Warum kamen die ersten Gastarbeiter nach Deutschland?

Im Oktober 1961 schloss Deutschland ein Anwerbeabkommen mit der Türkei. Die Migration von türkischen "Gastarbeiter*innen" hat die Bundesrepublik seitdem geprägt. Wir haben Zeitzeug*innen auf einer Medien-Tour gesprochen. Und die wichtigsten Zahlen und Fakten zum Thema zusammengestellt

Warum kamen die ersten Gastarbeiter nach Deutschland?

Harte Arbeit und kaum Zeit für einen Deutschkurs: Davon berichteten die ehemaligen "Gastarbeiter*innen" Sevim Basalan und Coşkun Taş auf der Medien-Tour in Köln (hier vor einem Vorführ-Wagen von Ford). Foto: Thomas Lobenwein

Rund 2,8 Millionen Menschen mit Wurzeln in der Türkei leben heute in Deutschland. Am Anfang der türkischen Migration stand das Anwerbeabkommen für "Gastarbeiter" von 1961. Bis zum Anwerbestopp 1973 kamen rund 900.000 Arbeitnehmer*innen aus der Türkei. Wie war das damals für die Menschen, die nach Deutschland kamen?

Sevim Basalan, ehem. "Gastarbeiterin" bei Ford

"Ich kam 1969 nach Deutschland. Mit dem Zug fuhren wir damals zwei Tage lang von Istanbul aus. Frauen und Männer getrennt. In unserem Waggon waren die Toiletten kaputt. Ich habe zwei Tage auf meinem Platz gesessen. Und ich habe nichts gegessen, um nicht auf die Toilette zu müssen. Als ich ankam, arbeitete ich zuerst in Ravensburg. Ab 1970 dann bei Ford in Köln in der Polsterei. Bei Ford arbeiteten damals fast 8.000 türkische Arbeitskräfte. Einen Sprachkurs gab es damals nicht. Beim Einkaufen haben wir uns mit Händen und Füßen verständigt. Mein Bruder war bereits in Deutschland. Und als junge Frau wollte ich auch nach Deutschland, um hier besser zu verdienen. Ich habe meine Familie in der Türkei zurückgelassen und wollte in Deutschland eine neue Familie gründen. Und das habe ich gemacht. Ich habe drei "Kölsche Mädchen" bekommen."

Coşkun Taş, Ex-Fußballer beim 1. FC Köln und ehemaliger "Gastarbeiter" bei Ford

"Ich kam 1959 nach Deutschland, also noch vor dem Anwerbeabkommen. Ich hatte als Fußballprofi unter anderem in der türkischen Nationalmannschaft gespielt. Und ich wollte zu einem deutschen Verein. Also fuhr ich mit dem Zug nach Köln. Am Hauptbahnhof angekommen, rief ich beim 1. FC Köln an und sagte, dass ich da sei. Die waren überrascht. Dann holte mich die Frau des Vereinspräsidenten vom Bahnhof ab. Und dann spielte ich fast zwei Jahre lang für den 1. FC Köln. In der Endrunde um die Meisterschaft 1960 schoss ich drei Tore. Aber im Finale durfte ich nicht spielen. Ein Verantwortlicher sagte mir später, warum. Es sollten nur deutsche Spieler in einem deutschen Finale spielen. 1962 fing ich dann bei Ford an als einer der ersten türkischen Gastarbeiter. Später war ich dann als Leiter in der Verkaufsabteilung. 1993 ging ich nach 31 Jahren bei Ford in Rente."

Warum kamen die ersten Gastarbeiter nach Deutschland?
Sevim Basalan in den Ford-Werken in Köln. Foto: Thomas Lobenwein

Warum kamen die ersten Gastarbeiter nach Deutschland?
Sevim Basalan und Coşkun Taş auf der Medien-Tour in Köln vor einem Vorführ-Wagen. Foto: Thomas Lobenwein

Warum kamen die ersten Gastarbeiter nach Deutschland?
Coşkun Taş, ehemaliger Fußballprofi und "Gastarbeiter". Foto: Thomas Lobenwein

Warum kamen die ersten Gastarbeiter nach Deutschland?
Sevim Basalan ging als junges Mädchen 1969 nach Deutschland. Foto: Thomas Lobenwein

Warum kamen die ersten Gastarbeiter nach Deutschland?
Sevim Basalan und Coşkun Taş haben beide bei Ford gearbeitet. Foto: Thomas Lobenwein

Warum kamen die ersten Gastarbeiter nach Deutschland?
"Gastarbeiterin" Sevim Basalan. Foto: Thomas Lobenwein

Warum kamen die ersten Gastarbeiter nach Deutschland?
Viele "Gastarbeiter*innen" berichten, dass sie neben der Arbeit kaum Zeit hatten für Deutschkurse. Foto: Thomas Lobenwein

Der MEDIENDIENST hat die wichtigsten Fragen und Antworten zum Anwerbeabkommen mit der Türkei zusammengestellt (bitte auf die Fragen klicken):

Ab Mitte der Fünfzigerjahre schloss die Bundesrepublik "Anwerbeabkommen" mit mehreren Staaten. Das Ziel: Arbeitskräfte aus dem Ausland sollten vorübergehende Engpässe im beginnenden Wirtschaftsboom überbrücken. Die Initiative für die Abkommen ging meist von den "Anwerbestaaten" aus, die sich davon Devisen versprachen und eine Entlastung der eigenen Arbeitsmärkte.QuelleBundeszentrale für politische Bildung (2014): Die Anwerbung türkischer Arbeitnehmer und ihre Folgen, Link

Die Bundesrepublik schloss Abkommen zum Beispiel mit Italien (1955), Griechenland (1960), Spanien (1960) oder Portugal (1964). Das zahlenmäßig bedeutsamste Abkommen wurde am 30. Oktober 1961 mit der Türkei geschlossen.QuelleBundeszentrale für politische Bildung (2014): Die Anwerbung türkischer Arbeitnehmer und ihre Folgen, Link

Am 30. Oktober 1961 schlossen Deutschland und die Türkei ein Anwerbeabkommen für "Gastarbeiter". Bis zum Anwerbestopp 1973 kamen rund 867.000 Arbeitnehmer*innen aus der Türkei.  Rund 500.000 kehrten in dieser Zeit in die Türkei zurück. Von allen "Gastarbeiter*innen" waren rund ein Drittel Frauen. Nach dem Anwerbestopp gewann der Familiennachzug an Bedeutung. Rund 53 Prozent der zugewanderten türkeistämmigen Menschen, die heute in Deutschland leben, sind über den Familiennachzug nach Deutschland gekommen.QuelleBundeszentrale für politische Bildung (2014): Die Anwerbung türkischer Arbeitnehmer und ihre Folgen, Link ; Mattes (2008): Migration und Geschlecht in der Bundesrepublik Deutschland, Seite 2

In den ersten Jahren nach den Anwerbeabkommen arbeiteten die "Gastarbeiter*innen" vor allem als gering qualifizierte Arbeitskräfte in Fabriken, wo schwere und schmutzige Arbeit getan werden musste. Ein wichtiger Arbeitgeber war die Automobilindustrie. So arbeiten zum Beispiel rund 8.000 türkische Arbeitskräfte in den Kölner Ford-Werken. Die Gastarbeitermigration sorgte dafür, dass 2,3 Millionen deutsche Arbeiter*innen in besser bezahlte Positionen von Angestellten aufsteigen konnten. QuelleLandesgeschichtliches Informationssystem Hessen: Zeitgeschichte in Hessen / Gastarbeiter, Link: Heckmann, Friedrich (1992): Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, ab Seite 79 

Im Jahr 2020 lebten in Deutschland insgesamt 2,75 Mio. Menschen mit türkischem Migrationshintergrund. Darunter hatten etwas mehr als die Hälfte der Menschen die deutsche Staatsbürgerschaft (1,44 Millionen) und etwas weniger als die Hälfte die türkische Staatsbürgerschaft (1,31 Millionen). Rund 206.000 Rentner*innen mit türkischem Migrationshintergrund leben in Deutschland (65 Jahre alt oder älter). Im Jahr 2015 waren es noch 208.000.QuelleAntwort des Statistischen Bundesamtes auf Anfrage des Mediendienstes sowie Mikrozensus 2020 (2021), Mikrozensus 2015, Tabelle 2I

Viele "Gastarbeiter*innen" verdienten weniger als ihre deutschen Kolleg*innen. Das wirkt sich heute auch auf ihr Rentenniveau aus. In  einer Untersuchung von 2014 zeigte sich: Türkische Staatsangehörige in Deutschland hatten ein höheres Armutsrisiko. Und sie bekamen im Schnitt weniger Rente. Türkische Rentner bekamen 370 Euro weniger Altersrente als deutsche Rentner.QuelleWSI-Report (2014): Die Gastarbeiter, Seite 14, Link

Von Carsten Wolf

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