Was wird mit deutschland geschehen in der neuen weltordnung

Zum ersten Mal musste sich Kanzler Scholz einer Generaldebatte stellen. Oppositionsführer Merz kam zu einem Punktsieg – und in den Regierungsparteien zeigten sich zwei programmatische Bruchstellen.

Alexander Kissler, Berlin 23.03.2022, 16.02 Uhr

Wer klare Antworten erwartet, ist bei deutschen Kanzlern oft an der falschen Adresse. Helmut Kohls verbale Unerschütterlichkeit trug ihm den Beinamen «Buddha» ein. Angela Merkel perfektionierte das wortreiche Schweigen als «Sphinx aus der Uckermark». Olaf Scholz scheint in dieser Disziplin seiner Vorgängerin nacheifern zu wollen. Zumindest gelang es ihm in der ersten Generaldebatte seiner Kanzlerschaft, keine einzige Frage des Oppositionsführers zu beantworten. Klarheit stellte er jedoch in drei Punkten her: Die Bundesregierung lehnt eine Flugverbotszone über der Ukraine ebenso ab wie einen Importstopp für russisches Gas, und Olaf Scholz persönlich wünscht sich eine «Impfnachweispflicht» im Kampf gegen Covid-19.

Die Union nennt hohe Hürden

Merz wollte wissen, ob die von der «Ampel» angekündigte Erhöhung des Wehretats auf zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts dauerhaft sein werde, auch jenseits des ebenfalls angekündigten «Sondervermögens Bundeswehr» in Höhe von 100 Milliarden Euro. Ob das Sondervermögen komplett der Bundeswehr und nicht «feministischer Aussenpolitik» zukomme. Welche Waffen Deutschland der Ukraine geliefert habe. Wie sich die Bundesregierung gegenüber dem Nato-Partner Türkei positioniere, der die Sanktionen gegen Russland nicht mittrage. Und wann Scholz beginne, «sichtbar und hörbar» durch die von ihm diagnostizierte Zeitenwende zu führen.

Die «Ampel» ist auf Stimmen aus der Union angewiesen, um jene Grundgesetzänderung durchzusetzen, mit der die Schuldengrenze der Verfassung mit dem Sondervermögen in Einklang gebracht werden kann. Merz stellte eine Unterstützung seiner Fraktion unter zwei Bedingungen in Aussicht: Die Mittelverwendung sei präzise vorab festzuschreiben – und die Abgeordneten der Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP müssten komplett für das Sondervermögen votieren.

Die Union, heisst das, sorgt nur in diesem Fall für die fehlenden Stimmen zur Zweidrittelmehrheit. Ebenso fraglich freilich wie die Geschlossenheit der «Ampel» ist die Bindekraft dieser Aussage angesichts des freien Mandats aller Abgeordneten.

Wo die Zweidrittelmehrheit steht

Scholz erkannte den doppelten Fallstrick und liess sich lediglich die Aussage entlocken, über die Ausgestaltung des Sondervermögens «werden wir weiterhin miteinander reden, im Sinne der Sache, im Sinne der Sicherheit unseres Landes und der Bürgerinnen und Bürger». Es sei «völlig in Ordnung», dass Merz hierzu seine Vorstellungen formuliere, denn es solle ja «eine gemeinsame Sache werden, die wir für unser Land tun».

Gegenwärtig ächzt das Land unter steigenden Energiepreisen. Scholz lobte den Heizkostenzuschuss, den die Regierung bereits beschlossen hatte, und stellte weitere Entlastungen in Aussicht. Dass er auch hier unpräzise blieb, entlockte dem Linken-Politiker Dietmar Bartsch das giftige Bonmot, viele Bürger stünden vor der Alternative Heizen oder Einkaufen.

Längst über eine Zweidrittelmehrheit verfügt der aussenpolitische Kurs des Kanzlers, die Ukraine mit Geld und Waffen zu unterstützen, aber nicht unmittelbar Kriegspartei zu werden. Aus der Union regte sich kein Widerspruch, als Scholz davor warnte, die wirtschaftliche Substanz Deutschlands aufs Spiel zu setzen. Lediglich AfD und Linkspartei lehnen Waffenlieferungen in die Ukraine explizit ab.

Baerbock verteidigt die feministische Aussenpolitik

Alexander Gauland, mittlerweile Ehrenvorsitzender seiner Partei, wünscht sich von Deutschland die Rolle eines «ehrlichen Maklers für eine neutrale Ukraine». Eine europäische Friedensordnung sei nur mit Russland möglich. Tino Chrupalla, Gaulands Nachfolger an der Fraktionsspitze, kritisierte in einer von den Parteifreunden schwach beklatschten Rede, der Kanzler habe kein Wort zu Ostdeutschland verloren. Dringender noch als eine «unreflektierte Summe» von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr brauche es mehr «Vaterlandsliebe».

Rund vier Stunden nach seiner Rede erhielt Friedrich Merz doch noch eine Antwort. Die Aussenministerin verteidigte die «feministische Sichtweise» als integralen Bestandteil einer Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts. Zugleich sei Deutschland «einer der grössten Waffenlieferer in dieser Situation». Da habe, fuhr Annalena Baerbock fort, auch ihre eigene Partei einen Lernprozess hinter sich.

Durch diese Aussage wurde die erste von zwei Bruchstellen in der «Ampel» deutlich. Die Grünen sehen sich der Grünen Jugend als einer innerparteilichen Opposition gegenüber, die jeglichen Waffenexport und alle «Aufrüstung» ablehnt. Kaum vorstellbar, dass die Abgeordneten der Nachwuchsorganisation unisono das Sondervermögen gutheissen werden.

Was macht die pazifistische Linke der SPD?

Bei der SPD wiederum versammelt sich hinter dem Fraktionschef Rolf Mützenich eine pazifistische Linke, die allenfalls mit Bauchschmerzen vom Militär redet und lieber, wie nun geschehen, Appelle gegen «Hochrüstung» unterzeichnet. Auch zu diesen eigenen Reihen sprach Mützenich, als er vor einem «weltweiten militärischen Engagement unserer Streitkräfte» warnte und die Karte einer neuen «Weltordnung im Entstehen» hochhielt, die «nicht schwarz, nicht weiss» sei. China, Russland, Indien, Pakistan und Teile Afrikas waren rot eingefärbt.

Die Hälfte der Menschheit, erklärte Mützenich, lebe in Staaten, die Russlands Invasion nicht verurteilt hätten. Exakt diesen Hinweis formulierte auch Wladimir Putin in seiner Rede am 16. März und setzte hinzu, es handele sich um «Staaten, die den am schnellsten wachsenden und vielversprechendsten Teil der Weltwirtschaft darstellen». Welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, wird massgeblich darüber entscheiden, mit welchen Blessuren Deutschland aus der Zeitenwende hervorgeht.

Wladimir Putin bringt Krieg und nackte Macht zurück nach Europa. Der weitere Verlauf des Konflikts hängt vom Widerstand der Ukrainer ab – und dem Willen des Westens, einen Preis zu bezahlen

Was wird mit deutschland geschehen in der neuen weltordnung

Foto: AP / Alexei Nikolsky

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16 Jahre lang hat es sich Deutschland geleistet, sich keinen Nationalen Sicherheitsrat zu leisten. Häufig hieß es aus Berlin, Ressorthoheiten und Koalitionszwänge ließen dies nicht zu. Vielleicht aber war die Antwort immer schon viel einfacher: Das Land denkt nicht strategisch und will es auch nicht.

Deshalb ist es gut, dass die Idee eines solchen Rates von Spitzenpolitikern der nächsten Legislaturperiode nunmehr ernsthafter diskutiert wird. Armin Laschet, Kanzlerkandidat der CDU/CSU, hat dies mit einer Rede jüngst unterstrichen. Dabei macht der Abzug deutscher Truppen aus Afghanistan seine Forderung, Deutschland müsse „strategiefähig werden”, umso dringlicher.

Der politische Wille allein aber wird nicht genügen, um einen machtvollen Nationalen Sicherheitsrat zu schaffen. Die Malaise der „Review 2014”, als der Enthusiasmus nach der Münchner Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Gauck in bedeutungslosen Rochaden ministerieller Abteilungsnamen (und aufgrund von Merkels Unwillen, auf Gaucks Vorschläge für die deutsche Außenpolitik einzugehen) zerrieben wurde, sollte abschreckend genug sein.

Realpolitische Grundannahmen

Institutionen wie der geplante neue Rat müssen deshalb, sofern sie nicht blutleer und damit zahnlos bleiben wollen, ein dezidiertes Verständnis der Materie Sicherheit widerspiegeln; mithin auf realpolitischen Grundannahmen beruhen, über die sich Deutschland allerdings in den letzten anderthalb Dekaden zu wenig Gedanken gemacht hat. Der jüngste Anstoß hierzu, die Erkenntnisse des auch unter der Ägide eines ehemaligen Chefs des Bundeskanzleramts verfassten Berichts der „Nato Reflection Group” zu diskutieren, wird seit Dezember 2020 mit preußischer Disziplin flächendeckend ignoriert.

Wenn nun der Nationale Sicherheitsrat tatsächlich strategiefähig werden soll, muss er vier Aspekte verinnerlichen. Erstens ist internationale Politik, strategisch betrachtet, ein unnachgiebiger Kampf um Machtverteilung. Ein Kampf, der zwischen nicht-verbündeten Staaten mit allen Mitteln geführt wird. Seit jeher geht es deshalb um die Verteidigung von Macht und das nicht immer friedliche Erstreiten von mehr Macht. Thukydides hat es in seinem Peloponnesischen Krieg klassisch so ausgedrückt: „Wir [die Athener] glauben nämlich, dass der Mensch überall dort, wo er die Macht hat, herrscht. Wir befolgen dieses ewige Gesetz in dem Bewusstsein, dass andere, die dieselbe Macht wie wir errungen haben, nach demselben Grundsatz verfahren würden.” 

Will der Rat deshalb die Sonntagsreden der vergangenen Jahre zum Umbruch der Weltordnung hinter sich lassen, muss er diesen Umbruch strategisch verstehen: als einen Kampf um den spezifischen machtpolitischen und Wertecharakter der zukünftigen Weltordnung. Und als einen Kampf, den der Westen verlieren kann. Der bis heute in Berlin gängige Begriff der „vernetzten Sicherheit“ nimmt sich demgegenüber schal aus.

Deutschlands Interessen definieren

Zweitens muss sich Deutschland endlich klar darüber werden, wofür es mit seiner Macht einstehen und wofür es deshalb seine Macht in diesem Kampf einsetzen will. Fernab der offiziellen multilateralen Weißbücher sollte Berlin den Glauben aufgeben, seine nationalen Interessen dekretieren und die Bundeswehr diese „garantieren“ lassen zu können. Dazu ist das Land gar nicht in der Lage. Heute geht es vielmehr darum, die strategische Bewertung der Weltlage durch Amerika, vor allem mit Blick auf China, zu akzeptieren. Präsident Biden wird – in letzter Konsequenz – die vitale Sicherheitsgarantie Amerikas für Deutschland davon abhängig machen.

Wenn Berlin diesen Schritt macht, wird es im nächsten Schritt den instrumentellen Charakter von Strategiebildung verstehen müssen: Technologie, Wirtschaft, Militär, Kultur – alle dienen der Herausbildung der eigenen nationalen Stärke im Kampf des Westens um den Erhalt seiner Oberhand in der internationalen Machtordnung. „Grand Strategy“ heißt deshalb auch, Weltpolitik nicht, wie bisher, durch die Brille des Marktes zu betreiben, sondern ökonomische Macht nicht zum Vorteil möglicher Kriegsgegner (Amerikas) gereichen zu lassen. Die Abhängigkeit wichtiger Teile der deutschen Wirtschaft vom chinesischen Markt ist deshalb strategisch falsch.

Einfallstor für Propaganda

Drittens sollten die Strategien des Sicherheitsrats auf einem politisch neuen Vergangenheitsverständnis aufbauen. Während der Zweite Weltkrieg in Erinnerung gehalten werden muss, darf dies nicht mehr die Erkenntnis trüben, dass es heute neue Mächte gibt (und morgen geben wird), die ein nicht zu unterschätzender Revanchismus antreibt. Keinen Zweifel daran zu hegen, „dass alle Politik einen rationalen Kern habe und einem berechenbaren Interesse folge”, ist dabei immer schon eine gefährliche, liberale Selbsttäuschung gewesen (J. Fest). Staaten wie Russland tun deshalb geschickt alles, um die historische Schuld Deutschlands für gegenwärtige Zwecke ihrer Politik zu instrumentalisieren. Dieses Einfallstor für Propaganda muss geschlossen werden.

Und schließlich muss der Nationale Sicherheitsrat seine Kommunikation – eine große Schwäche der gegenwärtigen Kanzlerin – in dreifacher Hinsicht offensiv strategisch einsetzen. Der Rat muss die Bundesregierung in die Lage versetzen, der Bevölkerung die im Umbruch befindliche Weltordnung realistisch darzustellen. Kurzum: Er muss sagen, was heute eigentlich für die wohlstandsverwöhnten Deutschen auf dem Spiel steht.

Deshalb muss er überdies kraftvolle Narrative entwickeln, die gegenüber autoritären Subversionsanstrengungen Selbstbewusstsein ausstrahlen. Und zuletzt gilt es, die von Russland, China und anderen via soziale Medien organisiert gestreuten „fake news“ systematisch öffentlich zu entlarven.

Ob die Beschäftigung mit diesen Punkten gelingt, ist aufgrund der Dürre strategischen Denkens in Deutschland keineswegs ausgemacht. Nicht zuletzt wird der Nationale Sicherheitsrat nur Einfluss gewinnen, wenn seine Empfehlungen strategischen Widerhall im Weltbild des nächsten Kanzlers finden.