Wie lange ist erdogan noch an der macht

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Das neue Jahr begann für Türk*innen mit exorbitanten Preissteigerungen: Elektrik kostet nun bis zu 125 Prozent mehr, Bustickets wurden um 30 Prozent erhöht. Milchprodukte kosten heute im Schnitt doppelt so viel wie vor einem Jahr, ebenso Benzin. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Schon im Jahr 2021 lag die offizielle Inflation bei über 36 Prozent, unabhängige Wirtschaftsexperten schätzen diesen Wert aber deutlich höher ein. Diese Sicht teilen die meisten Verbraucher*innen im Land. Doch selbst die offiziellen Zahlen hält Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan für zu hoch – laut Medienberichten übt er derzeit Druck auf das türkische Statistikinstitut aus, möglichst niedrige Zahlen zu veröffentlichen. Auch wenn Erdogan mit viel politischem Druck einige Zahlen schönigen kann: Die Realität ist offensichtlich.

Türkei: Arbeit schützt nicht vor Armut

Besonders junge Menschen, die weder Erspartes noch ein Eigenheim besitzen, gehen durch harte Zeiten. Der 23-jährige Istanbuler Soziologiestudent Ferhat etwa weiß kaum noch, wie er über die Runden kommen soll: „Ich gehöre zu den Glücklichen, ich habe zumindest ein billiges Studentenwohnheimzimmer ergattert, aber mein Studentenkredit reichte in diesem Monat nicht mehr für das Essen in der Kantine“, sagt er. Bücher könne er schon lange keine mehr kaufen. Viele seiner Kommilitonen hätten das Studium an den Nagel gehängt, um arbeiten zu gehen.

Doch selbst arbeiten zu gehen schützt in der Türkei nicht mehr vor Armut. Zwar ließ Erdogan den gesetzlichen Mindestlohn zum Jahreswechsel kräftig anheben, doch angesichts der enormen Inflation schmilzt auch dieses Geld dahin. Zwar stoppte Erdogan den Werteverfall der Türkischen Lira Ende Dezember kurzfristig mit einem neuen Wirtschaftspaket, das etwa den Werteverfall langfristiger Geldanlagen verhindern soll. Weiterhin aber steht die Lira auf einem extrem niedrigen Niveau. Und viele Türk*innen begreifen: Sie stehen erst am Anfang einer riesigen Inflationswelle.

Regierungspartei AKP verliert Vertrauen

Das schlägt sich auch in aktuellen Umfragen nieder: 76 Prozent der Türken geben in aktuellen Umfragen an, ihr Vertrauen in die Wirtschaftspolitik der Regierung habe abgenommen. Erdogans Partei AKP kommt in Umfragen nur noch auf 30 bis 32 Prozent der Wählerstimmen. Bei den letzten Wahlen 2018 lag dieser Wert noch bei 42,6 Prozent. Besonders in Erdogans religiös-konservativer Kernwählerschicht hat die Zustimmung zu seiner Partei im letzten Jahr enorm abgenommen, so das Meinungsforschungsinstitut Metropoll.

Die nächsten Wahlen sind für das Jahr 2023 angesetzt, doch viele im Land fragen sich derzeit, ob die Regierung sich bis dahin noch im Sattel halten kann. Gleichzeitig fürchten viele Oppositionelle, dass das Erdogan-Regime bis dahin zu unlauteren Mitteln greift, um an der Macht zu bleiben. Noch frisch sind die Erinnerungen an die Wahlen im Juni 2015, als Erdogans Partei zum ersten Mal die alleinige Regierungsmehrheit verlor. In den Monaten darauf kündigte die Regierung ihren Friedensprozess mit der PKK. Es kam zu heftigen Gefechten zwischen kurdischen Milizen und türkischen Sicherheitskräften. In diesem Klima der Angst ließ Erdogan die Wahlen im November 2015 wiederholen und siegte haushoch.

Ankara kann jeden zum Feind erklären

Ruhe kehrte trotzdem keine ein. Nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 ließ Erdogan den Ausnahmezustand ausrufen. Das Referendum zur Einführung seines autoritären Präsidialsystems und die Wahlen 2018 waren von großen Repressalien begleitet. Ganz abgesehen davon, dass IS und PKK vor den Wahlen mit Bombenanschlägen im ganzen Land für Trauer, Angst und Schrecken sorgten. Viele Türk*innen verlangten damals nach einer starken Führung – und Erdogan gewann erneut.

Heute kann in der Türkei jeder von der Regierung zum Feind erklärt werden. In den letzten zwei Jahren gerieten etwa die Ärztekammer, LGBTQ-Menschen und zuletzt sogar die mächtige Vereinigung türkischer Industrieller und Geschäftsleute TÜSIAT ins Fadenkreuz. Manchmal reicht ein Hauch von Kritik oder ein diverser Lebensstil.

Kampagne der Islamisten gegen Pop-Sängerin

Das nimmt zuweilen absurde Züge an. In dieser Woche etwa erstatteten konservativ-religiöse Bürger Anzeige gegen die bekannte türkische Pop-Sängerin Sezen Aksu, mit über 40 Millionen verkauften Alben die erfolgreichste türkische Musikerin aller Zeiten. Sie warfen ihr vor, in dem zuerst 2017 veröffentlichten Diskohit „Sahane bir sey yasamak“ religiöse Werte beleidigt zu haben. Sie erzürnten sich über die Zeile „Grüßt mir die Ignoranten, Adam und Eva“ – weil Adam im Islam als Prophet gilt.

Sogar die oberste Religionsbehörde DIYANET meldete sich zu Wort und forderte, im Umgang mit dem Islam höchste Vorsicht walten zu lassen. Erdogans Bündnispartner und Chef der ultrarechten MHP Devlet Bahceli erklärte Aksu für verantwortungslos.

Doch diese Kampagne ging nach hinten los: Unter dem Hashtag „Sezen Aksu ist nicht allein“ solidarisierten sich die bekanntesten Stars der Türkei und zehntausende von Fans mit der Sängerin auf Twitter. Der oppositionelle Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu sah die Kampagne als ein Mittel „Künstler zum Schweigen zu bringen“.

Bürgermeister als Erdogan-Rivalen

Imamoglu von der säkular ausgerichteten CHP wird derzeit als möglicher Kandidat der Opposition für die Präsidentschaftswahlen 2023 gehandelt. Allerdings bleibt er in Istanbul hinter den Erwartungen seiner Wähler und Wählerinnen zurück – seine großen Versprechungen auf eine lebenswertere Metropole konnte er bisher nur minimal einlösen, zu nationalen Themen äußert er sich kaum noch. Als anderer Kandidat wird Masur Yavas gehandelt, Bürgermeister von Ankara und ebenfalls von der CHP. Er gilt als fleißig und genießt große Beliebtheit. Allerdings ist er als bekennender Nationalist und ehemaliges Mitglied der ultrarechten MHP für kurdische Bürger*innen kaum wählbar.

Bleibt CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu, Lieblingszielscheibe von Präsident Erdogan. Seine Beliebtheit hielt sich jahrelang in Grenzen, trägt er durch seine zaudernde Haltung doch eine gewisse Mitschuld am Demokratieverfall im Land. In den letzten Monaten fand er hingegen immer klarere Worte gegen den Kurs der Regierung, parallel stiegen auch seine Zustimmungswerte. Was ihm nun noch fehlt ist ein klarer Fahrplan aus der Krise. Er muss die Wähler*innen überzeugen, wie sich das Land erholen würde, wenn er und sein Team an der Macht wären. Denn ein Stimmenverlust Erdogans bedeutet noch lange keinen Sieg der Opposition.

Recep Tayyip Erdogan

Deutet sich ein Machtwechsel in der Türkei an?

(Foto: Getty Images (2), Bloomberg)

Istanbul Ewiger Alleinherrscher Erdogan? Nicht, wenn es nach Kemal Kilicdaroglu geht. Knapp zwei Jahre vor den nächsten Wahlen macht der 72-jährige Oppositionsführer Stimmung gegen den türkischen Präsidenten. Er beschimpft Recep Tayyip Erdogan als Diktator und greift ihn an, wo es nur geht.

Etwa nach dem jüngsten Absturz der türkischen Lira: „Das völlig inkompetente Wirtschaftsmanagement Erdogans, fernab ökonomischer Grundlagen, stürzt das Land ins Chaos.“ In einem Fernsehinterview sagte Kilicdaroglu, der seinen Widersacher grundsätzlich nur mit dem Nachnamen anspricht: „Erdogan ist zum Problem für die Nationale Sicherheit geworden.“ Auf Twitter schimpft er: „Jetzt reicht es, Erdogan!“

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Erstellt: 28.05.2021, 15:34 Uhr

Von: Christian Stör

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Wie lange ist erdogan noch an der macht

Recep Tayyip Erdogan will der Türkei eine neue Verfassung geben. © Xinhua/imago-images

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan macht Tempo bei seinen Plänen für eine neue Verfassung.

Ankara – Recep Tayyip Erdogan sieht sich selbst gerne als Heilsbringer. Wie der Präsident der Türkei jetzt wieder erklärte, sei das Ziel der regierenden Partei AKP, Freiheit und Demokratie im Land zu stärken. Für den Vorsitzenden der 2001 gegründeten Partei, die seit 2002 an der Macht ist, ist diese Aufgabe aber noch lange nicht beendet. Vielmehr steht nun der nächste große Schritt auf dem Weg in die Zukunft an.

Schon im Februar kündigte Erdogan eine neue Verfassung für die Türkei an. Zwar beschrieb der türkische Präsident das derzeitige Präsidialsystem bei einem Treffen der AKP am Donnerstag (27.05.2021) als ein gutes Instrument, betonte aber gleichzeitig, dass die Zeit für eine neue Verfassung reif sei. Erdogan sprach sogar davon, dass eine neue Zivilcharta die Türkei auf das höchste demokratische Niveau der Welt bringen werde.

Neue Verfassung in der Türkei: Bleibt Erdogan länger im Amt?

Die Opposition sieht das naturgemäß etwas anders. Tatsächlich wird gemutmaßt, dass Erdogan ähnlich wie Wladimir Putin versuchen könnte, auf diesem Wege quasi auf Lebenszeit im Amt zu bleiben. Dies ist nach der geltenden Verfassung nicht möglich. Im Falle einer Wiederwahl könnte er höchstens bis 2028 als Präsident regieren.

Türkei soll neue Verfassung bekommen: Erdogan attackiert Opposition

Erdogan attackierte in einer Rede denn auch gleich die Republikanische Volkspartei (CHP) und warf ihr vor, undemokratische Absichten zu unterstützen. Dabei ist Erdogan im Grunde auf einen Konsens angewiesen, denn die Volksallianz aus AKP und der ultrarechten MHP verfügt im Parlament nicht über die Mehrheit, die notwendig ist, um eine Verfassungsänderung auch per Referendum vorzunehmen. AKP und MHP benötigen die Unterstützung von mindestens 24 Parlamentariern anderer politischer Parteien, um die erforderlichen 360 Stimmen zu erreichen.

TitelTürkiye Cumhuriyeti Anayasasi
KurztitelAnayasa
ArtVerfassung
GeltungsbereichRepublik Türkei
Verabschiedungsdatum7. November 1982

Schon 2017 änderte Erdogan die Verfassung der Türkei

Erdogan machte aber klar, dass sich die Volksallianz davon auf ihrem Weg nicht abhalten lassen werde. „Wir sind entschlossen, unseren eigenen [Verfassungs-]Entwurf dem Volk vorzulegen, sollte kein Kompromiss mit anderen Parteien erzielt werden“, sagte der Präsident, der auch darauf hinwies, dass die Volksallianz kurz vor dem Abschluss der Arbeit stehe. In früheren Erklärungen hatte Erdogan das erste Quartal 2022 als Termin für die Fertigstellung der neuen Verfassung genannt.

Die bisherige Verfassung war 1982 nach einem Militärputsch eingeführt worden. Erdogan hatte die Verfassung bereits 2017 ändern lassen und die Türkei zu einem präsidialen Regierungssystem umgebaut, was die Befugnisse des Staatschefs stark ausweitete. (Christian Stör)