Wie lange darf sich Unfallversicherung Zeit lassen?

Wie lange darf sich Unfallversicherung Zeit lassen?

Ausgabe: July 2019 | P/C General Industry | PDF herunterladen | Deutsch Von RA Volkhard Wittchen, LL.M., Fachanwalt für Versicherungsrecht, Hamm (guest contributor)
Region: Germany

Die Frage, welche Invaliditätsleistungen der Versicherer nach einem bedingungsgemäßen Ereignis nach den Kriterien des privaten Unfallversicherungsrechts zu erbringen hat, richtet sich maßgeblich danach, welche unfallbedingten ersten konkreten Gesundheitsschäden objektivierbar und nachweisbar und welche unfallbedingten Dauerschäden aus dem vollbewiesenen ersten konkreten Gesundheitsschaden/-schäden herzuleiten sind. Um sich also seriös mit der Frage des unfallbedingten Dauerschadens (Invalidität im Sinne des § 180 VVG) befassen zu können, muss also primär die Frage des sogenannten Erstkörperschadens geprüft werden.

Weiter muss bei der Feststellung eines unfallbedingten Dauerschadens nach den Kriterien des privaten Unfallversicherungsrechts berücksichtigt werden, dass – anders als im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung – die Versicherer in den AUB eine sogenannte Invaliditätseintrittsfrist wie auch eine ärztliche Feststellungsfrist vertraglich vereinbart haben. Insbesondere muss die Invalidität innerhalb der Invaliditätseintrittsfrist eingetreten sein, oftmals ist dies eine 12-, 15- oder im neuen Bedingungswerk eine 18-Monatsfrist.

Da sich aber eine Vielzahl von unfallbedingten Erstkörperschäden innerhalb dieser Invaliditätseintrittsfrist folgenlos zurückbildet, entsteht oftmals zwischen den Vertragsparteien ein Dissens, ob etwa noch bestehende Beeinträchtigungen auf das angeschuldigte Ereignis oder aber auf Degeneration oder idiopathische Ursachen zurückzuführen sind.

I.

Die Begutachtung nach dem privaten Unfallversicherungsrecht unterscheidet sich von den Kriterien anderer Unfallversicherungszweige, etwa des gesetzlichen Unfallversicherungsrechts und des Sozialversicherungsrechts. Für den Bereich des privaten Unfallversicherungsrechts gilt, dass die Bestimmung des Dauerschadens und des daraus folgenden Invaliditätsgrades nach einem abstrakt-generellen Maßstab bei völligem oder teilweisem Verlust/Funktionsunfähigkeit der benannten Glieder oder ihrer Teilbereiche erfolgt, wobei nach anerkannter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs maßgeblich der Sitz der unfallbedingten Schädigung ist (vgl. nur BGH, Urteil vom 01.04.2015, Az. IV ZR 104/13 – Vers 2015, 617 ff.).

II.

Zu beachten ist bei der Begutachtung, dass die für das Fachgebiet und die geklagten Beeinträchtigungen maßgeblichen Begutachtungsleitlinien beachtet werden, da insbesondere auf die Leitlinien für die ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen, den Leitlinien der deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie e. V., oftmals unter Beteiligung der DGOU, der SK-2-Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen, der neuen S3-Leitlinie zur Borreliose der DGN sowie der S1-Leitlinie zur FSME hinzuweisen ist. Durch die Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung der einschlägigen Leitlinien erhält der Auftraggeber des Gutachters schon eine erste Aussage zur Qualität des Gutachtens. So hat z. B. das OLG Oldenburg aktuell entschieden, dass eine Begutachtung ohne Berücksichtigung der neuen S3-Leitlinie keine Entscheidungsgrundlage für das Gericht bilden kann (Beschluss vom 20.06.2018 – Az. 5 U 36/18 – VersR 2019, 24).

I.

Was die Beweislast betrifft, ist zunächst einmal darauf hinzuweisen, dass der Versicherte ein bedingungsgemäßes Unfall­ereignis nach dem Beweismaß des § 286 ZPO zu beweisen hat. Dies ist vorliegend zurückzustellen, weil der Sachverständige regelmäßig erst nach Bejahung eines bedingungsgemäßen Unfallereignisses den Auftrag zur Erstellung des Gutachtens erhält.

II.

Von dem Sachverständigen ist die Frage zu beantworten, ob das vorgegebene Ereignis eine erste konkrete Gesundheitsschädigung ergeben hat und ob dies mit dem Beweismaß des § 286 ZPO nachgewiesen werden kann, mithin objektivierbar ist. Diese sogenannte haftungsbegründende Kausalität steht seit der Rechtsprechung des BGH und seit jeher unter der Beweislast des § 286 ZPO, dem sogenannten Vollbeweis (vgl. nur BGH, VersR 2011, 1171). Dieser Beweismaßstab setzt hingegen entgegen der landläufig verwendeten Begrifflichkeit Vollbeweis keine 100%ige Wahrscheinlichkeit voraus, vielmehr verlangt er eine Überzeugung des Richters von der Wahrheit einer Behauptung mit einer sehr hohen Überzeugung. Der BGH formuliert dies regelmäßig insoweit etwas schwammig, als ein brauchbarer Grad von Gewissheit festgestellt werden muss, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen und das Gericht mit voller Überzeugung und Gewissheit von der Richtigkeit der behaupteten Tatsache ausgehen müsse (vgl. nur aktuelles Urteil vom 29.01.2019, Az. VI ZR 113/17 – r+s 2019, 353 ff.).

Dabei muss der Sachverständige allerdings nicht lediglich medizinisch objektivierbare Befunderhebungen berücksichtigen, sondern ggf. kann auch ein erster konkreter Gesundheitsschaden durch Zeugenaussagen nachgewiesen werden. Dies gilt insbesondere für Hämatome, Ödeme und Hautverletzungen.

Wichtig ist dabei, dass der Sachverständige die Abgrenzung der Erstkörperschäden vornimmt, wenn mehrere Bereiche zur Diskussion stehen. In der vorzitierten Entscheidung des BGH zum allgemeinen Haftungsrecht, welches hinsichtlich der Beweisgrundsätze auf das Recht der privaten Unfallversicherung übertragen werden kann, hat der BGH nochmals zu Recht die Evidenz der Abgrenzung anzunehmender unfallbedingter Primär- und Sekundärschäden mit den jeweiligen Beweisanforderungen hervorgehoben. Auch hat das OLG Dresden in dem Urteil vom 10.01.2017 (Az. 4 U 693/16 – juris) nochmals klargestellt, dass eine bloße, auch eine überwiegende Wahrscheinlichkeit hierfür nicht ausreicht. In dem vorzitierten Fall war eine Zehendistorsion unstreitig, streitig war ein HWS-Schleudertrauma. Dies konnte nach den strengen Regeln des § 286 ZPO nicht nachgewiesen werden. Die unstreitige Zehendistorsion führt nach den zutreffenden Entscheidungen des OLG Dresden nicht dazu, dass dies für eine Primärverletzung für die HWS-Distorsion ausreicht, um das Beweismaß für den Geschädigten auf das Niveau des § 287 ZPO herabzusenken.

III.

Nicht jede unstreitige bzw. nachgewiesene Primärschädigung führt häufig dazu, dass für eine weitere streitige Verletzung die Beweiserleichterung des § 287 ZPO greift. Wenn verschiedene Verletzungskomplexe vorliegen, die unabhängig voneinander sind, muss jede Verletzung nach dem Beweismaß des § 286 ZPO bewiesen werden. So muss z. B. etwa die Behauptung, es liege ein unfallkausaler Tinnitus vor, im Wege des Strengbeweises bewiesen werden, auch wenn daneben eine HWS-Verletzung unstreitig ist (vgl. hierzu OLG Düsseldorf, BeckRS 2011, 17090; LG Berlin, NZV 2012, 81).

Auch das OLG Oldenburg hat dies in dem Urteil vom 22.07.2016 (Az. 6 U 30/16 – juris) nochmals zutreffend wie folgt festgehalten:

„Ob die von der Klägerin behaupteten körperlichen und psychischen Verletzungen auf den Unfall zurückzuführen sind und sich als unmittelbare Unfallfolgen darstellen, unterliegt dabei den strengen Anforderungen des Vollbeweises gem. § 286 ZPO, da die Frage, ob sich die Klägerin überhaupt Verletzungen zugezogen hat und diese unfallursächlich sind, den nach dieser Vorschrift zu führenden Nachweis der haftungsbegründenden Kausalität betrifft (vgl. BGH, VersR 2008, 1133 m. w. N.). Der Beweismaßstab des § 287 ZPO ist dagegen anzuwenden für die Frage der haftungsausfüllenden Kausalität, d. h. welche Folgeschäden, also durch die Gesundheitsbeschädigung entstandenen Schadensfolgen, vorhanden sind (OLG München, Urteil vom 11.09.2015 – 10 U 4282/14 – juris). Dieser Beweismaßstab ist für die Frage, ob die Klägerin durch die unfallbedingt erlittenen (Primär-)Verletzungen dienst- bzw. erwerbsunfähig geworden ist, anzuwenden (vgl. OLG München, Urteil vom 11.09.2015 – 10 U 4282/14 – juris).“

IV.

Festzuhalten ist also hinsichtlich des Beweismaßes, dass für den sogenannten Primärschaden auch im Bereich des privaten Unfallversicherungsrechts der Strengbeweis des § 286 ZPO anzusetzen ist; die haftungsausfüllende Kausalität, mithin die Frage des unfallbedingten Dauerschadens, wie auch die Frage der Invaliditätshöhe richtet sich nach der Beweiserleichterung des § 287 ZPO. Hierfür reicht nach anerkannter Rechtsprechung des BGH eine überwiegende Wahrscheinlichkeit, mithin jedenfalls aber auch eine Wahrscheinlichkeit größer 50 % (vgl. zum Ganzen: BGH VersR 2011, 1171).

V.

Weiter ist darauf hinzuweisen, dass die bloße zeitliche Nähe zwischen einem Unfallereignis und dem Auftreten der Beschwerden nicht ausreicht, um diesem Beweismaßstab zu genügen (vgl. hierzu OLG Naumburg, SVR 2014, 301, und OLG München, BeckRS 2012, 22131). Wichtig und erforderlich ist, dass der Sachverständige die sich aus den Befunden allein ergebenden Diagnosen auf der Kausalitätsebene einem unfallbedingten Primärschaden nach § 286 ZPO sowie einem unfallbedingten Dauerschaden mit einer jedenfalls überwiegenden Wahrscheinlichkeit gem. § 287 ZPO zuordnen kann.

I.

Nach der hinlänglich diskutierten Entscheidung des BGH vom 19.10.2016 (Az. IV ZR 521/14 – juris) genügt in der privaten Unfallversicherung für einen adäquaten Kausalzusammenhang zwischen Unfallereignis und Gesundheitsbeeinträchtigung, dass das Unfallereignis an der eingetretenen Funktionsbeeinträchtigung mitgewirkt hat, wenn diese Mitwirkung nicht gänzlich außerhalb aller Wahrscheinlichkeit liegt. Eine wesentliche oder richtungsweisende Mitwirkung ist – anders als im Sozialversicherungsrecht – nach dieser Entscheidung nicht (mehr) zu verlangen. Daher schließt das Vorhandensein von Vorschäden für sich genommen die Kausalität nicht aus.

II.

Anders als allerdings vielfach aus dieser Entscheidung hergeleitet wird, hat der BGH in dieser Entscheidung nicht seine Grundsätze zur Beweislastverteilung aufgegeben. Allein hat der BGH ausgeführt, dass ein Unfallereignis im Sinne einer sogenannten „Gelegenheitsursache“ nach den Kriterien des privaten Unfallversicherungsrechts unter Versicherungsschutz steht.

III.

Aus der vorzitierten Entscheidung des BGH ergeben sich vier wesentliche Konsequenzen, die die Sachverständigen berücksichtigen müssen:

1. Konsequenz

In der vorgerichtlichen als auch in der gerichtlichen Begutachtung ist insbesondere der Schwerpunkt darauf zu legen, ob ein von dem Versicherten mit dem Beweismaß des § 286 ZPO zu beweisender unfallbedingter Erstkörperschaden festgestellt werden kann.

Hierbei ist, wie bereits ausgeführt, auf die sogenannte Adäquanztheorie abzustellen, wonach ein Unfallereignis für den Eintritt der Gesundheitsschädigung bereits dann kausal ist, wenn es im Allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen und ganz unwahrscheinlichen, nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet ist, solche Folgen auszulösen. Zu berücksichtigen ist immer, dass jede Form der Mitursächlichkeit, auch der sogenannte „letzte Tropfen“, nach der Rechtsprechung des BGH gem. Urteil vom 19.10.2016 ausreichend ist.

Zur Feststellung dieses unfallbedingten Erstkörperschadens ist insbesondere der Erstbefund von Relevanz, natürlich aber auch zeitnahe bildgebende Befunde nach dem Ereignis. Auch der Frage, wann der Versicherte erstmals nach dem angeschuldigten Ereignis ärztliche Konsultation aufgesucht hat, ist hier nachzugehen. Dabei sind auch Fragen der Plausibilität hinsichtlich struktureller Verletzungen und den beschriebenen Folgen weiter zu prüfen.

2. Konsequenz

In der medizinischen Begutachtung ist weiter danach zu fragen, ob das Unfallereignis, also die auf den Körper einwirkenden Kräfte, seien sie auch gering, die Aktivierung der – ggf. zuvor klinisch stumm verlaufenden – Beeinträchtigung bewirkt und damit die geklagten (Dauer-)Beschwerden ausgelöst hat. Auf eine alleinige Verursachung ist nicht – war aber auch nicht vor der Entscheidung des BGH vom 19.10.2016 – abzustellen, vielmehr reicht und reichte grundsätzlich eine Mitursächlichkeit aus. Die Frage ist insbesondere, ob das Ereignis biomechanisch überhaupt geeignet ist, die relevante Körperregion zu erreichen.

Hierbei wird zurzeit in der gerichtlichen Auseinandersetzung insbesondere die Frage diskutiert, ob die Aktivierung einer vorbestehenden Arthrose durch ein Ereignis, insbesondere durch ein sogenanntes „Bagatellereignis“ überhaupt möglich ist. Dies hat beispielsweise das OLG Hamm in seinem Urteil vom 10.05.2017 (Az. 20 U 89/16 – juris) bejaht, ohne diese Frage hingegen medizinisch näher zu betrachten. In einem von dem Verfasser geführten Rechtsstreit vor dem Landgericht München II hat der dortige Sachverständige eine Aktivierung der vorbestehenden Arthrose durch eine Prellung als medizinisch nicht nachweisbar dargestellt, daraufhin ist die Klage aufgrund des fehlenden Nachweises eines unfallbedingten ersten Gesundheitsschadens rechtskräftig abgewiesen worden.

Es ist also für die haftungsbegründende Kausalität nach der Rechtsprechung des BGH und des OLG Hamm (und weiterer Instanzgerichte) grundsätzlich ausreichend, wenn ein vorbestehender Zustand durch das Ereignis insoweit aktiviert wurde, als jetzt, nach dem Ereignis, die vorbestehenden Beeinträchtigungen spürbar sind, vor dem streitigen indes stumm verliefen. Die haftungsbegründende Kausalität ist dann durch das „Spürbar-werden-lassen“ der Degeneration bewiesen. Für eine – unterstellt – aktivierte Arthrose besteht demnach an dieser Stelle Versicherungsschutz.

IV.

Dieses Zwischenergebnis führt zu der maßgeblichen Frage, ob aus dem nachgewiesenen ersten konkreten Gesundheitsschaden ein Dauerschaden im Sinne des § 180 VVG nachzuweisen ist.

1.

Insoweit ist auf die Legaldefinition des § 180 VVG hinzuweisen, wonach der Dauerschaden voraussetzt, dass die Beeinträchtigung lebenslang andauern wird oder nach ärztlicher Prognose länger als drei Jahre andauert und eine Änderung des Zustandes nicht erwartet werden kann.

2.

Dabei ist, und dies wird in der medizinischen Begutachtung allzu oft vernachlässigt, eine Prognoseentscheidung des begrifflichen Dauerschadens erforderlich. Auszugehen ist hier von dem Ist-Zustand zum Zeitpunkt des Stichtages der Invaliditätseintrittsfrist, weil dieser Stichtag nach der Rechtsprechung des BGH gem. Urteil vom 18.11.2015 (Az. IV ZR 179/15 – juris) der Prognosestichtag ist. Keinesfalls ist hingegen der Ist-Zustand zu diesem Zeitpunkt zu regulieren, allein stellt der Stichtag die Basis dar, von der ausgehend die Prognoseentscheidung zu treffen ist.

In dem Urteil des BGH vom 18.10.2017 wird die Erforderlichkeit der Prognoseentscheidung im Rahmen der Feststellung eines unfallbedingten Dauerschadens nochmals klar herausgestellt, wenn es dort wie folgt heißt (Az. IV ZR 188/17 – VersR 2017, 1386 – 1389):

„Eine Beeinträchtigung ist gemäß § 180 Satz 2 VVG, der weitgehend die bisherige Rechtslage kodifiziert, dauerhaft, wenn sie voraussichtlich länger als drei Jahre bestehen wird und eine Änderung dieses Zustandes nicht erwartet werden kann. Hieraus folgt, dass bei der Beurteilung der Dauerhaftigkeit auf den drei Jahre nach dem Unfall vorliegenden und zu diesem Zeitpunkt erkennbaren, d. h. hinreichend prognostizierbaren Dauerzustand abzustellen ist … Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommt es mithin nicht abschließend auf den Ist-Zustand nach Ablauf der 3-Jahres-Frist an, sondern darauf, ob auf der Grundlage des nach Ablauf der 3-Jahres-Frist bestehenden Zustandes ein hinreichend prognostizierbarer Dauerzustand zu erwarten ist oder nicht. Außer Betracht zu bleiben haben lediglich spätere Veränderungen, die bei Ablauf der 3-Jahres-Frist – seien sie positiv oder negativ – nicht vorauszusehen waren …“

Auch das OLG Saarbrücken hat in dem Urteil vom 27.04.2016 (Az. 5 U 36/15 – juris) hervorgehoben, dass die Feststellung eines Dauerschadens eine prognostische Bewertung enthalten muss.

3.

Diese Entscheidungen belegen nochmals eindrucksvoll, dass der medizinische Sachverständige bei der Frage des Dauerschadens zunächst die Stichtagsrechtsprechung des BGH zu beachten hat, was aber regelmäßig von der Rechtsprechung im Rahmen des Beweisbeschlusses vorgegeben wird. Weiter hat der Sachverständige unter Berücksichtigung des Stichtages zwingend eine Prognoseentscheidung zu treffen, ob im Rahmen dieser Prognoseentscheidung ein Dauerschaden im Sinne des § 180 Satz 2 VVG positiv zu konstatieren ist. Wenn also eine allein nachgewiesene Verletzung üblicherweise nach vier bis sechs Wochen (oder auch weniger Monate) folgenlos ausheilt, ist allein deshalb ein unfallbedingter Dauerschaden zwingend zu verneinen (so zutreffend LG Dortmund, Urteil vom 27.03.2014 – Az. 2 O 289/12 – juris, hier: Diabetes mellitus). Zutreffend hat das Landgericht Dortmund in der vorzitierten Entscheidung darauf hingewiesen, dass dies gerade keine Frage der Mitwirkung einer etwa vorbestehenden Beeinträchtigung ist, da bereits eine haftungsausfüllende Kausalität im Sinne eines Dauerschadens nicht festzustellen ist.

4.

Diese Frage des unfallbedingten Dauerschadens ist also in der Begutachtung als Schwerpunkt herauszuarbeiten. Deshalb hat das OLG Hamm in der Entscheidung vom 10.05.2017 (Az. 20 U 89/16 – juris), in der die Aktivierung einer Schultergelenksarthrose als erster konkreter Gesundheitsschaden unfallbedingt bejaht wurde, einen Dauerschaden auf haftungsausfüllender Ebene trotz positiv festgestellter Degeneration (oder besser: aufgrund positiv festgestellter Degeneration) und unfallbedingt fehlender struktureller Schäden zu Recht verneint, wenn ausgeführt wird:

„Der Sachverständige hat überzeugend ausgeführt …, dass mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass die Beeinträchtigungen nicht auf das geschilderte Ereignis und die erste Gesundheitsschädigung zurückzuführen sind, denn es kommt zwar bei betroffenen Personen immer wieder zu einer Aktivierung einer Facettengelenksarthrose. Diese geht aber zu einem sehr hohen Anteil innerhalb von bis zu 3 Monaten wieder weg. Dafür, dass dies auch hier der Fall gewesen ist, spricht, dass sich bildlich keine strukturellen Verletzungen aufgrund des behaupteten Unfalls feststellen lassen und sich bereits im Jahre 2001 nahezu identisch zeigende nicht altersgemäße Symptome einfach altersgemäß fortentwickelt haben.“

5.

Die Konsequenz Nr. 3 aus der Rechtsprechung des BGH gem. Urteil vom 19.10.2016 ist also, dass der Sachverständige eine Aussage dazu zu treffen hat, wann die allein nachgewiesene erste kompetente Körperschädigung regelmäßig nach medizinischen Erkenntnissen ausheilt (ggf. folgenlos ausheilt) und ob der jetzige, als Dauerschaden reklamierte Zustand mit dem angeschuldigten Ereignis in einen Zusammenhang gebracht werden kann. Wenn dies verneint wird, ist ein unfallbedingter Dauerschaden nicht nachgewiesen und zu verneinen.

Zu beachten ist im Rahmen dieser Fragestellung, dass nicht positiv nachgewiesene strukturelle Schäden, gleichviel allerdings nachgewiesene Ödeme, Hämatome oder auch eine nachgewiesene Aktivierung einer vorbestehenden Ar­throse zwingend kurzzeitig und damit vorübergehend einen schmerzhaften Zustand begründen können. Regelmäßig ist eine derartige Aktivierung von Verschleiß allerdings nur von vorübergehender Natur und kann nicht zu einer dauerhaften, also über das dritte Unfalljahr hinaus fortwährenden Beschwerde und Funktionsstörung führen. Etwaig bleibende, erneute oder zunehmende Schultergelenksbeschwerden und Ähnliches sind dann grundsätzlich wiederum allein auf die vorbestehenden Verschleißzeichen zurückzuführen. Auch darf nicht der Fehlschluss „post hoc ergo propter hoc“ zur Anwendung gelangen.

Fazit

Nachdem sich also ein großer „Aufschrei“ durch die Rechtsprechung des BGH vom 19.10.2016 ergeben hat, kehrt in der medizinischen Begutachtung wieder etwas mehr Ruhe ein, wenn die richtigen Fragestellungen erfolgen und die Begutachtung die Frage der haftungsbegründenden und haftungsausfüllenden Kausalität unter der Leitlinie der Legaldefinition des unfallbedingten Dauerschadens gem. § 180 Satz 2 VVG richtig betrachtet. Dabei ist herauszustellen, dass dies keine Frage der mitwirkenden Gebrechen ist, sondern allein der Nachweis der haftungsbegründenden und haftungsausfüllenden Kausalität.

V. Zeitpunkt der Bemessung der Invalidität
1.

Nach der bereits angeführten Entscheidung des BGH vom 18.11.2015 (Az. IV ZR 124/15 – juris) ist für die Erstbemessung der Invalidität hinsichtlich Grund und Höhe auf den Zeitpunkt des Ablaufs der in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen vereinbarten Invaliditätseintrittsfrist abzustellen.

2.

Es bleibt aber selbstverständlich bei der Prognoseentscheidung für die Dauerhaftigkeit und die Bemessung, d. h., der zur vertraglich vereinbarten Invaliditätseintrittsfrist nach Grund und Höhe ermittelte „Mindestinvaliditätsgrad“ ist im Rahmen der Erstfeststellung zu regulieren.

3.

Dies ist dem Sachverständigen sowohl in der vorgerichtlichen Begutachtung als auch in der gerichtlichen Begutachtung vorzugeben. Der Sachverständige wird sich dabei, wie angeführt, insbesondere mit der Prognoseentscheidung zu befassen haben und nicht lediglich maßgeblich den Ist-Zustand bewerten dürfen. Nochmals ist darauf hinzuweisen, dass der Ist-Zustand allein die Basis darstellt. Eine Begutachtung, die diese Prognoseentscheidung vernachlässigt, leidet von vornherein an quantitativen und qualitativen Mängeln. Wenn der Ist-Zustand über beispielsweise 30 bis 40 Seiten dargestellt wird, am Ende der Sachverständige dann aber eine Empfehlung innerhalb von ein oder zwei Sätzen abgibt, wie sich der Zustand voraussichtlich dauerhaft entwickelt, birgt gerade diese Empfehlung, die der Versicherer dann regelmäßig zum Anlass nimmt, diesen Invaliditätsgrad zu regulieren, Streitstoff. Der Sachverständige muss sich also auch und insbesondere nachvollziehbar und ausführlich begründet mit dem Dauerschaden im Sinne des § 180 Satz 2 VVG in der Begutachtung auseinandersetzen. Wenn also beispielhaft eine Beeinträchtigung von aktuell 6/10 Armwert festgestellt wird, der Sachverständige aber am Ende des Gutachtens zu der Einschätzung gelangt, dass voraussichtlich dauerhaft nur 3/10 verbleiben, muss dem Gutachten entnommen werden können, woraus der Sachverständige die Reduzierung um 3/10 herleitet. Auch hier ist dann wieder mit der Bemessungsliteratur zu argumentieren.

I.

Erst und nur dann, wenn ein unfallbedingter Dauerschaden positiv festgestellt ist, wird der Sachverständige die Frage der Mitwirkung gemäß § 182 VVG und der Vorinvalidität zu betrachten haben, die nach dem Beschluss des BGH vom 18.01.2017 (Az. IV ZR 481/15 – juris) kumulativ berücksichtigt werden können.

II.

Dabei hat der BGH in der Entscheidung vom 19.10.2016 (a. a. O.) ausgeführt, dass auch klinisch stumm verlaufende Vorbeeinträchtigungen unter dem Tatbestand der Mitwirkung zu subsumieren sind, wenn nach sachverständiger Beratung feststeht, dass sich eine Vorbeeinträchtigung, die nicht der Norm entsprechend ist, auf die Unfallfolgen ausgewirkt hat, auch wenn diese zuvor klinisch stumm verlaufen ist.

Nach der Entscheidung des BGH vom 19.10.2016 (a. a. O.) ist ein Gebrechen bereits dann zu bejahen, wenn eine vorbestehende Schädigung nicht lediglich zu einer erhöhten Schadenanfälligkeit führt, sondern tatsächlich zur Verstärkung der Folgen des späteren Unfalls beigetragen hat. Unter diesen Voraussetzungen – so der BGH weiter – genügen demnach auch bislang klinisch stumm verlaufende degenerative Veränderungen den Anforderungen an das Vorliegen eines Gebrechens.

Und nur dies ist in Zukunft ausdrücklich von dem Gutachter zu beantworten, sodass sich als 4. Konsequenz in der medizinischen Fragestellung ergibt, dass der Sachverständige die Frage zu beantworten hat, ob die festgestellten „stummen“ Vorbeeinträchtigungen an den Folgen mitgewirkt haben, die in dieser Form ohne Vorbeeinträchtigungen nicht aufgetreten wären, ob also die Folgen bei „normalen“ Körperfunktionen nicht oder nicht in der Art aufgetreten wären.

III.

Wenn also eine außerhalb der Norm liegende Vorschädigung auch ohne zwischenzeitliche Beschwerden zur Verstärkung der gesundheitlichen Folgen eines späteren Unfalls beiträgt, so ist diese Beeinträchtigung als Gebrechen zu qualifizieren.

Zusammenfassend kann also den „Irrungen und Wirrungen des unfallbedingten Dauerschadens“ insoweit seriös begegnet werden, als der Sachverständige bei der Begutachtung durch die richtige Fragestellung sowohl des Auftraggebers als auch des Gerichts in die Lage versetzt wird, der Frage der haftungsbegründenden und haftungsausfüllenden Kausalität nachzugehen. Dabei ist insbesondere die Legaldefinition des § 180 Satz 2 VVG trotz der Rechtsprechung des BGH vom 19.10.2016 (a. a. O.) zur sogenannten „Gelegenheitsursache“ und vom 18.11.2015 (a. a. O.) zum Zeitpunkt der Bemessung nachzugehen. Erst und ausschließlich dann, wenn diese Kausalitäten bejaht worden sind, hat der Sachverständige die Frage einer Vorinvalidität und/oder eines mitwirkenden Gebrechens zu prüfen.