für sich selbst existierte - und die Angst ausnutzte und die Not der Gläubigen ausbeutete. Das war die spirituelle und institutionelle Krise, in die Luther seine Botschaft setzte - es gab eine Elite, die die Bibel lesen konnte, weil sie noch nicht verbreitet war, und es gab das Volk, das ausgeschlossen war.

Der Zeitgeist stand auf Umsturz. Das Neue war bereits in der Welt, in Gestalt der technischen, philosophischen und wirtschaftlichen Neuerungen, aber die alte Frömmigkeit und Heiligenverehrung hatte noch die Macht. Ein Riss ging durch die Welt. Angst prägte die Menschen des späten Mittelalters, die Angst vor allem vor dem Jenseits und vor den Qualen der Hölle - und die Kirche bot Ablassbriefe an, die das Heil im nächsten Leben an das Geld in diesem Leben banden, verbunden mit einem ausufernden Reliquienkult: Ein Besuch in Rom in der Basilika, in der der heilige Petrus beerdigt sein soll, würde einem Gläubigen 7000 Jahre Fegefeuer erlassen. Wer die Kreuzpartikel küsste, dem wurden 17.000 Jahre erlassen. Aber auch mit Geld ließ sich die jenseitige Leidenszeit etwas verkürzen.

Luther trat an zum Kampf gegen das verrottete Rom

Nur die Kirche konnte die Sünden vergeben, hieß es - dagegen wandte sich Luthers neue Gnadentheologie, über die jedem Gläubigen die direkte Beziehung zu Gott möglich wurde. Luther griff damit ein durchaus frühkapitalistisches System an, das auf den mittelalterlichen Ablasshandel aufgebaut war: Die verschwenderischen Renaissancepäpste waren genauso beteiligt wie der Erzbischof von Mainz, Albrecht von Brandenburg und das Augsburger Bankhaus Fugger. Es war also nicht nur eine theologische oder spirituelle Frage, in der Luther sich gegen die herrschende Macht richtete - es ging seinen Gegnern in vielem ganz weltlich darum, den Geldfluss und damit die Grundlage der Macht aufrechtzuerhalten.

Luther wandte sich, in direktem Bezug auf Paulus und den Römerbrief, von dieser oberflächlichen Vorstellung von Sünde und Vergebung ab: Der Mensch, so Luther, ist als Sünder geboren und wird als Sünder sterben, durch Jesus Christus aber wird er gerecht.

Aus diesem Geist, aus dieser Sicherheit, die er in der Bibel gefunden hatte, trat Luther an zum Kampf gegen das verrottete Rom - aus "enttäuschter Liebe", wie es der Reformationshistoriker Thomas Kaufmann nennt, eine Liebe, die in Hass umschlug, als Rom sich ihm widersetzte.

All das bündelte sich vor fast 500 Jahren in einer symbolisch überhöhten und historisch umstrittenen Tat: Am 31. Oktober 1517, so geht die Legende, nagelte Luther, wie es im akademischen Diskurs damals üblich war, seine Protestschrift gegen den Ablasshandel, seine 95 Thesen, an die Tür der Wittenberger Schlosskirche. Der Bruch danach war unvermeidlich: Die römische Kirche, so sah er es, hatte den Glauben verraten. Luther trat an, um den Glauben zu retten - und spaltete in der Folge eine korrupte Kirche.

"Aus Liebe zur Wahrheit und in dem Bestreben, diese zu ergründen", mit diesen Worten begann Luther seinen Wittenberger Thesentext, der den Papst direkt angriff und ihm jedes Recht absprach, Buße zu erlassen. Das ganze Leben, so Luther, sei Buße, die ganze Existenz sei Schuld und Sühne: "Daher bleibt die Strafe, solange der Hass gegen sich selbst - das ist die wahre Herzensbuße - bestehen bleibt, also bis zum Eingang ins Himmelsreich."

Luthers 95 Thesen waren ein populistischer Aufschrei gegen die Macht der verkommenen Institution, erst auf Lateinisch veröffentlicht und schließlich in der deutschen Übersetzung, als "Sermon von Ablass und Gnade", ein publizistischer Sensationserfolg. Der Volksheld Luther wurde damals geboren, der Schmähschreiber auch, der die direkte, oft genug vulgäre Sprache nutzte, um später gegen die "Huren- und Hermaphroditenkirche" zu schimpfen, "des Teufels Grundsuppe".

Ist das also der Luther, der von der evangelischen Kirche gefeiert wird, die ganze Lutherdekade über, bis zum 31. Oktober 2017: Der Glaubensextremist, der Sprachschöpfer, der Gott-helfe-mir-Amen-Christ, der widerspenstige Rationalist, wie er dem Selbstbild der Deutschen entspricht?

Aber was wäre dann mit dem anderen Luther? Dem Gehorsamkeitsprediger, dem Antisemiten, dem Verräter in den Bauernkriegen, dem Taktiker im Geflecht der Fürsten, dem Wutbürger, der gegen die Freiheit des Einzelnen wetterte, wenn sie nicht an Gott gebunden ist? In der wilden Zeit nach der Veröffentlichung der Thesen wurde all dies deutlich. Und auch der Trotz, der dem Protestantismus geblieben ist und sich bis zu Friedrich Nietzsche und Gudrun Ensslin verfolgen lässt.

Direkt nach dem Bekanntwerden der Thesen wurde gegen Luther ein Ketzerprozess eingeleitet - was ihn nur in seinem Widerstand bestärkte. Er sah sich verraten von der Kirche und erhoffte sich Rettung allein von Gott. Der Glaube also, der radikale, kategorische Glaube war der Ursprung von Luthers Rebellion - in gewisser Weise war es ein Fundamentalismus, der ihn antrieb, ein Glaube auch an die Macht des Wortes, der sich bis heute im Protestantismus findet.

Demokratisierung des Glaubens

Dieser Glaube gab ihm die Stärke, sich dem Papst zu widersetzen: Es ist eine zündelnde Radikalität, die sich hier zeigt, eine Gefährlichkeit und Gefährdung, die jeden historischen Bruch begleitet. Luther selbst musste sich im Oktober 1518 öffentlich für seine Thesen rechtfertigen. Er wurde in Augsburg von einem Bevollmächtigten des Papstes verhört - und wiederholte, dass für ihn die Heilsgewissheit allein auf die Verheißung Christi gründe und nicht auf die Macht der Kirche. Das Drama lief auf seinen Höhepunkt zu: Wer als Erster nachgab, der hatte verloren, Papst oder Ketzer, Rom oder Wittenberg, die Macht oder die Provinz, die alte Zivilisation oder das neue, rohe, raue deutsche Land.

Luther sprach von einer deutschen Nation, in seiner Schrift "An den christlichen Adel deutscher Nation", die im August 1520 erschien - ein kühner Wurf, hinter den es kein Zurück mehr gab, nicht für ihn und nicht für Papst Leo X. Luther, so wurde es oft interpretiert, prägte diese Nation mit seinen Worten und Schriften, er baute sie auf als Gegenmacht zu Rom, als Identität, Kultur, Gemeinschaft. Das bleibt ein Vermächtnis Luthers, bis heute. Das ist die Kontinuität bis zu Hitler, wie sie immer wieder beschrieben wurde.

In dieser Schrift formulierte Luther seinen Appell, eine Kirche der Laien zu schaffen und die Idee eines allgemeinen Priestertums aller Getauften. Eine Art Demokratisierung des Glaubens. Und andererseits führte das zum Bündnis zwischen Glauben und Fürstenmacht, das späte Folgen hatte, von der konfessionellen Kleinstaaterei, die in Deutschland bis heute ihre Spuren hinterlassen hat, bis zum obrigkeitsstaatlichen Denken, weil der Glaube unter die Macht des Adels gestellt wurde.

Die Wirkung auch der anderen Schriften, die in diesen Jahren entstanden, war enorm: Die Gesamtauflage allein seiner 287 Flugschriften, die bis 1525 erschienen, wird auf über zwei Millionen geschätzt. Kein Autor war siebzig Jahre nach Gutenbergs Erfindung so verbreitet wie Luther - der Ketzer, zu dem ihn der Papst im Jahr darauf erklärte, gewann überlebensgroße Statur als Reformator.

Im Oktober 1520 erreichte die Nachricht der päpstlichen Bannandrohungsbulle "Exsurge Domine" Luther - und im Dezember verbrannte Luther in Wittenberg Schriften Roms, darunter das Kirchenrecht und die Bulle. Von nun an also kämpften zwei Ketzermächte um das Heil der Christenheit, so spitzte Luther, der Provokateur, den Konflikt zu. In Städten wie Erfurt und Leipzig regte sich der Zorn gegen Rom, gegen die Zentralmacht, Luthers Gegenspieler Johannes Eck musste sich tätlicher Übergriffe erwehren. Das Klima wurde giftiger, die Angriffe erfolgten direkt, es war eine Stimmung der Agitation, die das Land ergriffen hatte und sich in weiteren Hetzschriften zeigte - die medialen Mittel, die direkte Kommunikation, der Feind, der von außen kam, all das stachelte die Wut weiter an.

Luther, so schien es in diesem Jahr, war bereit, seine Rolle als radikaler Reformator einzunehmen: Mit seiner Schrift über die "babylonische Gefangenschaft der Kirche" will er im Rückgriff auf das Evangelium die von kirchlichen Dogmen überwucherten Fundamente des christlichen Glaubens wieder freilegen. Die dritte wichtige Schrift des Jahres 1520 schließlich, "Von der Freiheit eines Christenmenschen", formulierte Freiheit als Freiheit von Rom, aber gleichzeitig als Gehorsam gegenüber Gott - politische Freiheit war nichts, was Luther interessierte.

Die Sprache, direkt, plakativ, plastisch, war immer Luthers Werkzeug

In gewisser Weise war das Werk damit getan: Wäre Luther 1520 oder spätestens 1521, als er sich in Worms vor dem Kaiser verantworten musste, hingerichtet worden - die Reformation, die längst eine breite Volksbewegung geworden war, wäre auch ohne ihn weitergegangen. Die widersprüchliche Mechanik der Neuzeit war in Gang gesetzt worden, und Luther hatte seinen Anteil daran: Die Zukunft gehört dem Individuum, das war die Signatur der sich anbahnenden Epoche, das Cogito von Descartes und das Credo Luthers. All das steckt auch in seinem berühmten Satz: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen."

Diese Worte sollen in Worms gefallen sein, wo sich Luther vor dem Kaiser rechtfertigen musste, und ob sie genau so fielen, ist im Grunde egal: Jeder, der wollte, glaubte, dass er diese Worte gesagt hatte. Für den Weg zum Showdown in Worms und auch zurück hatte der Kaiser ihm zwar freies Geleit zugesagt - trotzdem reiste Luther voller Angst ab. Und sein Landesherr, der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise, ließ Luther heimlich zur Sicherheit auf die Wartburg bei Eisenach bringen.

Hier lebte Luther ein dreiviertel Jahr lang, jetzt mit Vollbart und ohne Tonsur, als Junker Jörg. Die Welt, die er in Bewegung gesetzt hatte, drehte sich ohne ihn weiter. Auf der Wartburg begann er 1521 mit seinem größten Werk: Er übersetzte das Neue Testament ins Deutsche und trug so entscheidend mit dazu bei, dass jeder, der wollte, die Bibel lesen konnte. Für die Breite, die Tiefe, die Ernsthaftigkeit des Glaubens war diese Übersetzung entscheidend - es war eine theologische und literarische Großtat von bleibender Wirkung.

Lästermaul, Lockvogel, Gewissensbisse, Schandfleck, Bluthund, Feuereifer, all das sind Worte, die Luther für seine Bibelübersetzung erfand. Er schuf den "Wolf im Schafspelz" und das "Buch mit sieben Siegeln" und lehrte die Deutschen auch, dass sie die "Zähne zusammenbeißen".

Die Sprache, direkt, plakativ, plastisch, war immer Luthers Werkzeug - zusammen mit den Bildern von Lucas Cranach dem Älteren entstand so ein wort- und bildmächtiges Riesenwerk, das in seiner Wirkungsmacht schon die massenmediale Propaganda der Moderne ankündigte. Auf der Wartburg aber, an diesem einsamen Ort, erkannte Cranach einen anderen Luther: weich, in sich gekehrt, verloren fast, die Hand greift ins Leere, der Blick geht ins Nichts, verdreht wirkt der Körper, als wände sich etwas in ihm. Der amerikanische Psychoanalytiker Erik Erikson hat in den Fünfzigerjahren die Diagnose gewagt, dass Luther zeit seines Lebens unter psychischen Problemen litt und geplagt war von Melancholie und schweren Schuldgefühlen. In diesem Bild zumindest ist eine Traurigkeit und Erschöpfung zu erkennen.

1522 kehrte Luther zurück nach Wittenberg und warf sich schon bald darauf in die nächste Schlacht: Der Abendmahlstreit behandelte innerreformatorische Streitigkeiten und führte zu erneuten Spaltungen zwischen Luther auf der einen und dem Schweizer Reformator Zwingli auf der anderen Seite. Es ging um die Frage: Sind Christi Leib und Blut real präsent beim Abendmahl?

Luther sagte: Ja - wie die katholische Kirche. Er wurde in den Jahren nach seiner Rückkehr konservativer, kein Freund mehr radikaler Lösungen. Das zeigte sich auch in seiner Haltung zu den Bauernkriegen und zu sozialen Unruhen, die das Reich erschütterten, angeführt von den Bauern und anderen sozialen Schichten, die sich wirtschaftlich und politisch zunehmend unter Druck gesetzt fühlten. Luther, dem solche weltlichen politischen Fragen ziemlich egal waren, trat den "Mordischen und Reubischen Rotten der Bawren", wie er sie in einer Schrift 1525 nannte, entschieden entgegen.

Angetrieben wurde er dabei von der Hoffnung, durch ein Bündnis mit den Fürsten seine Reformation zu retten. Er wollte sie vor einer Radikalisierung schützen, die er nicht mehr kontrollieren konnte. Was zur Folge hatte, dass die Reformation ihren Charakter als Volksbewegung verlor. Es waren, so sagte Luther selbst, zwei Reiche, eines von Gott und eines der weltlichen Macht. Die obrigkeitsstaatliche deutsche Gehorsamstradition hat hier eine Wurzel.

1530 wurde die Position der Protestanten, wie sie seit 1529 genannt wurden, schriftlich fixiert und dem Kaiser übergeben: Die "Confessio Augustana" war ein wichtiger Schritt, das Überleben der Reformation zu sichern. Die theologischen Vordenker der Reformation waren, wie so viele Revolutionäre, weniger radikal als am Anfang, um den Erfolg zu sichern.

Luthers Worte wurden Waffen

Doch entwickelte Luther schon bald eine Sprache des Hasses. Man solle die Bauern "zerschmeißen", schrieb er 1525, sie "würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer da kann, gleich als wenn man einen tollen Hund totschlagen muss". Das war der Ton für Luthers spätere Jahre, die eine Reihe von blutrünstigen, pogromartigen Schriften aufweisen - Luthers Worte wurden Waffen.

Der Mann, in dessen Theologie die göttliche Gnade eine zentrale Rolle spielt, wurde zu einem Mann, der sich und seine Welt mehr und mehr von Feinden umgeben sah. Hier das radikale Heilsversprechen, dort die radikale Verdammung, auch das war Luther. Bis zu seinem Tod 1546 suchte sich diese heiße Wut Luthers immer neue Ziele: die Türken etwa und besonders die Juden.

Es begann, indem Luther in seiner ersten Schrift "Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei" 1523 der Hoffnung Ausdruck verlieh, viele Juden könnten dank der reformatorischen Auslegung der Schrift erfolgreich missioniert werden: Konversion sei der natürliche Gang der Dinge. Zwanzig Jahre später hatte sich Luthers Haltung geändert. "Kein blutdürstigeres und rachgierigeres Volk hat die Sonne je beschienen", schreibt Luther 1543 in "Von den Juden und ihren Lügen", "sie seien darum Gottes, dass sie sollen und müssen die Heiden morden und würgen." Die Juden seien "Zungendrescher vor Gericht", von "Silbersucht" befallen, "Herren der Welt", die die Christen ausbeuten und verachten, "den Gojim fluchen, speien und maledeien". Also zweifle nicht, so folgert er, "dass du nächst dem Teufel keinen bittereren, giftigeren Feind hast als einen rechten Juden, der mit Ernst ein Jude sein will".

Sein Ratschlag: Verbrennt die Synagogen, zerstört ihre Wohnhäuser, nehmt den Juden alles Hab und Gut und Gold, zwingt sie zu harter körperlicher Arbeit, verbietet ihre Geldgeschäfte, "siebenmal höher als andere Diebe" müssten diese Wucherer hängen. Die christliche Obrigkeit solle es wie die "treuen Ärzte tun: Wenn das heilige Feuer in die Knochen gekommen ist, fahren sie mit Unbarmherzigkeit zu und schneiden, sägen, brennen Fleisch, Adern, Knochen und Mark ab".

Das war auch die Sprache und das Denken der Pogrome und der Vernichtung im 20. Jahrhundert.

Und Tage vor seinem Tod schrieb er nach einem Schwächeanfall an seine Frau Katharina von Bora: "Aber wenn du wärest da gewest, so hättestu gesagt, es wäre der Juden oder ihres Gottes Schuld gewest. Denn wir mussten durch ein Dorf hart vor Eisleben, da viel Juden innen wohnen, vielleicht haben sie mich so hart angeblasen."

Die Heirat mit Katharina von Bora 1525, einer ehemaligen Nonne, die aus dem Kloster geflohen war und ihm sechs Kinder gebar, war ein Ereignis von besonderer Symbolkraft. Schon früh hatte Luther das Eheverbot für Priester infrage gestellt. Und einzelne Pfarrer hatten den Zölibat schon bald gebrochen, aber die beiden waren nun das Urpaar, Adam und Eva des protestantischen Pfarrhauses, das als Institution des Glaubens, aber vor allem der Bildung Deutschland bis heute prägt. Angela Merkel, die Kanzlerin, ist ein Pfarrkind und der Präsident Joachim Gauck ein Pfarrer.

Am 18. Februar 1546 starb Martin Luther in Eisleben, auf einer Reise, um einen Streit zu schlichten, und nicht daheim in Wittenberg: Das Pflichtbewusstsein gehört zu seinem Erbe, der Trotz auch, die Wut und das Wort, das durch ihn fast etwas Heiliges bekam in der deutschen Kultur.

Er prägte ein Land, das durch die Folgen seiner Tat zersplitterte und im Dreißigjährigen Krieg verwüstet wurde. Er prägte es durch seine Haltung, durch seine Botschaft, durch etwas Überwölbendes, das mit dem Christentum verbunden war und mit der Kultur, die daraus erwuchs. Das Erbe Luthers ist groß. Es gibt kaum jemanden, der dieses Land, seine Kultur und seine Menschen so geprägt hat wie er.

Und auch die Harschheit seiner Worte spiegelt sich auf eigenartige Weise in der Härte der gegenwärtigen Auseinandersetzungen darüber, wer zu diesem Land gehört und wer nicht. Luther sah schon damals den Islam auf dem Vormarsch, er war beseelt von einer Türkenangst, voller Sorge über eine Gefahr, die alles vernichten könnte, woran er glaubte. "Und man siehet's auch zwar wohl an der Tat", schrieb er 1529, "wie greulich er die Leut, Kind, Weiber, jung und alt erwürget, spießet, zuhacket, die ihm doch nichts getan, und so handelt, als sei er der zornige Teufel selbs leibhaftig."

Als wahrhaft endzeitliche Katastrophe erschien ihm die militärische Bedrohung durch die Armeen des Osmanischen Reiches, die bis weit nach Europa vorgedrungen waren und schließlich Wien belagerten - die Angst hetzte ihn voran, der Angst lieh er sein Wort.

Die Vernunft wiederum, wie sie die Grundlage der Aufklärung und schließlich der Moderne war, als Vernunft, die dem Menschen gegeben ist und ihn erst zum Menschen macht, galt Luther wenig - der Mensch wurde für ihn nur durch Gott gerechtfertigt. Die Enge, aus der er kam, verließ ihn sein Leben lang nie und prägte sein Denken. Er war ein Mann, der in ganz Europa gelesen wurde, der selbst allerdings Europa kaum kannte.

Luthers Widersprüche prägten die Jahrhunderte, die ihm folgten. Die Prägung Luthers ist die Prägung dieses Landes - und die allgemeinen Krisenphänomene damals wie heute ähneln sich. Populistische Wut? Antielitärer Ekel? Die Abneigung gegen das Denken und die Kultur unserer westlichen Nachbarn? Der Hang zum Antikapitalismus? Der deutsche Antisemitismus? Auch an Luther lässt sich das studieren. Er war ein Stichwortgeber des Ressentiments.

Und zugleich schuf er die Figur des Christen, der allein auf sich gestellt, ohne Vermittlung von Tradition und Kirche, Gottes Wort und Willen in der Heiligen Schrift vernimmt und damit selbstbewusst gegen die etablierte Ordnung aufbegehrt.

Martin Luther war ein Mann zwischen Gestern und Heute, zwischen Glaube und Wut - und die Welt wird heute noch zerrissen von diesen Extremen. Er war ein Mann von Gehorsam und Umsturz, er vertraute in die Macht Gottes und der Gewissheit, dass die Welt an ein Ende kommen würde - und die Kräfte, die an ihm zerrten und auch seine Zeit auseinandertrieben, erinnern an heutige Konstellationen.

Luthers Faszination ist es, zugleich fern und nah zu sein, allzu bekannt und fast völlig unbekannt. In vielem bewirkte er das Gegenteil von dem, was er wollte. Er war tatsächlich ein Revolutionär wider Willen: Was er tat, das widerfuhr ihm. Die Absicht konstruierte, wie so oft, die Nachwelt. Er war damit Reformator und Reaktionär in einer Person. Er ist der Riss, der durch das Christentum geht und damit, in vielem, durch die Welt.

Es gibt heute eine Playmobil-Figur von Luther zu kaufen. Da schaut er ganz harmlos aus.

Im Video: Um Martin Luther ranken sich zahlreiche Legenden. Fest steht, dass er mit der Veröffentlichung seiner 95 Thesen die katholische Kirche in ihren Grundfesten erschütterte. Erfahren Sie mehr über sein Leben - in Bildern und Zitaten.