Wo leben die meisten juden

Die jüdische Minderheit in Deutschland ist vielfältig: Sowohl ethnisch als auch kulturell und religiös. Nach der Schoa lebten nur noch wenige Juden in Deutschland. In 1990er Jahren wuchsen die Gemeinden durch den Zuzug von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, von rund 30.000 auf über 100.000 Mitglieder.

Die jüdische Gesamtbevölkerung in Deutschland wird auf etwa 225.000 Personen geschätzt. Nach Frankreich und Großbritannien handelt es sich damit um die drittgrößte Community in Europa. Diese Zahl beinhaltet alle Menschen, die in der weitesten DefinitionDas heißt: Menschen, deren Vater oder deren Mutter jüdisch ist, sowie nicht-jüdische Familienangehörige von eingewanderten Jüdinnen und Juden. als Jüdinnen und Juden gelten.QuelleBerman Jewish Data Bank (2019): "World Jewish Population", S. 68.

Laut der Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland (ZWST) waren 2020 bundesweit rund 94.000 Mitglieder in 106 jüdischen Gemeinden organisiert. Die größten Gemeinden befinden sich in Berlin, München und Frankfurt. Hinzu kommen 26 Gemeinden, die der "Union progressiver Juden in Deutschland" angehören. Deren Mitgliederzahl liegt zwischen 5.000 und 6.000.QuelleZWST (2021): "Mitgliederstatistik 2020",  "Mitgliederstatistik 2020 der jüdischen Gemeinden und Landesverbände in Deutschland", S. 6, S. 11ff.; Antwort der ZWST auf Anfrage des MEDIENDIENSTES (2019); Antwort der Union progressiver Juden auf Anfrage des MEDIENDIENSTES

Seit 2007 ist die Mitgliederzahl jüdischer Gemeinden leicht rückläufig. Zur Entwicklung in den liberal-progressiven Gemeinden liegen keine Daten vor. Der Rückgang der Mitglieder liegt unter anderem daran, dass kaum noch Jüdinnen und Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion einwandern. Ein weiterer Grund ist der demographische Wandel: Knapp die Hälfte der Gemeindemitglieder waren 2020 über 60 Jahre alt.QuelleZWST (2021): "Mitgliederstatistik 2020", S. 5 und 8

2020 veröffentlichte der Zentralrat der Juden ein "Gemeindebarometer". Die nicht-repräsentative Umfrage unter rund 2.700 Jüdinnen und Juden in Deutschland fragte etwa, wie oft sie den Gottesdienst besuchen oder was sie von der Gemeindesteuer halten. 23 Prozent der Befragten, die auch Mitglied in einer Gemeinde sind, sind dort ehrenamtlich aktiv, ein Großteil fühlt sich in den Gemeinden willkommen (78 Prozent). Fast ebenso viele wünschen sich aber ansprechendere Angebote in den Gemeinden (76 Prozent).QuelleZentralrat der Juden in Deutschland (Hg. 2020): "Gemeindebarometer. Ergebnisbericht", S. 15, 21

Eine einheitliche jüdische Organisation wurde erst kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 mit dem "Zentralausschuss der deutschen Juden für Hilfe und Aufbau" gegründet. Ihr erster Präsident war der Rabbiner Leo Baeck. 1950 formierte sich der "Zentralrat der Juden in Deutschland" (ZJD).QuelleWebsite des "Zentralrats der Juden in Deutschland"

Der Zentralrat ist neben den großen christlichen Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt. Dieser Status ist mit besonderen PrivilegienWie etwa dem Recht, Steuern einzuziehen und eigene Friedhöfe anzulegen; siehe hierzu Artikel 140 Grundgesetz, eine Auflistung der K.d.ö.R. in Deutschland verbunden. Im Zentralrat sind verschiedene Gemeinden organisiert, deren Ausrichtung von streng orthodoxen, reformorientierten und konservativen bis zu liberalen Gemeinden reicht. Der Zentralrat hat den Anspruch, die religiösen Interessen aller Juden in Deutschland zu vertreten.

Neben dem Zentralrat hat sich 1997 die "Union progressiver Juden" (UPJ) gegründet, die ebenfalls eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist. Sie vereint liberale und progressive Gemeinden. Darüber hinaus ist in Deutschland die orthodoxe Organisation "Chabad Lubawitsch" aktiv.

Grundsätzlich unterscheidet man im Judentum zwischen drei Ausrichtungen: dem orthodoxen, dem progressiven (beziehungsweise liberalen oder reformorientierten) und dem konservativen Judentum. Der Hauptunterschied besteht in der Herangehensweise an die Quellen und ihrem Verständnis.

Im Verständnis des orthodoxen Judentums ist die Thora das direkt offenbarte Wort Gottes. Das progressive Judentum versteht die Offenbarung hingegen als von Gott ausgehenden, aber durch Menschen vermittelten und damit dynamischen und progressiven Prozess. Das konservative Judentum wiederum will die Traditionen bewahren, sieht Veränderungen aber als notwendig an – sofern sie mit den religiösen Gesetzen vereinbar sind.QuelleInformationsplattform Religion des Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienstes (REMID)

Das liberale Judentum enstand vor allem im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts als Alternative zum orthodoxen Judentum. Bis zum Holocaust hatte es sich zur vorherrschenden Glaubensrichtung entwickelt. Nach dem 2. Weltkrieg gewann mit der Gründung des "Zentralrats der Juden in Deutschland" (ZDJ) das orthodoxe Judentum an Bedeutung und ist heute die einflussreichste Auslegung in der Bundesrepublik.

Durch die Unterstützung nicht-orthodoxer Weltverbände und die Einwanderung von Juden aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion seit Beginn der 1990er Jahre steigt die Zahl nicht-orthodoxer Gemeinden wieder. Diese werden vor allem durch die 1997 gegründete "Union progressiver Juden in Deutschland" (UPJ) vertreten.

Zwischen 1993 und 2020 wanderten 210.288 Jüdinnen und Juden einschließlich ihrer Partner*innen und Kinder aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland ein. Die meisten von ihnen waren sogenannte Kontingentflüchtlinge und zogen bis 2004 zu. Danach kamen immer weniger Jüdinnen und Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion nach Deutschland, 2020 waren es 365 Personen.Quelle BAMF (2021): Migrationsbericht 2020, S. 125; Belkin (2017): Jüdische Kontingentflüchtlinge und Russlanddeutsche, bpb

Dass weniger Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion zuwandern, liegt unter anderem an einer Reform des Zuwanderungsgesetzes 2005. Im Gegensatz zu den 1990er Jahren benötigen potenzielle Einwandererinnen und Einwanderer heute Deutschkenntnisse und eine positive "IntegrationsprognoseDauerhaft für den eigenen Lebensunterhalt in der Bundesrepublik Deutschland sorgen können". Zudem müssen Antragstellende nachweisen, dass sie in eine jüdische Gemeinde aufgenommen werden können.QuelleZentralrats der Juden (2020): "Integration: Infos zur Zuwanderung", BAMF (2020): "Jüdische Zuwandernde"

Bis 2004 konnten Jüdinnen und Juden aus Nachfolgestaaten der Sowjetunion als "Kontingentflüchtlinge" leichter einwandern als andere Migrant*innen. Festgelegte Kontingente gab es jedoch nicht. Russischsprachige Jüdinnen und Juden zogen ab 1990 zunächst in die DDR der Wendezeit und kamen ab 1991 in die Bundesrepublik.QuelleKaren Körber, "Puschkin und Thora", in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 37, 2009, S.235ff

Um einzuwandern, mussten Jüdinnen und Juden in den deutschen Botschaften in ihren Herkunftsländern um Einreiseerlaubnis ersuchen. Dafür mussten sie ihre jüdische Identität nachweisen. Die deutschen Vertretungen richteten sich nach dem Hinweis "Volkszugehörigkeit" in sowjetischen Geburtsurkunden und Pässen. Es spielte keine Rolle, ob jemand gläubig oder Gemeindemitglied war. Lagen entsprechende Nachweise vor, wurden die Anträge grundsätzlich bewilligt. Die Einwandererinnen und Einwanderer bekamen eine unbefristete Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis.QuelleKaren Körber, "Zäsur, Wandel oder Neubeginn? Russischsprachige Juden in Deutschland zwischen Recht,Repräsentation und Realität", in: Karen Körber, Russisch-jüdische Gegenwart in Deutschland, Göttingen, 2015

Seit 1970 ist die jüdische Bevölkerung Europas um 60 Prozent geschrumpft. Vor allem im Osten des Kontinents war der Rückgang dramatisch, aber auch im Westen werden die Gemeinden immer kleiner. Säkularisierung und Mischehen spielen dabei eine entscheidende Rolle.

Andrea Spalinger 31.10.2020, 06.00 Uhr

Die jüdische Bevölkerung in Europa ist in den letzten fünfzig Jahren noch stärker geschrumpft als bisher angenommen. Laut einer Studie des in London beheimateten Institute for Jewish Policy Research leben auf dem Kontinent derzeit noch rund 1,3 Millionen Menschen, die sich selbst als jüdisch bezeichnen. Das sind fast 60 Prozent weniger als 1970. Der European Jewish Congress, dessen Schätzungen als Richtwert galten, war bisher von 1,9 Millionen Juden in Europa ausgegangen.

Einst lebten 80 Prozent der Juden in Europa

Die neuen Zahlen bedeuten, dass nur noch 9 Prozent der jüdischen Weltbevölkerung auf unserem Kontinent leben – und damit ein so geringer Anteil wie seit dem Mittelalter nicht mehr, genauer gesagt seit dem Jahr 1170, als der jüdische Reisende Benjamin von Tudela zum ersten Mal eine Zählung durchgeführt hatte. Damals soll es weltweit etwa eine Million Juden gegeben haben. In den folgenden Jahrhunderten, insbesondere ab Ende des 18. Jahrhunderts, wuchsen die Gemeinden dann stark. Um 1900 wurden weltweit über 10 Millionen Juden gezählt, über 80 Prozent von ihnen lebten in Europa.

Sergio Della Pergola und Daniel Staetsky betonen in ihrer umfassenden Untersuchung, dass die demografische Situation ohne die Judenvernichtungspolitik der Nationalsozialisten heute eine völlig andere wäre. Sechs Millionen Juden kamen während des Holocaust ums Leben, und Spätfolgen des Genozids führten nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer weiteren Abwanderung, vor allem nach Israel und in die USA. 1970 lebten gerade noch 26 Prozent aller Juden in Europa.

Wie die Studie beleuchtet, setzte sich der Bevölkerungsrückgang aber auch danach fort, und das ist nur noch begrenzt mit dem Holocaust zu erklären. Die Autoren haben die Entwicklungen auf dem gesamten Kontinent untersucht, das heisst in den 27 EU-Mitgliedstaaten, Grossbritannien und kleineren Staaten in Mittel- und Nordeuropa ebenso wie in den früheren Sowjetrepubliken Russland, Weissrussland und der Ukraine, in den Balkanländern, in Zypern und der Türkei.

Exodus aus dem Ostblock nach 1989

Die Zahl der Juden weltweit stieg demnach zwischen 1970 und 2020 von 12,6 auf 14,8 Millionen. Gleichzeitig schrumpfte jene in Europa von 3,2 auf 1,3 Millionen. Der Hauptgrund dafür war eine starke Abwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989. Von dort sind in den letzten fünfzig Jahren 85 Prozent der jüdischen Bevölkerung weggezogen. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren die Gebiete des heutigen Russland, Polen und Rumänien das religiöse und kulturelle Zentrum des Judentums.

Heute lebt die grosse Mehrheit der europäischen Juden im Westen, insbesondere in Frankreich (449 000), Grossbritannien (295 000) und Deutschland (118 000). Doch auch in Westeuropa sind die Gemeinden seit 1970 geschrumpft; in Grossbritannien um 25 Prozent, in Frankreich um 15 Prozent und in den 27 EU-Staaten insgesamt um 16 Prozent.

Kaum mehr aufzuhaltender Trend

Die Gründe dafür waren vielfältig. Die Auswanderung von meist jungen Jüdinnen und Juden nach Israel und die zunehmende Überalterung der Gemeinden waren entscheidende Faktoren. Bei der Auswanderung spielten zionistische Motive ebenso eine Rolle wie schwierige ökonomische Verhältnisse und unterschwelliger oder gar offener Antisemitismus in Europa. Allein zwischen 2000 und 2020 gingen aus den EU-Staaten rund 70 000 Personen nach Israel.

Eine ebenso starke Rolle spielten allerdings die zunehmende Säkularisierung und Assimilierung der Juden sowie die steigende Zahl von Mischehen. In vielen EU-Ländern heiraten mittlerweile über 40 Prozent der jüdischen Bürger Partner anderer Religionszugehörigkeit. Da im Judentum die Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft von der Mutter auf die Kinder übertragen wird, sind Söhne und Töchter von jüdischen Vätern, die eine Mischehe eingegangen sind, gemäss Religionsgesetz nicht jüdisch. Ehefrauen und Kinder können zwar zum Judentum übertreten, das geschieht aber relativ selten.

All diese demografischen Trends dürften sich in den kommenden Jahren noch verstärken. Della Pergola und Staetsky kommen in ihrer Studie denn auch zum Schluss, dass sich der Bevölkerungsschwund in Europa kaum mehr bremsen lasse.

Antisemitismus und islamistische Gewalt in Frankreich

Frankreich zählt nach Israel und den USA heute die drittgrösste jüdische Gemeinde weltweit. Seit dem Jahr 2000 sind jedoch über 50 000 französische Juden nach Israel gezogen – deutlich mehr als aus anderen europäischen Ländern. Laut der Studie nannten die Emigranten den zunehmenden Antisemitismus in Frankreich als einen der wichtigsten Auswanderungsgründe. In den letzten Jahren ist es im Land wiederholt zu Schändungen von Friedhöfen und Übergriffen auf jüdische Bürger gekommen. Auch die zunehmende islamistische Gewalt bereitet den Juden dort Sorgen.

Wiederbelebungsversuche in Deutschland

Deutschland hingegen ist eines von wenigen Ländern, in denen die jüdische Bevölkerung seit 1970 stark gewachsen ist. In den neunziger Jahren bemühte man sich dort aktiv darum, die nach dem Holocaust dezimierten jüdischen Gemeinden wiederzubeleben. Zwischen 1990 und 2005 wurden grosszügig Aufenthaltsgenehmigungen an jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion vergeben. Die Zahl der Juden vervierfachte sich dadurch.

Die demografischen Aussichten bleiben laut der jüngsten Studie dennoch düster. Denn die meisten Neuzuzüger hatten ihre Religion als Ticket nach Deutschland genutzt, ohne sich dieser wirklich verbunden zu fühlen. Dass die Nachkommen der «Russen» den jüdischen Gemeinden erhalten bleiben, ist eher unwahrscheinlich. Die Gemeinden sind heute bereits stark überaltert. Rund 40 Prozent der deutschen Juden sind über 65 Jahre alt.

Schweizer Gemeinden relativ stabil

Ausnahmen vom negativen Trend in Westeuropa stellen einige Länder mit einem grossen Anteil von Ultraorthodoxen dar, wie Österreich, Belgien, Grossbritannien oder die Schweiz. Da die charedischen Familien relativ kinderreich sind, dürften die Gemeinden dort laut den Demografen einigermassen stabil bleiben.

In der Schweiz, wo etwa 20 Prozent der Juden ultraorthodoxen Gemeinden angehören, war der Bevölkerungsrückgang in den letzten Jahren tatsächlich weniger dramatisch als in anderen Ländern. An Bedeutung gewinnen zudem reformjüdische Gemeinden, die einen sehr integrativen Umgang mit Mischehe-Familien pflegen. Daniel Gerson, Dozent für Judaistik an der Universität Bern, erklärt die relative Stabilität auch mit dem Wohlstand und der sozialen Sicherheit in der Schweiz. Zudem gebe es wenig offenen Antisemitismus. Eine Rolle spielt laut dem Experten aber auch der starke Zusammenhalt. Viele jüdische Gemeinden verfügten über eine seit dem 19. Jahrhundert ungebrochene Tradition, weil sie vom Holocaust verschont geblieben seien.

Die jüdische Bevölkerung ist seit 1970 aber auch bei uns um 10 Prozent geschrumpft. Momentan leben noch rund 18 000 Juden in der Schweiz. Seit der Gründung Israels seien rund 6000 Schweizer Juden in den jüdischen Staat ausgewandert, erklärt Gerson im Gespräch. Früher habe auch ein antisemitisch gefärbter Überfremdungsdiskurs die Zuwanderung erschwert. Wie allen Religionen mache dem Judentum aber vor allem die Säkularisierung zu schaffen. Für eine kleine Minderheit sei diese Entwicklung problematischer als für grosse Religionsgemeinschaften. Gerson sieht in der Vielfalt jüdischer Gemeinden in der Schweiz, von liberal bis ultraorthodox, aber auch eine Chance für die Zukunft.