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Artikel Kopfzeile: Artikel Abschnitt: Darum geht’s:
Er ist Frankreichs bekanntester Wachkoma-Patient. Mehr als zehn Jahre bewegt sein Fall die Menschen. Als Vincent Lambert 2008 nach einem Motorradunfall ins Koma fällt, beginnen seine Eltern einen Kampf um sein Leben. Und seine Frau tut alles dafür, dass Vincent sterben darf. Etliche Gerichte Frankreichs beschäftigen sich mit seinem Fall. Ebenso der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Schließlich entscheidet der Kassationshof, die oberste französische Instanz: Die Ärzte dürfen die künstliche Ernährung beenden. Vincent Lambert stirbt am 11. Juli 2019. Doch der Streit geht weiter. Die Eltern verklagen die Ärzte Lamberts. Sie werfen ihnen vor, ihren Sohn ermordet zu haben. Das Problem: Keiner weiß genau, was Vincent Lambert wollte. Es gibt von ihm keine Patientenverfügung. Das gleiche Problem bei einem Fall aus Deutschland: Ein 82-jähriger Mann leidet an fortgeschrittener Demenz, kann sich weder bewegen noch mitteilen und hat immer wieder Lungen- und Blasenentzündungen. Er wird auf Initiative des Hausarztes durch eine Magensonde ernährt und so künstlich am Leben erhalten – gegen den Willen seines Sohnes. Nach dem Tod des Mannes im Jahr 2011 verklagt der Sohn den Arzt auf Schmerzensgeld und Schadenersatz. Doch der Bundesgerichtshof gibt dem Hausarzt Recht: „Der Patient hatte keine Patientenverfügung errichtet. Sein Wille hinsichtlich des Einsatzes lebenserhaltender Maßnahmen ließ sich auch nicht anderweitig feststellen.“ Seit 2009 gilt das PatientenverfügungsgesetzDiese Fälle zeigen eindrücklich, welche Konflikte am Lebensende ohne Patientenverfügung entstehen können. Der Vater des Klägers hätte vor seiner Erkrankung in einer Verfügung bestimmen können, ob er in einer solchen Situation künstlich ernährt werden möchte oder nicht. Denn die Funktion einer Patientenverfügung ist genau die: Man legt fest, ob man in bestimmte „Untersuchungen seines Gesundheitszustandes, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt“ – und zwar im Vorhinein. So steht es im „Patientenverfügungsgesetz“ (BGB § 1901a). Keine medizinische Maßnahme ohne Einwilligung des PatientenEs stammt aus dem Jahr 2009 und ist das Ergebnis einer jahrelangen Debatte im Bundestag. Im Zentrum steht die Idee der Patientenautonomie. Nur der Patientenwille ist bei der Entscheidung maßgeblich, ob medizinisch indizierte, also aus ärztlicher Sicht erforderliche Diagnosen, Operationen oder Therapien vorgenommen werden sollen. Dies gilt seit 2009 auch für die Situation der Einwilligungs- oder Entscheidungsunfähigkeit. Das heißt: keine Maßnahme ohne vorherige Einwilligung des Patienten. Selbst wenn sie aus ärztlicher oder pflegerischer Sicht notwendig, ja sogar lebensnotwendig ist. Doch wenn der Patient wie in den oben beschriebenen Fällen seinen Willen zuvor nicht dokumentiert hat und plötzlich einwilligungs- und entscheidungsunfähig ist, müssen andere versuchen, seinen „mutmaßlichen“ Willen zu ergründen. Für die Angehörigen kann das zu einer extremen Belastung werden. Gerade wenn Ärzte dann ihrem Therapieprogramm folgen wollen. Artikel Abschnitt: Darum sollten wir drüber sprechen:
Selbst wenn eine Patientenverfügung vorliegt, spielt sie in der Praxis, also in Entscheidungssituationen im Krankenhaus, in der Pflegeeinrichtung oder auf der Intensivstation, nur eine untergeordnete Rolle. Ein häufiger Grund: Die Patientenverfügung ist unbrauchbar. 44 Prozent der Verfügungen sind im Schnitt unvollständig ausgefüllt und deshalb nur schwer oder gar nicht interpretierbar. Solche Verfügungen sind in intensivmedizinischen Akutsituationen keine geeigneten Entscheidungshilfen. Häufige Fehler in der PatientenverfügungIn vielen Verfügungen finden sich Formulierungen wie: „Wenn ich mich in einer aussichtslosen gesundheitlichen Krise befinde, wünsche ich keine lebensverlängernden Maßnahmen.“ Oder: „Wenn ein Therapieerfolg nicht mehr zu erwarten ist, möchte ich, dass ein würdevolles Sterben zugelassen wird.“ Wenn solche Verfügungen nicht konkretisiert werden, sind sie wirkungslos. Das hat der Bundesgerichtshof (BGH) in mehreren Urteilen festgestellt, die das „Patientenverfügungsgesetz“ auslegen. Diese Formulierungen sind auch deshalb wenig hilfreich, da sie die Verfügung auf eine Situation beziehen, in der ein verantwortungsvoll handelnder Arzt eigentlich keine Handlungs- oder Entscheidungsalternativen hat. Weil er dann ohnehin nichts mehr zur Lebensverlängerung unternehmen darf. Auch wenn in der Praxis leider immer wieder „aussichtslose Fälle“ weiterbehandelt werden. Denn Patientenverfügungen gelten grundsätzlich in jeder Lebensphase und in jedem Krankheitsstadium – nicht nur bei irreversibel tödlichem Verlauf, nicht nur in der Sterbephase. So konkret wie möglichDamit eine Patientenverfügung Wirksamkeit erlangen kann, ist es wichtig, dass sie zwei Merkmale aufweist:
Es kommt regelmäßig vor, dass Patientenverfügungen missachtet werdenEine vollständig ausgefüllte Patientenverfügung ist jedoch leider kein Garant dafür, dass sie auch handlungsweisend wird. Pflegeunternehmen sind immer wieder bereit, gegen Patientenverfügungen zu verstoßen, wie aus einer bundesweiten Umfrage des Palliativmediziners Matthias Thöns hervorgeht. Von 155 Pflegediensten, die auf seine schriftliche Anfrage geantwortet hatten, erklärten sich 140 bereit, einen unheilbar kranken Patienten gegen den in seiner Patientenverfügung dokumentierten Willen mit künstlicher Beatmung am Leben zu erhalten. „Das spricht sehr für die Vermutung, dass weder Patientenwille noch Patientenwohl bei der Fortsetzung der Beatmung ausschlaggebend waren“, kommentiert Matthias Thöns. Es seien nicht zuletzt wirtschaftliche Fehlanreize, die zu solchen „Angeboten“ führten. Die außerklinische Intensivpflege in Heimen, Beatmungs-WGs (mehrere Patienten wohnen zusammen in einer Wohnung und werden dort dauerhaft beatmet) und zu Hause gilt als größter Wachstumsmarkt im Gesundheitswesen. Im Jahr 2003 wurden 500 Patienten, im Jahr 2015 schon 15.000 Patienten invasiv beatmet, bei jährlichen Kosten von 250.000 bis 360.000 Euro pro Patient. Weitere Angaben zum Artikel:
Wer zum Beispiel festlegen möchte, dass er bei einer fortgeschrittenen Demenz nicht künstlich ernährt werden möchte, könnte das so formulieren: Artikel Abschnitt: Aber:
Eine besondere Schwierigkeit liegt darin, festzulegen, was der eigene Wille in einer Behandlungssituation ist, die irgendwann in der Zukunft liegt und deren genauen Umstände man noch nicht kennt. Argumente gegen eine PatientenverfügungDer Psychologe Niels Birbaumer, ein Gegner der Patientenverfügung, sagte kürzlich: „Wie kann sich ein gesunder 50-Jähriger vorstellen, wie das Leben mit Locked-in oder Alzheimer ist? Vielleicht fühlt er sich dann noch wohl, kann das Formular aber nicht mehr ändern. 90 Prozent der Menschen mit der Diagnose Amyothrophe Lateralsklerose, die zum Locked-in führt, entscheiden sich für das selbstbestimmte Sterben. Dabei wissen wir, dass nach den wirklich schrecklichen Monaten, in denen sich die Krankheit stetig verschlimmert und an deren Ende die Lähmung liegt, eine Besserung des Gemüts eintritt. Das Gehirn stellt sich auf die neuen Umstände ein. Darauf zu warten, bitten wir unsere Patienten.“ „Keine juristisch bindende Handlungsanleitung“Und Antje Vollmer, Mitglied der Grünen und seinerzeit Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, meinte im Rahmen der Debatte zum „Patientenverfügungsgesetz“: „Eine Patientenverfügung kann Aufschluss über den irgendwann einmal in Zeiten seelischer Verlassenheit gefassten Willen eines Menschen geben. Sie kann aber keine juristisch bindende Handlungsanleitung für Mediziner oder Pflegepersonal sein. Das eigene Sterben und der Weg dorthin sind von niemandem von uns im Voraus zu berechnen.“ Artikel Abschnitt: Und jetzt?
Die Wirksamkeit einer Patientenverfügung kann unter günstigen Umständen beträchtlich sein. Aber das ist vielen nicht klar. Deshalb erstellen sie vielleicht erst gar keine. Oder wenn sie eine erstellen, ist das Ergebnis häufig unbrauchbar. Wichtig ist es, sich zum einen nicht nur auf Entscheidungen am Lebensende zu konzentrieren und zum anderen den Patientenwillen so konkret wie möglich zu formulieren. Wichtige Ergänzung: Die VorsorgevollmachtDamit der Wille des Patienten für den Fall seiner Entscheidungsunfähigkeit wirksam werden kann, ist zusätzlich zur Patientenverfügung eine Vorsorgevollmacht sehr zu empfehlen. Was heute noch fehlt: Kompetente Beratungsangebote für diejenigen, die eine Patientenverfügung formulieren wollen. Solche Angebote könnten aber helfen, die Hemmschwelle zu senken und sich dem Thema zu widmen. Ein Konzept aus den USAEine weitere Lösung: das Konzept „Behandlung im Voraus planen“ (BVP). Es geht davon aus, dass der Wille eines Patienten durch Lebenserfahrung reifen und in Meinungsbildungsprozessen wachsen und sich verändern kann. Eigentlich ist BVP eine um einen Gesprächs- und Beratungsprozess erweiterte Patientenverfügung. Die Vorteile des Konzepts:
2015 hat der Gesetzgeber die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Kosten für BVP für Menschen in stationären Pflegeeinrichtungen über die gesetzliche Krankenkasse abgerechnet werden können. Das sind vor allem die Kosten für die qualifizierte Gesprächsbegleitung. Es fehlen allerdings noch Vergütungsvereinbarungen auf Landesebene. Deshalb kann BVP noch nicht flächendeckend angeboten werden. Es gibt aber erste positive Erfahrungen damit in Deutschland. Jetzt hoffen die Initiatoren, dass sie bald bundesweit zeigen können, welche Vorteile ihr Konzept hat. Autor: Georg Wieghaus Quellenangaben zum Artikel:
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