Wie lange kann man mit morphiumpflaster Leben

Er hat ein seltsam seliges Lächeln in seinem fahlen Gesicht, während er tief schläft. In wachem Zustand hat er zuletzt unerträgliche Schmerzen durchlitten. Er ist alt, 92, und hat schwarzen Hautkrebs mit Metastasen. Die Ärzte der Klinik in Süddeutschland geben ihm nur noch ein paar Tage.

Damit er nicht unerträglich leiden muss, haben sie ihm auf seinen Wunsch hin Benzodiazepine zum Schlafen und zur Bewusstseinsminderung gegeben. Sie haben ihn palliativ sediert, wie sie es nennen. Zusätzlich bekommt er Opioide gegen die Schmerzen. Es ist ein Cocktail, der dem alten Mann die letzten Tage erleichtern soll.

Fälle wie diesen gibt es jeden Tag zu Hunderten auf den Palliativstationen und in den Hospizen. Der Mix aus Benzodiazepinen und schmerzstillenden Opioiden soll schwer kranken Sterbenden das Leiden am Lebensende nehmen und ein sanftes Hinübergleiten in den natürlichen Tod ermöglichen.

Doch mit demselben Cocktail schicken Ärzte in den Niederlanden angeblich Schwerkranke gezielt in den Tod, berichten deutsche Palliativmediziner. Und hierzulande wird gerade wieder über die Sterbehilfe diskutiert. „Wenn der Patient schläft, wird die Dosis an Morphium erhöht, dann hört er auf zu atmen“, sagt Lukas Radbruch, Palliativmediziner der Universität Bonn und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.

Die niederländische Ärztin Bregje Onwuteaka-Philipsen berichtete im Journal „Lancet“, dass die Zahlen für die palliative Sedierung in Holland von zwei in 2005 auf drei Prozent in 2010 angestiegen sind. Ein schnellerer Tod war in knapp der Hälfte der Fälle das Ziel, zeigt eine Ärztebefragung von 2004.

Ein Cocktail, der schweres Leiden vor dem Tod lindern, aber genauso zur aktiven Sterbehilfe, ja sogar zur Tötung genommen werden kann. Wo ist die Trennlinie zwischen Mitmenschlichkeit und Missbrauch? Gibt es sie überhaupt?

Opioide sind die stärksten Schmerzmittel überhaupt. Bei starken Schmerzen etwa infolge von Metastasen in den Knochen sind sie oft die einzigen Arzneien, die noch Linderung verschaffen.

Anstelle von Morphium bevorzugen Ärzte mittlerweile seine chemischen Verwandten wie Buprenorphin, Oxycodon und Fentanyl. Die Wirkung ist ähnlich, sogar noch stärker, und im Unterschied zu Morphium haben sie unter Laien nicht den Ruf von abhängig machenden Drogen. Aggressives Marketing für neue Opiate wie Fenantyl verstärken die Verlagerung zu solch neuen Opioiden noch.

Von 2000 bis 2010 ist die Zahl der Verschreibungen rasant gestiegen – um 37 Prozent. „Und der Trend setzt sich fort“, berichtet Ingrid Schubert, Pharmazeutin an der Universität Köln. Obwohl die Schmerzmittel den Leitlinien zufolge vor allem bei Tumorschmerzen verwendet werden sollen, haben die meisten Patienten andere Schmerzen, etwa ein Rückenleiden, fand Schubert heraus.

Das findet sie bedenklich, weil der Nutzen der Medikamente bei diesen Schmerzarten fraglich ist. Wie häufig Opioide mit einer palliativen Sedierung kombiniert werden? Dazu gibt es keine Daten.

In seiner Klinik seien es vielleicht ein bis zwei Prozent der Patienten auf der Palliativstation, sagt Radbruch. Aber er weiß von Kollegen, bei denen ein Sechstel bis ein Fünftel sediert und mit Opioiden im Blut dem Tod entgegengeht. „Die Holländer legen die Daten auf den Tisch, dafür haben sie meine Hochachtung. Bei uns bevorzugt man die versteckte Praxis“, moniert Michael Zenz.

Der pensionierte Direktor der Klinik für Anästhesiologie, Intensiv-, Schmerz- und Palliativmedizin der Kliniken Bergmannsheil Bochum organisiert bis heute einen der führenden Schmerzkongresse in Deutschland und steht in Kontakt zu vielen aktiven Kollegen.

Einem Gesunden können Opioide schon in geringer Menge gefährlich werden. „Das Atemzentrum wird gelähmt. Die Atmung wird immer langsamer und flacher. Das kann schnell gehen oder sich über mehrere Stunden hinziehen“, sagt die Toxikologin Stefanie Iwersen-Bergmann vom Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.

Sie hat es oft genug erlebt, bei Drogenabhängigen. Bei Patienten mit Schmerzen, Tumorschmerzen im Besonderen, wirkt jedoch das Stresshormon Adrenalin als Gegenspieler des Opioids. Sie vertragen deshalb höhere Dosen.

Doch ab einem bestimmten Limit bekommen auch sie Nebenwirkungen zu spüren und hören schließlich auf zu atmen. „Deshalb muss man die Medikamente schleichend in der Dosis erhöhen, um eine tödliche Überdosis zu vermeiden“, erklärt Iwersen-Bergmann.

Das kritische Limit ist individuell verschieden. Dem einen Patienten helfen zehn Milligramm am Tag, der andere braucht 1000, um seine Schmerzen loszuwerden. Für Ärzte ist die Dosierung schwierig, und die Kontrolle eines potenziellen Missbrauchs ist kaum möglich.

„Kann sein, dass man als Arzt die Dosis schon mal zu hoch einstellt. Aber dann stirbt der Patient nicht gleich. Die Atemzüge pro Minute werden weniger, dann passt man die Therapie an“, sagt Zenz. Ihm sei noch niemand an einer Opioidüberdosis unter palliativer Sedierung gestorben.

Radbruch sieht das anders: „Natürlich kommt es vor, dass ein Patient just nach einer Dosiserhöhung stirbt. Dann fragt man sich: War das jetzt wegen der Dosis? Aber man sagt sich auch, dass er todkrank war.“

In der Literatur gibt es sie, die opioidbedingten Todesfälle infolge einer Überdosis. In den USA lag ihre Zahl im Jahr 2007 mit 12.000 über denen durch illegale Drogen und ist sogar die zweithäufigste Todesursache nach Verkehrsunfällen.

Die Centers for Disease Control and Prevention sprechen gar von einer landesweiten Epidemie. Der Nationale Ethikrat in Deutschland urteilt im Jahr 2006: Bei einer palliativen Sedierung wird „das Risiko in Kauf genommen, dass als mögliche Nebenwirkung der Tod beschleunigt eintritt“.

Die wenigen Studien zur palliativen Sedierung besagen, dass eine fachgerechte palliative Sedierung das Leben eher nicht verkürzt. Insofern ist die leitlinienkonforme Behandlung keine Sterbehilfe, so der Nationale Ethikrat. Sie soll Leiden lindern und nicht den Tod des Patienten herbeiführen.

Allerdings gibt es sterbende Patienten, die so sehr leiden und mit dem Leben so weit abgeschlossen haben, dass sie darum bitten, während des künstlichen Schlafes unter palliativer Sedierung nicht ernährt und mit Flüssigkeit versorgt zu werden. Dann sterben sie innerhalb weniger Tage.

Diese Praxis der passiven Sterbehilfe ist in Deutschland gestattet, da jeder Patient lebensverlängernde Maßnahmen verweigern kann, zumindest solange er einwilligungsfähig ist. Mittels Medikamenten entschlafen diese Patienten dann im wahrsten Wortsinn dem Leben.

„Viele Menschen wollen die palliative Sedierung, weil sie es körperlich einfach nicht mehr aushalten, weil sie existenziell leiden. In den Leitlinien gehen die Meinungen aber auseinander, ob das eine Indikation sein darf“, schildert Radbruch das Dilemma der Ärzte. Nur bei Schmerzen, Luftnot, Verwirrtheit und Übelkeit, die anders nicht behandelt werden können, darf sie eindeutig gegeben werden.

„Die Herausforderung liegt darin: Wer entscheidet, dass ein ‚unerträgliches Leiden‘ vorliegt, und wer leidet wirklich? Der Patient, die Angehörigen, das Behandlungsteam?“, so der Bochumer Medizinethiker Jan Schildmann.

Er sei bei Patienten, die es schlicht nicht mehr aushalten, zurückhaltend, gesteht Radbruch. Andere erfüllen den Wunsch nach passiver Sterbehilfe unumwunden. „Allerdings sollte man den Patienten zunächst nur so sedieren, dass man ihn noch einmal aufwecken kann. Ich habe es immer wieder erlebt, dass einige nach einer ersten erholsamen Schlafepisode plötzlich doch weiterleben wollten“, berichtet Zenz. Radbruch kennt ähnliche Fälle. Die Leitlinien sehen deshalb eine Aufwachphase vor.

Besonders umstritten sind Fälle wie jener einer 55-jährigen Patientin mit dem Nervenleiden amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Es war in Deutschland; 2008 wurde der Fall im Fachjournal „Ethik in der Medizin“ diskutiert.

Angaben zur Klinik gab es nicht. Die Frau lag nicht im Sterben, war aber wegen ihrer zwangsläufig zu einem schweren Tod führenden Krankheit so verzweifelt, dass sie um eine palliative Sedierung bat. Bei der ALS verlieren Nerven und Muskeln die Verbindungen. Die Patienten werden nach und nach gelähmt, bis sie im eigenen Körper gefangen sind und irgendwann die Atmung versagt.

Künstlich ernährt werden wollte die 55-Jährige nicht. Antidepressiva konnten ihre Stimmung auch nicht heben. Sie und ihre Familie hofften auf ihren baldigen Tod. Aber die palliative Sedierung ist ihrem Ursprung nach eine letzte Therapieoption am Lebensende und keine vorzeitige Beendigung des Lebens bei unstillbarem Leid.

Kritiker befürchten, dass solche Fälle das Tor zur versteckten Euthanasie aufstoßen, die verkleidet als legale passive Sterbehilfe daherkommt. Befürworter finden dagegen, das Leid der Patientin und ihre unbehandelbare seelische Not rechtfertigten den Eingriff, auch wenn der natürliche Tod nicht unmittelbar bevorstünde.

Es wurde nie öffentlich gemacht, wie im Fall der ALS-Patientin entschieden wurde. „In der Praxis gehen Ärzte mit solchen Fällen unterschiedlich um“, sagt Schildmann. Das heißt, mal geben sie dem Wunsch auf vorzeitigen Tod nach, mal nicht.

Ob die palliative Sedierung in Deutschland nicht längst dazu missbraucht wird, um auch aktive Sterbehilfe zu leisten, ist unklar. Es wäre hierzulande verboten. „Meine Angst ist, dass auch in Deutschland palliativ sediert wird, ohne dass die Symptome bestehen und dass dann die Opioiddosis hochgedreht wird, wenn der Patient schläft“, sagt Radbruch. Kollegen würden davon berichten.

Ein Arzt habe ihm erzählt, dass er sterbenden Patienten immer eine Pumpe mit den Medikamenten zur palliativen Sedierung anhänge. Werden sie darüber nicht aufgeklärt und nicht künstlich ernährt, wäre das Tötung ohne Verlangen.

Michael Zenz glaubt, dass es in Deutschland mehr Fälle verdeckter Euthanasie über einen Missbrauch der palliativen Sedierung gibt als in Holland. Gegenüber Schildmann gaben sieben von 901 befragten Ärzten in einer anonymen Befragung zu, aktive Sterbehilfe geleistet zu haben. Zwei gestanden eine Tötung ohne Verlangen.

Um die unscharfe Trennlinie zwischen Missbrauch und dem Wunsch nach einem sanften Tod klarer zu ziehen, schlagen Radbruch und Zenz ein Mehraugenprinzip vor. Nicht ein Arzt allein dürfe über die Behandlung am Lebensende entscheiden. Zenz rät zu einem Team aus einem Seelsorger, Psychologen und Neurologen sowie einem Palliativmediziner.

Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin wünscht sich einen Palliativbeauftragten an jeder Klinik. Auch die Fortbildung der Ärzte müsse verbessert werden. Viele Hochschulabsolventen haben sich nie damit beschäftigt, wie sie mit dem Sterbewunsch eines Patienten umgehen, bis sie damit in der Praxis konfrontiert werden.

Der Mann mit dem Hautkrebs ist schon nach zwei Tagen verstorben. Die Angehörigen sind froh, dass er nicht lange leiden musste. So viele wünschen sich den Tod schnell, sanft und schmerzlos.