Wie weit ist Deutschland von Tschernobyl entfernt?

Halle (Saale) - Fünf karge Sätze sind es, mit denen die DDR-Nachrichtenagentur ADN die DDR-Bürger am dritten Tag nach der Katastrophe informiert. „Im Kernkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine hat sich eine Havarie ereignet“, heißt es knapp. Einer der Kernreaktoren sei beschädigt worden. „Es werden Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen der Havarie ergriffen, den Betroffenen wird Hilfe erwiesen.“ Zudem sei eine „Regierungskommission“ eingesetzt worden.

Mehr muss niemand wissen, das hatte die DDR-Führung am Tag zuvor entschieden. An jenem 28. April 1986 waren beunruhigende Meldungen aus dem nördlich von Stockholm gelegenen schwedischen Atomkraftwerk Forsmark gekommen. Die Messgeräte dort zeigten plötzlich fünf- bis sechsmal höhere Strahlungswerte als üblich an. Und ein Grund für die erhöhte Radioaktivität konnte nicht ausgemacht werden.

Erst als wenig später auch Finnland deutlich erhöhte Werte meldet, kommt ein Verdacht auf. Es herrscht Ostwind, die radioaktiven Luftmassen kommen also offenbar aus der Sowjetunion. Die aber, seit einem Jahr geführt vom Reformer Michail Gorbatschow, schweigt. Die sowjetische Atomenergiebehörde erklärt auf eine Anfrage aus Schweden hin sogar, ihr lägen „keine Informationen über einen Zwischenfall“ vor.

Am Abend von Tag zwei erst, in den westlichen Medien wird längst über ein Atomunglück in der Sowjetunion spekuliert, gibt die Moskauer Agentur TASS einen Unfall zu. In einem Atomkraftwerk in Tschernobyl, 130 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Kiew, habe sich eine Havarie ereignet. Es seien zwei Menschen ums Leben gekommen und „dringende Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen eingeleitet“ worden.

Die wahre Dimension der Katastrophe bleibt für DDR-Bürger unklar. Während die Sowjetunion das „Entweichen einer gewissen Menge radioaktiver Stoffe“ einräumt, teilt das Staatliche Amt für Atomsicherheit mit, dass ständig Messungen zur Überwachung der Radioaktivität erfolgten. Aktuell würden aber „keine Werte der Radioaktivität gemessen, die eine Gesundheitsgefährdung hervorrufen können“.

Ein Riesenrad steht im April 2021  in einem stillgelegten Vergnügungspark in der Geisterstadt Prypiat in der Nordukraine. Die verlassene Stadt wurde 1970 im Zusammenhang mit dem Kernkraftwerk Tschernobyl gegründet und nach dem Reaktorunglück geräumt.

Ähnlich reagieren anfangs auch die offiziellen Stellen der Bundesrepublik. Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann etwa betont, dass eine Gefährdung in Deutschland „absolut auszuschließen“ sei. Die Radioaktivität sei nur in einem Umkreis von 50 Kilometern um den Reaktor herum hoch, die Bundesrepublik aber liege 2.000 Kilometer entfernt.

Die radioaktive Wolke hat Deutschland zu dieser Zeit bereits erreicht. Das zeigen Messwerte, die für zunehmende Verunsicherung sorgen. Weder in der Bundesrepublik noch in der DDR gibt es einen Maßnahmekatalog, der greift, wenn ein Szenario wie das von der Internationalen Atomenergieorganisation als „katastrophaler Unfall“ eingestuftes Systemversagen von Tschernobyl tatsächlich eintritt.

In Westdeutschland, dessen Bundesländer nicht einmal einheitliche Grenzwerte besitzen, türmt sich eine Panikwelle auf. Milch und Blattgemüse sollen nicht mehr gegessen werden, heißt es in einigen Bundesländern. In anderen wird anfangs nur gemahnt, es sei wichtig, Gemüse gründlich abzuwaschen. Wenige Tage später wird tonnenweise Gemüse beschlagnahmt und vernichtet. Kinder sollen nun nicht mehr im Sandkasten spielen, auch Erwachsene bei Regen besser in geschlossenen Räumen bleiben.

Klassenfahrten in die DDR werden abgesagt, in Niedersachsen ergeht an die Bauern die Aufforderung, Blattgemüse sofort unterzupflügen. Kleingärtner sollten zudem besser die oberste Bodenschicht ihrer Beete abtragen, um Strahlenbelastungen durch radioaktiven Niederschlag zu beseitigen.

Die sogenannten Liquidatoren waren die Helden von Tschernobyl.

Das Schlagzeilengewitter, das über Radio und Fernsehen in Echtzeit in die DDR ausstrahlt, setzt die SED-Führung unter Druck. Die Menschen trauen den offiziellen Versicherungen nicht, wie ein Witz verrät: Man lebe nun wohl schon in der strahlenden Zukunft, die die SED immer versprochen habe. Nur zu sehen sei die immer noch nicht.

Am 1. Mai, dem Feiertag der Arbeiterklasse, beordert die Partei mit Günter Flach, dem Direktor des Zentralinstituts für Kernforschung Rossendorf, Karl Lanius, Chef des Akademieinstituts für Hochenergiephysik, und Wolfgang Krüger vom Staatlichen Amt für Atomsicherheit gleich drei hochrangige Fachleute in die Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“. Übereinstimmend versichert das Trio, dass es „in keiner Phase der Entwicklungen nach der Havarie eine Gefährdung für Menschen und Umwelt in der DDR gegeben“ habe.

Die Radioaktivität habe „nie in irgendeiner Form die Grenzwerte erreicht“, betont Karl Lanius, und „der momentane Stand ist, dass es bereits im Abklingen ist.“ Eine reale Gefährdung existiere damit nicht. „Ich würde diese Meldungen, die da hochgespielt werden, dass die Menschen gefährdet sind und sich in Räumen aufhalten sollen, unter dem Motto der Panikmache sehen.“

06.02.2022: Die Abdeckung des beschädigten Reaktors im Kernkraftwerk Tschernobyl. Russland hat nach ukrainischen Angaben das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl erobert.

Ein „westliches Hetzspektakel“, wie die Zeitungen in der DDR schreiben. Diese „verleumderische Propagandakampagne“, die der Führung der UdSSR Geheimniskrämerei beim Umgang mit dem Reaktorunglück vorwerfe, diene nur der „politischen Brunnenvergiftung“. Alles ziele darauf ab, Abrüstungsvorschläge der Sowjetunion „zu entstellen und ihre Glaubwürdigkeit herabzusetzen“, um den eigenen „Hochrüstungs- und Konfrontationskurs“ ungestört fortsetzen zu können.

Die Tragödie von Tschernobyl, ausgelöst durch eine Kette von menschlichem und technischem Versagen, hat sich in einen Kampf auf dem Schlachtfeld des Kalten Krieges verwandelt. Mit regelmäßigen Berichten über die „Stabilisierung der Radioaktivitätswerte auf einem niedrigen Niveau“, Nachrichten über Störfälle in Reaktoren in Großbritannien und Zitaten westlicher Experten, die vor „Hysterie“ wegen der gestiegenen Strahlenbelastung warnen, versuchen die Medien in der DDR, die Folgen der Katastrophe herunterzuspielen.

Die Milch in der DDR bleibt trinkbar, Gemüse gesund, alle Spielplätze sind offen. Die DDR-Führung beruft sich dabei auf Experten der Weltgesundheitsorganisation, die verkündet hatten, dass „lediglich im Unglücksgebiet die Notwendigkeit besonderer Maßnahmen und Verhaltensregeln“ bestehe.

Am 7. Mai, neun Tage nach dem GAU in Block 4 des Kraftwerkes, startet in der ukrainischen Hauptstadt Kiew die 39. Internationale Friedensfahrt. Die Bundesrepublik, Italien, die USA und ein halbes Dutzend weiterer Staaten haben die Teilnahme ihrer Fahrer abgesagt. Im 6,7 Kilometer langen Prolog durch die Stadt siegt mit Uwe Ampler aus Leipzig ein DDR-Fahrer. Auch die folgenden drei Etappen werden im Katastrophengebiet ausgefahren. Als ob die Atomruine in der Nähe nicht immer noch qualmen würde. (mz)

Krieg in der Ukraine

Wie weit ist Deutschland von Tschernobyl entfernt?

Gelände des Atomkraftwerks Saporischschja. Hier ist es zu einem Brand gekommen. Erhöhte Strahlung ist bislang nicht gemessen worden.

Das Feuer an einem Nuklearmeiler in der Ukraine beunruhigt viele Menschen. Radioaktivität soll nach ersten Einschätzungen nicht ausgetreten sein - dennoch bleiben Fragen zur Sicherheit der Anlagen.

Berlin - In einem Gebäude des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja hat es in der Nacht gebrannt. In Deutschland wächst nun die Sorge vor möglichen Angriffen auf Atomkraftwerke, die sich im Kriegsgebiet befinden.

Wie weit ist Deutschland von Tschernobyl entfernt?

Ein helles, aufflackerndes Objekt landet auf dem Gelände des Kernkraftwerk Saporischschja in Enerhodar. Ein Brand auf Europas größtem Kernkraftwerk ist inzwischen gelöscht.

Wie groß ist die Gefährdungslage? Und muss jetzt auch die deutsche Bevölkerung Vorkehrungen treffen? Die wichtigsten Fragen im Überblick.

Die aktuelle Gefahr von atomarer Strahlung

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„Radiologische Auswirkungen auf Deutschland sind nach dem Stand der verfügbaren Informationen nicht zu befürchten“, versichert das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) mit Stand Freitagmorgen auf seiner Webseite. Alle radiologischen Messwerte am ukrainischen Kraftwerk Saporischschja bewegten „sich weiter im normalen Bereich“. Das AKW ist etwa 1600 Kilometer Luftlinie von Berlin entfernt. Das BfS und das Bundesumweltministerium beobachten nach eigenen Angaben die Lage und informieren über neue Entwicklungen.

Was kann passieren, wenn ein Reaktor angegriffen wird?

Das kommt darauf an. Ein Beschuss der Anlage müsse nicht zwangsläufig zu einem kerntechnischen Unfall führen, sagt Atomtechnik-Experte Sebastian Stransky Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS). „Damit es zu einem solchen Unfall kommt, muss das Kühlsystem beschädigt sein.“ Die sicherheitstechnisch wichtigen Anlagen in der Ukraine seien in geschützten Gebäuden untergebracht. „Sie würden einem Beschuss durchaus standhalten können, das hängt allerdings auch von der Schwere des Beschusses ab.“

Der Reaktor selbst werde von einer Stahlbetonhülle geschützt, der einen Absturz eines kleinen Flugzeugs aushalten könne. „Selbst wenn er beschädigt ist, bedeutet das nicht automatisch, dass es zu einem kerntechnischen Unfall kommt.“ Erst wenn dauerhaft der Strom ausfallen und das gesicherte Kühlwassersystem versagen würde und auch sämtliche Notstromaggregate ausfallen würden, würde es letzten Endes zu einem Ausfall der Nachkühlung kommen. Dies könne zu einer Kernschmelze führen. Experten wie Wolfgang Raskob vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) gehen davon aus, dass in der Ukraine im Falle eines größeren Atom-Unfalls wohl dieselben Stoffe freigesetzt würden wie einst 1986 in Tschernobyl. Einige radioaktive Formen dieser Stoffe - etwa von Cäsium, Strontium und Iod - oder deren Verbindungen sind neben der Strahlengefahr auch noch giftig.

Wie wahrscheinlich ist ein solches Szenario?

Atomtechnik-Experte Stransky betont, dass in den vergangenen Jahren viel für die Erhöhung der Sicherheit in den ukrainischen Anlagen getan wurde. Im konkreten Fall des ukrainischen AKW Saporischschja weisen Experten auf einen wichtigen Unterschied zu Anlagen im japanischen Fukushima und auch im ukrainischen Tschernobyl hin: Die Anlage in Saporischschja habe anders als Tschernobyl einen getrennten Kühlkreislauf und eine besondere Schutzschicht, um eine Freisetzung von Radioaktivität zu verhindern.

Was tun die deutschen Behörden aktuell?

Bundesumweltministerium und BfS befinden sich nach eigenen Angaben in einem sehr engen Austausch mit der ukrainischen Regierung, der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) und Experten auf der ganzen Welt. Soweit es Hinweise auf erhöhte Radioaktivität gebe, gehe das BfS diesen Hinweisen nach. Den Angaben zufolge werden sämtliche Messeinrichtungen in Deutschland regelmäßig überwacht. Deutschland verfüge seit vielen Jahren über Instrumente zur Bewertung einer radiologischen Lage, beispielsweise über das Integrierte Mess- und Informationssystem IMIS. Im Alltag liefern die circa 1700 Messsonden und weitere Messnetze laufend Daten über die Radioaktivität in der Umwelt.

Deutsche Vorkehrungen für erhöhte Strahlenbelastung

In Deutschland sind 189,5 Millionen Jodtabletten in den Bundesländern bevorratet. Sollte ein Ereignis eintreten, bei dem radioaktives Jod in der Luft zu erwarten ist, übernehmen die Katastrophenschutzbehörden die Verteilung der Tabletten in den möglicherweise betroffenen Gebieten. Von radioaktivem Jod ausgehende Strahlung kann für Menschen sehr gefährlich sein und etwa die Wahrscheinlichkeit von Schilddrüsenkrebs erhöhen. Die Einnahme von Jodtabletten schützt dem Umweltministerium zufolge aber ausschließlich vor der Aufnahme von radioaktivem Jod in die Schilddrüse, nicht vor der Wirkung anderer radioaktiver Stoffe.

Wie sollten sich die Bürger verhalten?

„Eine Selbstmedikation mit hoch dosierten Jodtabletten birgt erhebliche gesundheitliche Risiken, hat aktuell aber keinen Nutzen“, schreibt das Bundesamt für Strahlenschutz. Auch die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, die in den vergangenen Tagen eine deutlich erhöhte Nachfrage nach Jodtabletten registriert, warnt vor einer Einnahme von Jodpräparaten. Dazu gebe es aktuell keinen Anlass, erklärte eine Sprecherin am Freitag. Das Umweltministerium weist auf seiner Informationsseite „jodblockade.de“ außerdem darauf hin, dass im Katastrophenfall hoch dosierte Pillen nötig seien, die nicht überall erhältlich sind. Sie dürften „nicht mit den Jodtabletten verwechselt werden, die zur Behandlung von Schilddrüsenkrankheiten vom Arzt verschrieben werden“, heißt es dazu. Auch die Sprecherin der Apothekerverbände gibt zu bedenken, dass man von den niedrig dosierten Tabletten, die in nahezu jeder Apotheke erhältlich seien, im Fall eines Atomunglücks theoretisch eine utopische Menge einnehmen müsste.

Was geschieht bei einem nuklearen Notfall?

Dann käme das radiologische Lagezentrum des Bundes zum Einsatz. Die Öffentlichkeit würde unmittelbar informiert und, sofern erforderlich, würden Handlungsempfehlungen herausgegeben. dpa