Wie viele Schüler machen Abitur in Bayern?

Corona-Sonderregel half

Allen Unkenrufen wegen der schweren Mathe-Abiklausur zum Trotz: Das Abitur an den bayerischen Gymnasien ist offenbar sehr gut ausgefallen.

München – Die Aussagen gleichen sich. „Ein Drittel aller Abiturienten hat eine Eins vor dem Komma“, berichtet Thomas Höhenleitner, Schulleiter des Gymnasiums in Markt Indersdorf. „42 von 120 Schülern haben einen Einser-Schnitt“, sagt Rainer Dlugosch, Schulleiter in Miesbach. „Eine Zwei ist bei uns nicht mehr gut, das ist doch nicht normal.“ Noch eine Stimme, diesmal aus Weilheim: „65 Abiturienten haben mindestens eine 1,9“, sagt Beate Sitek vom örtlichen Gymnasium. „Das sind knapp 50 Prozent.“ Die Liste kann man fortsetzen: Am Gymnasium Dorfen gibt es einen Schnitt von 2,06 – fast die Hälfte der Abiturienten, 48 von 114, haben eine Eins vor dem Komma. Am Gymnasium Bruckmühl (Kreis Rosenheim) sind es rund ein Drittel der 74 Schüler.

Eine Corona-Sonderregel half

Für den Präsidenten des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, sind die sehr guten Ergebnisse keine Überraschung. „Ich wage die Prognose: Der Abischnitt wird besser als im vergangenen Jahr.“ Immer wieder angeführt als Grund für die Einser-Inflation am Gymnasium wird eine Corona*-Sonderbestimmung: die doppelte Günstiger-Regelung. Sie besagte, dass Schüler ihre Leistungen im Ausbildungsabschnitt 11/1 durch die im Abschnitt 12/1 ersetzen konnten – sofern die Noten dann besser waren. „Der Start in die Oberstufe ist mitunter holprig“, sagt Walter Baier, Schulleiter in Bruckmühl. Daher haben viele Schüler von dieser Regelung profitiert. Ebenfalls zugunsten der Schüler wirkte, dass sie im Abschnitt 12/2 nur noch in den Hauptfächern Klausuren schreiben mussten – in allen übrigen Fächern reichten mündliche Noten. Auch der Distanz-Unterricht sei Schülern, die sich selbst organisieren können, bei der Vorbereitung auf das Abitur entgegengekommen, sagt Boris Hackl, Schulleiter am Gymnasium Gröbenzell. Und noch einen positiven Nebeneffekt hatte der Corona-Lockdown der vergangenen Monate: „Für die Schüler fielen die Feiern aus“, sagt Schulleiter Höhenleitner. „Was blieb, war Lernen.“

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Die Einser-Schwemme ist offenbar vorläufiger Höhepunkt eines Trends, der seit Jahren anhält. Seit der Einführung des achtjährigen Gymnasiums nimmt die Zahl sehr guter Abiturienten stetig zu, berichtet Meidinger. Das zeigt die Statistik der Kultusministerkonferenz. 2006 lag der Abischnitt in Bayern noch bei 2,43. 0,95 Prozent der Abiturienten hatte eine 1,0. Dies hat sich fortlaufend verbessert: 2011 gab es einen Notenschnitt von 2,37 (1,27 Prozent mit 1,0), 2016 war der Schnitt auf 2,32 gesunken (1,9 Prozent mit 1,0). Im vergangenen Jahr hatten die Abiturienten einen Schnitt von 2,29 – und 2,3 Prozent hatten die Traumnote 1,0. 2021 erwartet das Kultusministerium einen Schnitt zwischen 2,1 und 2,2. Ein Grund dafür ist, dass in der Oberstufe mündliche und schriftliche Leistungen im Verhältnis 1:1 gewertet werden – und viele Schüler sind mündlich besser als schriftlich. Für Schulleiterin Sitek aus Weilheim ist der Trend zu immer besseren Noten besorgniserregend. „Ein Qualitätsverlust ist unverkennbar.“ Dies könnte sich verstärken, wenn 2026 die ersten Schüler des wieder eingeführten G9-Jahrgangs ihr Abitur schreiben. Deutsch und Mathe bleiben zwar Abitur-Pflichtfächer – in einem von von beiden reicht dann aber eine mündliche Prüfung.

Die Klagen über eine zu schwere schriftliche Mathe-Abiturklausur spiegeln sich in den Abiturzeugnissen, die am 16. Juli bayernweit verteilt werden, nicht wider. Eine Petition, die einen Noten-Nachlass forderte, fand viele Unterzeichner. Doch die Schulleiter geben Entwarnung. „Mathematik ist ganz normal ausgefallen“, berichtet Beate Sitek aus Weilheim. *Merkur.de/bayern ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA

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Abitur macht man demnach am ehesten in Oberbayern. Der Anteil der Gymnasiasten liegt hier bei 27,8 Prozent. Auf Platz zwei folgt Unterfranken mit 26,3 Prozent. Am anderen Ende der Skala liegt Niederbayern mit 21,6 Prozent. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man das Fachabitur dazu nimmt. Auch beim Anteil von Bayern ab 15 Jahren mit Abitur oder Fachabitur liegt Oberbayern vorn und Niederbayern hinten. Während 2011 in Oberbayern 34,7 Prozent der über 15-Jährigen die Hochschulreife haben, waren es in Niederbayern gerade mal 17,5 Prozent. Im Durchschnitt erreichte jeder vierte Schüler im Freistaat die Hochschulreife (26,1 Prozent).

In Städten liegt der Anteil der Menschen mit Hochschulreife besonders hoch: Nürnberg, Regensburg, Augsburg, Passau oder Landshut. Ganz vorne liegt die Stadt München mit einem Anteil von 48,7 Prozent, gefolgt von Erlangen (46 Prozent) und dem Kreis München mit 43,1 Prozent.

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Schlechter schneiden ländliche Regionen ab – wie etwa der Bayerische Wald, Dillingen oder Rottal. Die Oberpfälzer SPD-Landtagsabgeordnete Annette Karl kritisiert aus diesem Grund ein „massives Gefälle bei den Zahlen zur Hochschulreife“, obwohl die „Intelligenz in Bayern gleichmäßig verteilt“ sei. Sie sieht die Ursache in immer weiteren Schulwegen im ländlichen Raum.

Die großen Unterschiede kritisiert auch die grüne Fraktionschefin Margarete Bause. Knapp die Hälfte der Münchner Schüler erreiche die Hochschulreife, nicht einmal 13 Prozent seien es in den ostbayerischen Kreisen Tirschenreuth und Freyung-Grafenau. „Wohnort und Herkunft der Eltern bestimmen über die Schullaufbahn der Kinder“, sagt Bause. „Das darf nicht sein.“

Bildungsminister Ludwig Spaenle (CSU) findet, dass Bildungserfolg und Abiturzeugnis nicht gleichzusetzen seien. Er pocht darauf, dass in Bayern nur 4,8 Prozent ohne Schulabschluss bleiben: „Das ist der niedrigste Wert in allen Ländern in Deutschland.“

Allerdings: Kinder mit Migrationshintergrund sind in Bayern im Nachteil. 12,2 Prozent von ihnen verließen die Schule ohne Schulabschluss – bei den über 15-Jährigen ohne Migrationshintergrund hatten nur 2,2 Prozent keinen Abschluss.

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Noch demonstrieren die Schüler für das Klima, gegen die EU-Urheberrechtsreform. Doch jene, die in der letzten Klassenstufe sind, werden sich in den kommenden Wochen sicher gut überlegen, wo ihre Prioritäten liegen. Im April beginnt das Abitur, je nach Bundesland mal früher, mal später. Für manche Prüflinge mag es höchst bedauerlich sein, dass es für gesellschaftliches Engagement keine Punkte gibt; sie könnten sie brauchen.

Denn wie eine Auswertung der Deutschen Presse-Agentur zeigt, wächst der Anteil der Schüler, die durch das Abitur fallen. Durchschnittlich scheitert inzwischen einer von 26 Schülern eines Abschlussjahrgangs. Deutschlandweit sind das 3,8 Prozent aller Prüflinge. Je nach Bundesland fallen die Quoten aber sehr unterschiedlich aus. Grundlage der Daten sind Zahlen der Kultusministerkonferenz. In Nordrhein-Westfalen waren 2012 noch 1,9 Prozent durchgefallen – 2017 waren es 3,5 Prozent. In Mecklenburg-Vorpommern scheitern sieben Prozent, in Berlin sechs. Die beiden Länder bilden das Schlussduo in der Statistik.

Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel Sachsen. Dort fielen 2006 noch 4,9 Prozent durch, elf Jahre später waren es nur noch 3,1 Prozent. Statistisch am wenigsten wahrscheinlich ist es in Thüringen durch das Abi zu rasseln: 2,1 Prozent scheiterten 2017.

Wie viele Schüler machen Abitur in Bayern?

Quelle: doa Infografik, Infografik WELT

Viele Daten, viele Erklärungsansätze. Aber es gibt Muster, die sich erkennen lassen. Dabei fällt prinzipiell eines auf: Würden bestimmte Regeln, die in einigen Ländern gelten, auch in anderen Anwendung finden, die Zahlen würden womöglich ganz anders aussehen. Die Wege zur Hochschulreife sind nämlich höchst unterschiedlich.

Das beginnt schon mit der Berechnung der Abi-Noten. Jedes Land hat im Prinzip sein eigenes Berechnungsverfahren. So unterscheidet sich die Zahl der Leistungs- und Grundkurse, es unterscheiden sich die Fächer, die verpflichtend belegt werden müssen von Land zu Land. Die Leistungen aus den Oberstufenhalbjahren müssen die Schüler überall einbringen, aber in unterschiedlicher Anzahl und Gewichtung. Viele Leistungen können sie streichen. Das alles ist immer wieder Änderungen unterworfen.

Sachsen etwa hat seine Abituranforderungen abgesenkt. Der Abi-Jahrgang 2017 war der erste, für den die neuen Bedingungen galten. Statt wie früher 52 Kursnoten müssen nun nur noch 40 eingebracht werden. Sie zählen zur Abi-Note. Die Schüler können also mehr schlechte Leistungen streichen als frühere Generationen. Generell entscheiden sich Schüler natürlich immer dazu, wenn möglich, schlechte Leistungen zu kippen. Das hübscht den Schnitt am Beginn der Abi-Prüfungen auf und wiegt manchen in trügerischer Sicherheit.

Der Deutsche Philologenverband als Vertretung der Gymnasiallehrer wünscht sich deshalb die gegenteilige Entwicklung. „Mehr Kurse einzubringen, wäre aus vielerlei Hinsicht sinnvoll, weil sie ein besseres Abbild der kontinuierlichen Leistung in der gesamten Oberstufe geben“, sagt die Vorsitzende Susanne Lin-Klitzing. Dann gäbe es einen anderen Ansporn. Die Schüler merkten rechtzeitig selbst, dass ihre Leistungen nicht ausreichten. In diesem Fall könnten sie den Lernturbo zünden oder Kurse wiederholen.

Unterschiede gibt es auch bei den Fächern, die belegt werden müssen. So verlangt Bayern von jedem Abiturienten ein schriftliches Abitur in Deutsch und Mathematik. Das war vor der G8-Reform anders. Da konnte man um beide Fächer in den Abi-Prüfungen herumkommen. Ein Schüler in NRW muss kein Mathe-Abi machen. Wie die Durchfallerquote aussähe, wenn das Angstfach vieler Jugendlicher dort zwingend schriftliches Abi-Fach wäre, sei dahingestellt. Die Annahme, dass dann noch mehr scheitern würden, erscheint plausibel.

Denn seit in Bayern Mathe Pflicht im schriftlichen Abi ist, hat sich die Quote jener, die durchfallen, auf rund drei Prozent verdoppelt. Auch in Mecklenburg-Vorpommern muss Mathe geprüft werden. Dort wie in Berlin beginnt das Gymnasium zudem erst mit Klasse sieben. Die Schüler haben also weniger Zeit, um reif fürs Abi zu werden. Das kann ein Erklärungsansatz für die sehr hohen Quoten in beiden Ländern sein.

Abseits solcher Erklärungen, die sich aus regionalen Eigenheiten ableiten, gibt es auch allgemeingültige. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, erkennt ein zentrales Problem beim Übergang von der Grundschule aufs Gymnasium: „Man muss sich über die vielen Durchfaller nicht wundern, wenn es in 14 von 16 Bundesländern keine Übertrittsbeschränkungen auf das Gymnasium mehr gibt.“ Meidinger verweist darauf, dass mancherorts 40 Prozent eines Jahrgangs auf das Gymnasium gingen. In den Stadtstaaten ist es teils sogar mehr als die Hälfte.

Heute entscheiden zumeist die Eltern, ob ein Kind auf die weiterführende Schule gehen soll. Schranken in Form bestimmter Notenschnitte gibt es nur noch in Bayern und Brandenburg. Manchmal sind Lehrergespräche zwingend, aber der Rat der Pädagogen kann trotzdem ignoriert werden. Vor allem Landesregierungen mit grünen und sozialdemokratischen Kultusministern haben dies durchgesetzt.

Auch deshalb ist die Leistungsspreizung an den Schulen größer geworden. Das hat Folgen. Die Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom Elternhaus der Kinder steige, sagt der Vorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung, Udo Beckmann. Bei der einen Gruppe könnten die Eltern die notwendige Förderung und Unterstützung privat organisieren, die anderen fielen „durch den Rost“. „Die Schere öffnet sich immer weiter“, sagt Beckmann.

Tatsächlich gibt es nicht nur mehr schlechte, sondern auch immer mehr sehr gute Schüler. Von einer Einserinflation ist schon seit einigen Jahren die Rede. Fast jeder vierte Abiturient hatte 2017 eine Eins vor dem Komma. Die Lehrer stehen im Spannungsverhältnis zwischen den vielen guten und den vielen schlechten Schülern.

Hinzu kommt, dass viele Bundesländer das Durchfallen in manchen Jahrgangsstufen gar nicht mehr vorsehen. Schulen, die viele Durchfaller haben, bekommen schon mal Post vom Ministerium. Dies führt dazu, dass gerade schlechte Schüler, wie Meidinger sagt, „hochgehievt werden“. Aber: „Milde während der Schule führt zu einer umso größeren Härte am Ende der Schulzeit, eben beim Abitur.“

Inzwischen werden in fast allen Ländern die Abi-Prüfungen zentral gestellt. Sie sind für alle Schulen im Bundesland identisch. Auf große Leistungsunterschiede kann da keine Rücksicht genommen werden. Mancher Schüler, der bisher leidlich durchgekommen oder durchgetragen worden ist, scheitert dann. Und doch könnte die Durchfallerquote noch viel schlimmer aussehen.

Meidinger erklärt dies mit einem Beispiel eines durchschnittlichen bayerischen Gymnasiums. „Von einem Jahrgang mit 100 Schülern bestehen schon mal zehn das Abitur nicht. Am Ende beträgt die Zahl der tatsächlichen Durchfaller aber nur zwei oder drei.“ Es ist überall Usus, dass sich Schüler, die nicht meilenweit von der erforderlichen Punktzahl entfernt sind, mit einer mündlichen Zusatzprüfung retten können. Lehrer neigen in solchen Momenten aus nachvollziehbaren menschlichen Gründen dazu, nicht überstreng zu sein. Das rettet manchen Schüler und beschert ihm die Hochschulreife.

Ob er damit dann glücklich wird, das sei dahingestellt. An den Universitäten zählt Studierfähigkeit. Weil die Unis aber zusehends das Gefühl haben, dass ein bestandenes Abitur keine Garantie mehr für diese Befähigung ist, steigt ihre Neigung, Eingangsprüfungen abzuhalten. Die Tendenz zum Abi nach dem Abi ist unverkennbar vorhanden.

Deshalb beklagen Lehrervertreter die hohe Zahl von Durchfallern gar nicht. „Was ich will, ist, dass gute Leistung gut bewertet wird, sehr gute Leistung sehr gut, aber nicht ausreichende Leistung eben auch nicht ausreichend“, sagt Philologen-Chefin Lin-Klitzing. Sie fürchtet wie auch Meidinger, dass das Abitur an Aussagekraft und Wert verliere.