Was passiert mit den Kurden in der Türkei?

Die Kurdische Arbeiterpartei PKK steht auf der Terrorliste der EU. Sie schreckt vor Anschlägen nicht zurück - vor allem gegen die Türkei. Ankara reagiert militärisch. Wie steht es um den Anspruch der PKK, alle Kurden zu vertreten? Wie prägt die türkische Politik gegen die Kurden die internationale Politik?

Von Marion Sendker | 22.06.2022

Was passiert mit den Kurden in der Türkei?

Die PKK wird von der Türkei, den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft *Wir haben das ursprüngliche Bild durch ein passenderes ersetzt. (PantherMedia / daniel0 daniel0)

Anmerkung der Redaktion: Wir haben über verschiedene Kanäle Rückmeldungen zu diesem Beitrag erhalten. Vielen Dank für die Hinweise. Wir ergänzen das Stück um eine kurdische Perspektive, sobald die Interviews geführt sind.

Stockholm im Mai 2022: Dichter Rauch umhüllt die alte Regeringsgatan-Brücke. Hinter der grauen Dunstwand leuchtet es neon-rot: Zwei Menschen stehen auf der Brücke und schwenken Bengalos. Als sich der Rauch etwas verzieht, kommt eine riesige rote Fahne mit rotem Stern auf gelbem Kreis mit grüner Umrandung zum Vorschein: Die Flagge der PKK, einer revolutionären kurdischen Organisation, weht mitten in Stockholm. Die türkischen Fernsehsender zeigen ein Amateurvideo dieser Straßenszene, zuerst in Social Media veröffentlicht: Die Polizei sehe zu, wie die PKK Propaganda verbreite, heißt es bei einigen Sendern.

Dass die Organisation in Schweden wie in der gesamten EU verboten ist, solche Kundgebungen aber von der Versammlungs- und Meinungsäußerungsfreiheit gedeckt sind, wird in den türkischen Medien nicht gesagt. In den Tagen danach schafft es auch ein Amateurvideo aus Schweden ins türkische Fernsehen: Es zeigt Menschen, die auf den Straßen der schwedischen Hauptstadt für die PKK demonstrieren. Auf ihren Plakaten stehen Parolen wie „Nein zur Nato“.

Mit Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine hat in Schweden und Finnland ein Umdenken stattgefunden: Beide Länder wollen dem Militärbündnis beitreten. Nur die Türkei denkt wie die PKK-Demonstranten auf Stockholms Straßen: Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan legte ein Veto ein. Für ihn ist vor allem Schweden wortwörtlich eine „Brutstätte des Terrorismus“. Bei einer Fraktionsrede im Parlament wiederholte Erdogan Mitte Juni: „Wir werden unsere Haltung in der NATO-Frage niemals ändern, bis Schweden und Finnland klare Schritte im Kampf gegen den Terror unternehmen.“

Mit der Türkei und Schweden stehen sich zwei Staaten gegenüber, die unterschiedlicher kaum sein könnten: So wie es zur schwedischen Staatsräson gehört, Minderheiten jeder Art zu fördern – darunter auch kurdische Kulturvereine, die der PKK nahestehen sollen – ist der Kampf gegen die PKK Teil der türkischen Staatsräson. Das zeigt sich jedes Jahr auch im Nordirak, wo die Türkei – meistens im Frühling – mit militärischen Operationen gegen in den Bergen verschanzte PKK-Kämpfern vorrückt. Bei der aktuellen Aktion namens “Klauen-Verschluss" sind die türkische Luftwaffe und Bodentruppen im Einsatz.

Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar sprach den Truppen zu Beginn des Einsatzes Mut zu: „Ich hoffe, dass diese Operation wie geplant erfolgreich abgeschlossen wird. Wir sind entschlossen, unsere edle Nation vor der Geißel des Terrors zu retten, die das Land seit 40 Jahren heimsucht. Unser Kampf wird fortgesetzt, bis der letzte Terrorist neutralisiert ist.“ Unterstützt wird die türkische Seite dieses Mal auch durch die irakisch-kurdische Peschmerga. Sie ist der Autonomieverwaltung in der nordirakischen Stadt Erbil unterstellt. Deren Ministerpräsident Masrour Barzani will die PKK genauso vernichten, wie die Regierung in Ankara.

Kurden kämpfen gegen Kurden: In der Türkei, im Nordirak, in Nordostsyrien, Armenien und in Iran ist das üblich. In den Grenzregionen dieser Länder leben Kurden seit vermutlich mehreren tausend Jahren: Organisiert in Großfamilien, Klans und Stämmen, von denen viele seit ihrem Bestehen untereinander konkurrieren. Einen einheitlichen Kurdenstaat hat es nie gegeben, so wie es auch keine einheitliche kurdische Sprache gibt, sondern viele Dialekte. Kaum ein Kurde kann sie alle sprechen oder verstehen.

Daneben bestehen religiöse Unterschiede: Die meisten Kurden sind Sunniten, manche Schiiten und andere Aleviten – Anhänger einer unabhängigen Strömung im Islam, die viele Gemeinsamkeiten mit dem Christentum hat. Daneben gibt es – wenn auch in einer Minderheit – jesidische und assyrisch-christliche Kurden. Diesen Unterschieden zum Trotz sieht sich die PKK als Führerin aller Kurden. Für sie gibt es jedoch nicht deswegen keinen kurdischen Staat, weil es an einer national-ethnischen Einheit fehlt, sondern das gehe auf das Jahr 1923 zurück, als die Alliierten und die Türkei durch den Vertrag von Lausanne die Kurdengebiete auf die vier Staaten Iran, Irak, Türkei und Syrien aufteilten. Die Aussicht auf eine autonome Region war damit vorbei.

Für den Turkologen Walter Posch vom Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement der Landesverteidigungsakademie in Wien, ist das ein Baustein, mit dem PKK-Gründer Abdullah Öcalan den Mythos einer von außen zerstörten kurdischen Einheit kreierte: „So ein bisschen sieht das Öcalan auch: ‚Wir als Kurden waren ja eigentlich wirklich eine Solidargemeinschaft. Und dann sind irgendwelche Fremdlinge gekommen und haben das Land aufgeteilt in vier Teile.‘ Es stimmt hinten und vorne nicht und beantwortet auch nicht den Unterschied in den kurdischen Sprachen und in den Religionen und so weiter.“

Die PKK ist dabei erst lange nach dem Vertrag von Lausanne gegründet worden. Sie entstand im Jahr 1978 als Gegenreaktion zu der damals kurdisch-feindlichen Politik in der Türkei. Von Anfang an steht bei der Terrorgruppe nach außen der Kampf gegen die kulturelle Unterdrückung der Kurden im Vordergrund. In einem Interview Anfang der 90er-Jahre, ein paar Jahre vor seiner Inhaftierung, betonte Öcalan, worum es ihm beim Widerstand geht: „Der bewaffnete Kampf bedeutet nicht nur, dass Schüsse fallen, sondern er ist das höchste Verstehen der Ideologie – auch politisch. Ich glaube, für die Kurden ist der Kampf die einzige Möglichkeit, sie zusammen zu bringen.“

Diese Ideologie, von der Öcalan spricht, wird bei der PKK als radikale Demokratie mit Gleichberechtigung für Frauen und einem Sinn für Ökologie propagiert. Posch, der die PKK-Statuten untersucht hat, schüttelt den Kopf: „Das ist so demokratisch wie die DDR, weil die Werte Kommunismus und Demokratie sind in der türkischen Linken synonym. Also wenn die sagen, wir wollen eine demokratische Gesellschaft, fallen die naiven Westler darauf rein. Was sie wollen, ist eine kommunistische Gesellschaft.“

Was passiert mit den Kurden in der Türkei?

Ein Mitglied der mit der PKK verbundenen kurdischen Volksschutzeinheiten (YPG) im Norden Syriens. (AFP/Del)

Laut Posch will die PKK weniger eine kulturelle Koexistenz der verschiedenen kurdischen Gruppen, als ihre eigene Macht über alle Kurden zu legitimeren: „Das erste Ziel dieser Gruppen ist jetzt einmal zu überleben, nicht nur territorial. Und das zweite Ziel ist, den großen Verband aller PKK definierten Gruppen und Organisationen zu legitimieren, dass sie von den Terroristen wegkommen.“

In Europa, in der NATO, in den USA und in der Türkei steht die PKK auf Terrorlisten, weil sie auch dort Terroraktionen durchgeführt hat. In den USA ist sie zudem auf der Drogenhandelsliste. Dabei existiert die Gruppe streng genommen nicht mehr als „PKK“, sondern hat sich 2007 in die „Gesellschaft Union Kurdistans“, kurz KCK, umbenannt. Sie wirbt damit, föderalistisch zu sein. Posch bleibt skeptisch: „Das beruht auf ein konföderalistisches System, dass Im Endeffekt die zentrale Führung und den eigentlichen stalinistischen Aufbau der Organisation mit vielen föderalistischen Elementen kaschiert, nicht überwindet. Die Organisation schreibt in ihrer Verfassung auch, dass die Gedanken und das Erbe der PKK zentral sind. Und wenn man die Organisation genauer anschaut, dann bleibt die Guerilla-Führung.“

Der Kampf der PKK hat in ihrem mehr als 40-jährigen Bestehen mehr als 40.000 Tote gefordert. Das sind umgerechnet etwa drei Menschenleben pro Tag. Die Gewalt, die den Kurden einst als einziges Mittel gegen die Unterdrückung schien, ist zum tödlichen Trauma geworden, das heute viele der schätzungsweise 14 Millionen Kurden in der Türkei von der PKK trennt. Die Terrorgruppe schien nur so lange legitim, wie Kurden massiv unterdrückt und verfolgt wurden. Doch seitdem sie in den vergangenen Jahren unter der Erdogan-Regierung wieder mehr kulturelle Rechte bekommen haben, wie dass sie ihre Sprachen sprechen und unterrichten dürfen, wollen die meisten Kurden in der Türkei keinen Krieg mehr mit dem türkischen Militär. Einen autonomen Staat möchten laut einer Umfrage der Istanbuler Kadir-Has-Universität aus dem Jahr 2020 auch nur noch gut 17 Prozent der befragten Kurden in der Türkei.

Viele sind nach den Vertreibungen der 1990er-Jahre aus dem eher kurdischen Südosten des Landes in Metropolen wie Istanbul gezogen. Dort, weit weg von dem Konflikt mit der PKK, würden sie gut leben, sagt Ercan Citlioglu, ehemaliger General und Terrorberater des türkischen Militärs mit Schwerpunkt PKK. Viele Kurden würden sogar die Partei von Erdogan, die AKP, unterstützen. Citlioglu vergleicht die Kurden in der Türkei mit einer Zwiebel: „Die Zwiebel sieht ganz aus, aber schälen Sie mal Schicht für Schicht ab. Zuerst die Schicht, die die PKK nicht unterstützt, dann die, die für Erdogans AKP gestimmt haben, und dann die Schicht der Kurden, die für andere Parteien gestimmt haben. Dann die, die mit der PKK sympathisieren, sich aber in keiner Weise an ihren Aktionen beteiligt. Am Ende haben Sie noch einen sehr kleinen Teil der Zwiebel übrig. Was ist das? Die PKK.“

Bedrohlich sei die PKK der Türkei vor allem aus den Nachbarländern Syrien und Nordirak. Dort liegt einem Europol-Bericht zufolge auch ihre Haupteinnahmequelle: PKK-Einheiten und Verbündete kontrollieren wichtige Straßen und regionale Grenzübergänge. Über Hilfeleistung bei illegaler Einwanderung, Drogen- und Menschenhandel verdient die Terrororganisation demnach viel Geld.

Um die Lage zu verstehen, rät der Geoanalyst Michaël Tanchum aus Washington DC vom Economics and Energy Program of the Middle East Institute sich zuerst den Irak auf der Landkarte anzuschauen. Startpunkt: die nordirakische Universitätsstadt Kirkuk: „Von dort aus geht man weiter nach Süden und Osten, zur iranischen Grenze. Diagonal parallel zum kurdischen Gebiet im Nordirak gibt es auch Kurden, bis nach Sindschar. Und das ergibt einen Korridor, der von der Grenze Irans durch den Irak bis zur Grenze Syriens direkt entlang der Südgrenze der Türkei verläuft.“

Was passiert mit den Kurden in der Türkei?

Die Ölstadt Kirkuk liegt im Nordirak (Screenshot von Google Maps vom 09.11.2017)

Dieser Korridor sei eine wichtige Schwachstelle für Ankara, da darüber direkte Hilfe aus Iran für PKK-Fraktionen sowohl im Irak als auch in Syrien kommen könne. „Die Türkei hat sehr ernsthafte Interessen in Bezug auf die PKK und ihre angegliederte Organisation. Und die werden meines Erachtens von Europa und anderen Seiten unterschätzt.“

Um diesen Korridor zu zerschlagen, arbeite Ankara eng mit Iraks kurdisch-irakischer Autonomiebewegung von Ministerpräsident Barzani zusammen. Die habe wiederum eigene Interessen an der Kooperation: Konkurrierende PKK-Kurden und damit verbundene Unruhen im eigenen Gebiet verhindern, sich gegen Einfluss aus Iran schützen und ein gutes Verhältnis mit der Türkei aufrechterhalten. Diese ist für Barzani das einzige, sichere Tor in die Welt, um nordirakisches Gas und Öl zu verkaufen. Außerdem können die Barzani-Kurden sich so auch international einen Namen machen, als kurdischer Gegenpart zur PKK, der mit der Terrororganisation nichts zu tun hat.

Mit kurdischen Terroristen zu kooperieren, das wirft die Türkei vor allem den USA vor. Washington unterstützt zwar nicht die PKK im Nordirak, dafür aber ihre Schwesterorganisation YPG in Nordostsyrien. Deren politischer Arm, die PYD, sieht sich laut eigener Satzung als Teil der PKK und kontrolliert seit etwa zehn Jahren ein de facto autonomes Gebiet an der Grenze zur Türkei: Rojava. Neben Kurden leben dort Araber und Assyrer. Rojava genießt weltweit viel Zuspruch – nur der Türkei ist das Projekt ein Dorn im Auge. Für Ankara sind YPG und PYD wie die PKK: Terrororganisation. Andere Länder sehen die syrisch-kurdischen Einheiten dagegen als wichtigen Verbündeten im Kampf gegen den Islamischen Staat.

Am Rande der Internationalen Sicherheitskonferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung in Istanbul Ende Mai gibt der frühere US-Botschafter im Irak und in Syrien, James Jeffrey, aber zu: „Das Problem ist, dass die USA als Verbündete in Nordostsyrien seit 2014 mit einer Organisation mit Verbindungen zur PKK zusammengearbeitet hat: Das ist die YPG und umbenannt bei uns Amerikanern ist es die SDF, Syrische Demokratische Kräfte. Sie sind assoziiert mit der PKK, sie sind mehr oder weniger die PKK-Abteilung für Syrien seit langem.“

Jeffrey hat selbst mit dem Ableger der PKK in Syrien gearbeitet. Die Kurden seien sehr gut im Kampf gegen den Islamischen Staat gewesen, deswegen habe Washington keine eigenen Truppen geschickt. „Dass wir mit der YPG operieren, verlangt gewisse Spielregeln. Das Problem ist aber, dass es in der YPG viele tausende Soldaten gibt, die mit der PKK verbunden sind und auch von ihr kontrolliert werden. Und: Niemand weiß, ob wir mit unseren Soldaten in der Gegend bleiben werden.“

Die PKK sei jetzt ein Staat innerhalb eines Staates im Nordirak und in Teilen Syriens und damit eine ernstzunehmende Bedrohung für die Türkei, sagt Jeffrey, denn: „Das ist auch ein Spielzug für die Russen, Assad-Regierung und Iraner, um Druck auf Ankara auszuüben. Die PKK hat in der Vergangenheit diese Rolle gespielt und ist durchaus fähig, diese Rolle in Zukunft auch zu spielen.“ Jeffrey spielt auf die Rolle der PKK und den mit ihr verbundenen Gruppen als Truppen in einem Proxy-War an – also einem Stellvertreterkrieg. Der türkische Militärexperte Citlioglu nennt das eine neuere Kriegs-Mode:

„Gewaltanwendung eines Staates gegen einen Staat wird nicht akzeptiert. Was ist also zu tun? Die Staaten müssen zurücktreten und eine Marionettenorganisation auf die Bühne bringen. Daher benutzen die USA oder auch Frankreich die PKK und die YPG. Ebenso ist die von der Türkei in Syrien gebildete syrische Nationalarmee Protagonist eines Stellvertreterkriegs. Und der hat für die Staaten keine Kosten. Es gibt keine völkerrechtliche Sanktion, wenn ein Kriegsverbrechen begangen wird.“

Auf dem Feld seien auch Deutsche, Franzosen und andere Europäer. Sie stünden als Kämpfer, Ärzte oder Ingenieure auf der Seite der PKK und der YPG. Die deutschen Behörden wüssten das. Offiziell halten sie sich bisher aus dem Konflikt mit der PKK und der YPG soweit es geht raus. Der Vorsitzende der Münchener Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, findet, dass es aktuell dringendere, außenpolitische Themen gibt. Außerdem sei das Selbstverständnis deutscher Außenpolitik allgemein eher zurückhaltend.

Ein aktives Einmischen in Syrien oder im Irak dürfte nicht ganz ohne Kosten für die Sicherheitslage in Deutschland kommen. Die Zurückhaltung Berlins sei daher auch der komplexen Interessenlage geschuldet, analysiert der Experte für Sicherheitspolitik: „Weil es immer wieder das Potenzial hat, dass diese Streitigkeiten dann auch in Deutschland auf deutsche Straßen geholt werden. Sollen wir uns da einmischen? In etwas, wo wir Gefahr laufen, dass wir uns entweder PKK-Terroristen zum Feinde machen oder dass wir Ankara gegen uns aufbringen?“

Wenn es um die PKK geht, hat Deutschland das schon längst. Präsident Erdogan warf zuletzt auch Berlin Terrorunterstützung vor: Etwa wegen PKK-Demonstrationen und nicht ausgelieferten mutmaßlichen PKK-Sympathisanten. Der CDU-Außenpolitiker und Oberst a.D. Roderich Kiesewetter verteidigt das mit den Regeln des deutschen Rechtsstaates. Außerdem wirke die türkische Regierung im Umgang mit kurdischen Belangen oft rücksichtslos. Was die YPG angeht, hat er eine ganz andere Meinung:„Für uns ist sie jemand, der die Freiheitsrechte in Nordsyrien noch aufrechterhält gegen das brutale Assad-Regime. Also hier müssen wir uns vielleicht auch selber noch einmal intensiv auseinandersetzen, wie die wirklichen Verflechtungen sind. Aber grundsätzlich Freiheitsbewegungen der Kurden auch in Syrien als Terrorgruppen zu bezeichnen, halte ich für falsch.“Wenn es um eine Gesamtbetrachtung aller Kurden-Organisationen geht, dann kommen der Westen und die Türkei in der PKK-Frage nicht zusammen: In der EU und in den USA sind die Grenzen zwischen Terror, militärischem Pragmatismus und dem Gedanken eines Freiheitskampfes für alle Kurden weltweit fließend.

Für den Turkologen Posch ist es deshalb eine mehrfache Katastrophe, dass ausländische Kräfte aus Mangel an eigenen Truppen auf die YPG zurückgreifen. Sie würden dabei vergessen, dass sie auch den ideologischen Akteur – die PKK – legitimieren: Einmal diplomatisch, was die Türken so wütend mache. Aber auch das Völkerrecht werde ad absurdum geführt, weil die YPG Teil einer verbotenen Terrororganisation sei. Und schließlich wirke sich die Kooperation militärisch auf die Region aus, da die YPG vom Westen gut ausgerüstet werde:

„In den politischen Eliten sollte mal die Erkenntnis reifen, dass die Kurdenfrage weg ist von der Fußnotenproblematik. Zweitens: Aufhören, das ganze romantisch zu sehen. Es ist eine extrem brutale Angelegenheit in einem extrem brutalen Umfeld. Die militärisch schlagfertigsten Gruppen sind aber nicht immer die nettesten. Und da muss man mal die eigenen Werte zurechtrücken.“

Ansonsten werde der Westen auch den Kurden nicht gerecht, die sich von der PKK distanzieren. Andererseits kann Posch die europäische Zurückhaltung zu diesem Zeitpunkt nachvollziehen: Wenn der Westen jetzt die kurdische YPG fallen lasse, drohten nicht nur Unruhen von PKK-Sympathisanten in europäischen Metropolen, sondern in Syrien und im Irak könnten sich die Machtverhältnisse derart verschieben, dass Europa mit vielen Flüchtlingen rechnen müsse. Der ehemalige General Citlioglu sagt, dass die Türkei aber die politische wie gesellschaftliche Unterstützung aus dem Ausland brauche. Aus 40 Jahren Kampf gegen die PKK hat er gelernt, dass Staaten an sich zu schwerfällig und der militärische Kampf alleine nicht ausreichend sind:„Die Kriegstaktiken konventioneller Armeen und die Taktiken terroristischer Organisationen sind völlig verschieden. Wir vergleichen Staaten mit einem Tanker von 300 Metern Länge. Schiffe dieser Größe können kaum ihren Kurs ändern, terroristische Organisationen aber sind wie Schnellboote. Sie können sich jederzeit anpassen. Es gibt auch Regeln, die Staaten binden, aber keine, die terroristische Organisationen binden. Denn sie kämpfen ja gegen diese Regeln.“

Die Frage nach PKK und YPG ist längst nichts mehr, was die Türkei alleine beantworten kann – egal, wie oft ihre Armee noch gegen sie in den Kampf zieht. Die PKK wird wohl erst mal bleiben. In der Zwischenzeit aber dürfte der Konflikt über den Umgang mit der Terrorgruppe nur komplizierter werden – was eine friedliche Lösung ohne Folgeprobleme unwahrscheinlicher macht.