Schluss mit der gleichmacherei. wer mehr arbeitet, soll auch besser leben.

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Josef Stalin (1879-1953)

sowjetischer Politiker und Diktator

Überprüft

  • "Der Staat ist eine Maschine in den Händen der herrschenden Klasse zur Unterdrückung des Widerstands ihrer Klassengegner. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Diktatur des Proletariats im Grunde genommen durch nichts von der Diktatur jeder anderen Klasse, denn der proletarische Staat ist eine Maschine zur Niederhaltung der Bourgeoisie." - Werke Band 6, "Über die Grundlagen des Leninismus, IV. Die Diktatur des Proletariats"
  • "Was wäre die Folge, wenn es dem Kapital gelänge, die Republik der Sowjets zu zerschlagen? Eine Epoche der schwärzesten Reaktion würde über alle kapitalistischen und kolonialen Länder hereinbrechen, man würde die Arbeiterklasse und die unterdrückten Völker vollends knebeln, die Positionen des internationalen Kommunismus würden liquidiert." - Werke Band 9, S. 29, "Noch einmal über die sozialdemokratischen Abweichungen in unserer Partei, III. Die Meinungsverschiedenheiten in der KPdSU", Rede am 7.Dezember 1926 auf dem VII. erweiterten Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale

Zugeschrieben

  • "Das Recht auf ein gescheitertes Leben ist unantastbar."
  • "Der Tod eines einzelnen Mannes ist eine Tragödie, aber der Tod von Millionen nur eine Statistik."
  • "Es gilt, die deutsche Bestie zu besiegen. Sie zu erwürgen und nie wieder erstarken zu lassen." - in einer Ansprache an Arbeiter der Kaleko-Werft
  • "Gedanken sind mächtiger als Waffen. Wir erlauben es unseren Bürgern nicht, Waffen zu führen - warum sollten wir es ihnen erlauben, selbständig zu denken?"
  • "In der Sowjetischen Armee erfordert es mehr Courage zurückzuweichen als vorzurücken."
  • "In Deutschland wird es keine Revolution geben, weil man dazu den Rasen betreten müsste."
  • "Man muss den Feind verstehen, um ihn bekämpfen zu können."
  • "Schluss mit der Gleichmacherei. Wer mehr arbeitet, soll auch besser leben."
  • "Wie viele Divisionen hat der Papst?"
  • (Original engl.: "Mr. Prime Minister, how many divisions did you say the Pope had?") - Laut Harry S. Truman soll dieser Satz auf der Potsdamer Konferenz Juli/August 1945 gefallen sein, als Churchill einwand, daß der Papst mit der Annexion Ostpolens nicht einverstanden sein würde (New York Times, 14. September 1948). Andere Teilnehmer bestreiten, daß diese Erwiderung gefallen ist.
  • "Wenn ich einmal nicht mehr bin, werden euch die Imperialisten ersäufen wie einen Wurf junger Katzen."

Zitate mit Bezug auf Stalin

  • "Bei Stalin war jedes Verbrechen möglich, denn es gibt kein einziges Verbrechen, das er nicht begangen hätte. Mit welchem Maß wir ihn auch messen wollen, ihm wird jedenfalls... der Ruhm zufallen, der größte Verbrecher der Geschichte zu sein." - Josip Broz Tito, 1962
  • "Den Unterdrückten von fünf Erdteilen, denen, die sich schon befreit haben, und allen, die für den Weltfrieden kämpfen, muss der Herzschlag gestockt haben, als sie hörten, Stalin ist tot. Er war die Verkörperung ihrer Hoffnung. Aber die geistigen und materiellen Waffen, die er herstellte, sind da, und da ist die Lehre, neue herzustellen." - Bertolt Brecht
  • "Die Linken waren immer auf der falschen Seite. Sie waren gegen Hitler, aber nicht gegen Stalin." - Silvio Berlusconi, La Repubblica, 3. Februar 2005
  • "Die Menschen konnten seinem Einfluss nicht widerstehen. Als er den Raum der Konferenz von Jalta betrat, erhoben wir uns alle, buchstäblich wie auf Kommando. Und, so seltsam es ist, wir legten die Hände an die Hosennaht. Stalin besaß einen tiefschürfenden, gründlichen und logischen Verstand. Er war ein unübertroffener Meister darin, in schweren Momenten einen Ausweg aus der ausweglosesten Lage zu finden." - Winston Churchill
  • "Dieser Mann kann handeln. Er hat immer das klare Ziel vor Augen. Mit ihm zu arbeiten, ist ein Vergnügen. Es gibt keine Umständlichkeiten. Er legt die Frage dar, die er diskutieren will, und davon wird in keiner Hinsicht mehr abgewichen." - Franklin D. Roosevelt
  • "Er gilt durchweg als ein sauber lebender Mensch, bescheiden, zurückhaltend, zielbewusst, ein Mann von eingleisigem Denken, dessen Sinnen und Trachten auf den Kommunismus und die Hebung des Proletariats gerichtet ist." - Joseph E. Davis, "Als US-Botschafter in Moskau, 1943, S. 144
  • "Er hat einen gescheiten Humor. Und einen großen Geist. Scharfsinnig, durchdringend klug und vor allem, so empfinde ich ihn, weise. Wenn Du Dir eine Persönlichkeit ausmalen kannst, die in allen Stücken das volle Gegenteil von dem ist, was der rabiateste Stalingegner sich auszudenken vermochte, dann hast du ein Bild dieses Mannes." - Joseph E. Davis, "Als US-Botschafter in Moskau, 1943, S. 276
  • "Er war ein Mann, der seinen Feind mit den Händen seiner Feinde vernichtete, der uns, die er offen Imperialisten nannte, zwang, gegen Imperialisten zu kämpfen. Er übernahm das Russland des Hakenpflugs und hinterließ es im Besitz der Atomwaffe." - Winston Churchill
  • "Er war eine herausragende Persönlichkeit, die in unserer rauhen Zeit, in der Periode in der sein Leben verlief, imponierte. Stalin war ein außergewöhnlich energischer, belesener und äußerst willensstarker Mann, heftig, schroff, schonungslos in der Sache, wie im Gespräch, dem selbst ich, der ich im englischen Parlament groß geworden bin, nichts entgegenzusetzen vermochte." - Winston Churchill
  • "In seinen Werken spürte man eine hünenhafte Kraft. Stalins Kraft war so groß, dass er unter den Führern aller Völker und Zeiten nicht seinesgleichen kennt." - Winston Churchill
  • "Man kann nicht zugleich Mörder und Genius sein. Einerlei, welche Motive Stalin leiteten, die Hinrichtung Tausender war ein fürchterliches Verbrechen." - Nikita Chruschtschow, Chruschtschow erinnert sich, Vorrede
  • "Solange es Öko-Stalinisten und ehemalige Terroristen wie Umweltminister Jürgen Trittin und Außenminister Joschka Fischer gibt, machen schwarz-grüne Bündnisse keinen Sinn." - Michael Glos
  • "Stalin ist der Totengräber der Revolution." - Leo Trotzki, während der Auseinandersetzung um Lenins Nachfolge
  • "Stalin ist zu grob, und dieser Fehler, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte, und jemand anderen an diese Stelle zu setzen, der sich in jeder Hinsicht von dem Genossen Stalin nur durch einen Vorzug unterscheidet, nämlich dadurch, daß er toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer, weniger launenhaft usw. ist." - Lenin, Brief an den XII. Parteitag - Nachschrift vom 4. Januar 1923
  • "Stalin war, das muß sachlich festgestellt werden, eine sehr große Persönlichkeit, der geniale Züge nicht abzusprechen sind. Politisch war er ein eiskalter und kluger Führer der Sowjetunion, der unter schwierigsten Umständen stets die Interessen seines Landes und seiner Partei vor Augen hatte ..." - Otto von Habsburg, Damals begann unsere Zukunft, S. 133
  • "Wenn sie mich 1939 zum Tode verurteilt hätten, wäre das die richtige Entscheidung gewesen. Ich hatte geplant, Stalin zu töten und das war ein Verbrechen, oder? Als Stalin noch lebte, sah ich das anders, aber jetzt, wo ich das ganze Jahrhundert überblicken kann, sage ich: Stalin ist die größte Persönlichkeit dieses Jahrhunderts gewesen, das größte politische Genie. Ein wissenschaftlicher Standpunkt jemanden gegenüber, muss nicht dem persönlichen Verhalten entsprechen." - Alexander Sinowjew, 1993
  • "Wenn Stalin sagt: »Tanze!«, dann tanzt ein kluger Mann." - Nikita Chruschtschow

Anmerkungen

Schluss mit der gleichmacherei. wer mehr arbeitet, soll auch besser leben.

1. Gleichheit und Gerechtigkeit im sowjetischen Gesellschaftsentwurf
 

In der Sowjetunion gab es zu keiner Zeit den Anspruch, soziale Gleichheit herzustellen. Selbst im Credo „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ steckte kein Egalitarismus, sondern die Betonung der Unterschiedlichkeit aller Menschen. Umso mehr galt dies für die Umdeutung dieses Satzes in den 1920er-Jahren zu „Jedem nach seiner Leistung“ bzw. dem radikalen „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“.1 Für die Übergangszeit bis zur Schaffung einer kommunistischen Gesellschaft bekam bei der Verteilung von Gütern nicht das Prinzip des Bedürfnisses erste Priorität, sondern das der Leistung. Gleichzeitig bezog die kommunistische Utopie einen Teil ihrer Anziehungskraft jedoch aus dem Versprechen, eine gerechte Gesellschaft zu erbauen, in der alle Menschen über die gleichen Rechte und gleichen Möglichkeiten verfügen würden. Insofern bestand von Beginn an ein Spannungsverhältnis zwischen dem allgemeinen Gleichheitspostulat und dem Leistungsprinzip. Das bestätigte nochmals die Verfassung von 1977, die beide Prinzipien betonte und jedem einen absoluten Stellenwert zuordnete.2

Dieses Spannungsverhältnis öffnete Raum für das Gespräch über Ungleichheit (neravenstvo) und Ungerechtigkeit (nespravedlivost‘), wobei letztere als Begriff im offiziellen Diskurs über die soziale Situation im Land nicht vorkam. Ungerechtigkeit galt als ein Zustand der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, hervorgerufen durch den Besitz der herrschenden Klasse an den Produktionsmitteln. Alle sozialen Zugeständnisse, die in den kapitalistischen Staaten gemacht wurden, konnten von einem strengen kommunistischen Standpunkt aus an der grundsätzlich ungerechten Situation nichts ändern. Sozialstaatliche Maßnahmen wurden als Camouflage kritisiert, verdeckten sie doch das Ausbeuterische des kapitalistischen Systems und stabilisierten es zumindest vorläufig. In der Sowjetunion dagegen habe die Oktoberrevolution mit der Verstaatlichung der Produktionsmittel eine völlig andere Eigentums- und Herrschaftsordnung hervorgebracht, in der die Gründe für Ungerechtigkeit beseitigt seien. Der Anspruch, die Grundlagen für eine gerechte Ordnung gelegt zu haben, war umfassend und betraf alle Bereiche der Gerechtigkeit.3 Insbesondere bestand der Anspruch, die politische Gerechtigkeit, also die Legitimation von Herrschaft, ihre Begrenzung und Kontrolle, durch die Volksherrschaft und die Führungsrolle der Partei gewährleistet zu haben. Die politische Gerechtigkeit stand damit nicht mehr zur Debatte, zumal für diesen Bereich unanfechtbar das Gleichheitsprinzip galt.

Für die soziale Gerechtigkeit dagegen sah die Situation anders aus, denn wegen des Mangels an vielen lebensnotwendigen Gütern musste die Frage ihrer Verteilung ständig aufs Neue beantwortet werden. Für den Gesellschaftsentwurf stellte soziale Ungleichheit kein prinzipielles Problem dar. Sie ließ sich einerseits mit dem Übergangsstatus der sozialistischen Ordnung erklären, in der noch kein Überfluss an Gütern herrschte, andererseits entstand sie zwangsläufig aus dem grundlegenden Ansatz, dass Arbeit und Leistung des Einzelnen eine entsprechende Entlohnung nach sich zögen. Ungleichheit war auch ein Thema der sowjetischen Soziologie, denn die Analysen unterschiedlicher Lebensstandards und Gehaltsniveaus gaben Aufschluss über die Stratifikation der Gesellschaft und ihre Entwicklung auf dem Weg hin zu einer klassenlosen Gesellschaft. Problematisch für die Legitimation der Ordnung dagegen wurde ein ungleicher Zustand erst dann, wenn er als zu ungerecht empfunden und als solcher auch thematisiert wurde. Für diese Befunde jedoch entwickelte die quantitative Soziologie keine Ansätze. Versuche einer kritischen Interpretation von Untersuchungsergebnissen wurden gezielt unterbunden. Daraus erklärt sich, dass es in der Sowjetunion zwar Debatten über Ungleichheit gab, dass der Begriff „Gerechtigkeit“ dabei aber nicht auftauchte und die grundsätzliche Gerechtigkeit der Ordnung schon gar nicht in Frage gestellt werden durfte.4

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Untersuchungen zur Ungleichheit, seien sie zeitgenössisch soziologische oder rückblickend historische, leisten einen wichtigen Beitrag zur Beurteilung einer gesellschaftlichen Situation. Es stellt sich aber die Frage, mit welchem Maßstab die gewonnenen Ergebnisse gewertet werden können. Letztlich steht hinter der Frage nach Gleichheit und Ungleichheit die Frage nach dem gerechten, guten, richtigen Zustand einer sozialen Ordnung und damit nach ihrer Stabilität sowie nach der Zustimmung, die sie von ihren Bürgern erfährt. Die Feststellung jedoch, dass beispielsweise die Mindest- und Höchstlöhne in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen, oder dass eine genau bezifferte Prozentzahl von Bürgern unter der (wie auch immer definierten) Armutsgrenze lebt, sagt etwas über die Verteilung von Eigentum in der Gesellschaft aus, jedoch wenig über die Akzeptanz dieser Situation. Hilfreicher ist die Annahme, dass Ungleichheit kaum problematisch ist, solange die Bürger sie mehrheitlich als gerechtfertigt empfinden. Dies ist gegeben, wenn einerseits grundsätzliche Gleichheitsprinzipien berücksichtigt sind und andererseits Verteilung auf eine Weise geregelt ist, dass sie den Anstrengungen des Einzelnen gerecht wird und gleichzeitig die Kluft zwischen den Lebensverhältnissen und Lebenschancen nicht zu groß werden lässt. Wie dies im Einzelnen verwirklicht wird, hängt von Vereinbarungen ab, die in einer Gesellschaft getroffen werden und die hier in ihrer Gesamtheit als „Gerechtigkeitskonzeption“ bezeichnet werden. Um also zu verstehen, wie in einem bestimmten sozialen Kontext Ungleichheit erfahren und beurteilt wird, muss man zunächst eine Vorstellung davon haben, welche Gerechtigkeitskonzeption von einer Mehrheit der Bevölkerung angenommen wird und welche Leitmotive ihr zugrunde liegen. Die folgenden Ausführungen basieren auf dieser Grundannahme.5

Ungleichheit in der Sowjetunion fand ihren sichtbarsten Ausdruck in einem differenzierten System von Privilegien, Zuteilungen und Auszeichnungen. Die Verfügungsmöglichkeit über Güter ersetzte das Eigentum an ihnen. Seit Beginn der Sowjetmacht entstanden gesellschaftliche Schichten, deren Angehörige privilegierten Zugang zu Lebensmitteln, Wohnraum, Bildung, Service und Ämtern hatten. Parteizugehörigkeit und Loyalität dem System gegenüber, aber auch verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen bestimmten, ob jemand bevorzugt an den komplizierten Verteilungsstrukturen teilhaben konnte. Wenngleich der Kreis derer, die auf unterschiedlichste Weise und in unterschiedlichem Maß Vorzüge genossen, kaum eindeutig zu beziffern oder zu begrenzen war, so bildete sich in der Wahrnehmung der unteren sozialen Schichten eine abgeschottete Parteinomenklatura, der vorgeworfen wurde, sich auf Kosten des Volks zu bereichern. Die Kritik am Privilegiensystem darf als Konstante gelten, die zu verschiedenen Zeitpunkten der sowjetischen Geschichte unterschiedlich laut formuliert werden konnte.6 Erst unter den Voraussetzungen von Gorbačevs glasnost’ mündete die Kritik in eine öffentliche, emotional geführte Debatte, an der weitere Kreise der Bevölkerung teilnahmen. Was als Diskussion über soziale Ungleichheit begann, endete als Grundsatzdebatte über die sowjetische Ordnung. Der Streit über Privilegien erlaubt erstens Rückschlüsse auf das Verständnis von Gleichheit und Gerechtigkeit, wie es sich über Jahrzehnte herausgebildet hatte, sowie über Kategorien und Argumentationsmuster, mit denen über Ungleichheiten gesprochen werden konnte. Zweitens liefert er Erklärungen für den dramatischen Legitimitätsverlust der Parteiherrschaft am Ende der 1980er-Jahre. Drittens ermöglichen die Debatten zum Gerechtigkeitsverständnis Erkenntnisse für den gesellschaftlichen Umbau bis heute.

Schluss mit der gleichmacherei. wer mehr arbeitet, soll auch besser leben.

„Perestrojka!!!“ Dieses Plakat von 1989 spielt mit dem populären Bild vom Parteibürokraten, der lauthals Reformen fordert, dabei aber außer Reden nichts unternimmt und an seinen sowjetischen Lenkungsmethoden festhält. Diese sind in der Schale vor ihm symbolisiert mit dem Hinweis auf Prämien, Fonds und limity (Höchstgrenzen, Kontingente bezogen auf Produktionszahlen, Arbeitskräfte, Wareneinfuhr u.a.).
(Auflage: 300.000, 65 cm x 48 cm, Grafiker: A. Andreev/Mark Aleksandrovič Abramov; http://www.russianposter.ru)
Alle im Kontext des vorliegenden Beitrags gezeigten Plakate stammen aus einem umfangreichen deutsch-russischen Forschungsprojekt (1992–2004) zur Kunst- und Kulturgeschichte der russischen Plakatkunst seit 1850, geleitet von Klaus Waschik (Bochum) und Nina Baburina (Moskau). Zur Entwicklung der Plakatkunst seit 1985 vgl. den Abschnitt „Das Perestrojka-Plakat als ideologisches Reformwerkzeug“, in: Klaus Waschik/Nina Baburina, Werben für die Utopie. Russische Plakatkunst des 20. Jahrhunderts, Bietigheim-Bissingen 2003, S. 304-321. Während der Perestrojka gab es institutionell, inhaltlich und ikonographisch entscheidende Veränderungen. Neben Auftragsplakaten in hoher Auflage entwickelte sich das Genre des „Autorenplakats“, das oft nicht mehr gedruckt wurde, sondern in Ausstellungen und Designzeitschriften zu sehen war.

Westliche Soziologen, die die perestrojka aufmerksam verfolgten, haben den Streit um die Privilegien frühzeitig analysiert.7 In allgemeinen Darstellungen der perestrojka8 findet das Privilegiensystem Erwähnung, doch wurde es bislang nicht Gegenstand einer gezielten historischen Studie. Die folgende Untersuchung konzentriert sich auf zentrale Stellungnahmen von Parteiführern, auf Zeitungsartikel und insbesondere auf archivierte Bürgerzuschriften an den Obersten Sowjet. Im Vergleich zu veröffentlichten Leserbriefen bieten sie den Vorteil, dass sie nicht gekürzt oder redigiert wurden. Diese Briefe wurden vom Russischen Staatsarchiv als repräsentative Auswahl aufbewahrt, obwohl sie eigentlich keiner langfristigen Archivierungspflicht unterlagen.9 Sie bilden ein breites Meinungsspektrum der Privilegiendebatte ab. Die Zuschriften kamen grundsätzlich aus der ganzen Sowjetunion, aus Städten, Industriegebieten und vom Land. Bei den Berufen war ebenfalls ein breites Spektrum vertreten (Facharbeiter, Lehrerinnen, Parteimitarbeiter, Angestellte etc.). Die Geschlechter waren relativ gleichmäßig verteilt. Am stärksten vertreten war die Altersgruppe der 50- bis 70-Jährigen. Es schrieben viele Rentnerinnen und Rentner – jene Generation, die nach 1945 die Sowjetunion wieder mit aufgebaut und maßgeblich geprägt hatte. Briefe von jungen Bürgern zu diesem Thema gab es dagegen nicht. Hier setzten sich also die langjährigen Träger des Systems mit seinen Ansprüchen und ethischen Grundlagen auseinander.

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Die Briefe, das sei hier nur angedeutet, sprachen auch viele andere markante Themen der perestrojka an – wie Korruption und Willkür, Misshandlungen in der Armee, politische Verfolgung und Zwangspsychiatrisierung, bis zu klassischen Eingabenthemen wie der Zuteilung von Wohnraum.10 Junge Leute schrieben durchaus auch Briefe, doch beschäftigten sie bereits andere Probleme. Zunehmend bildeten sich „nonkonforme“ Gruppen, in denen neue Gesellschafts- und Politikentwürfe, andere Wertordnungen und Lebensstile diskutiert und gelebt wurden.11

Schluss mit der gleichmacherei. wer mehr arbeitet, soll auch besser leben.

2. Glasnost‘ und die Debatte um die Privilegien
 

Im Vorfeld der XIX. Parteikonferenz im Juli 1988 erschienen diverse Presseartikel, die sich mit den Privilegien der Nomenklatura auseinandersetzten und ihre Rechtmäßigkeit in Frage stellten.12 Einige der Delegierten sahen sich deshalb auf der Parteikonferenz genötigt, dazu beschwichtigende Erklärungen abzugeben. Boris El’cin allerdings hielt sich nicht an die allgemeine Linie des Abwiegelns. Er befand sich zu diesem Zeitpunkt im politischen Abseits und sah voraus, dass er mit der Thematisierung des Problems Popularität gewinnen konnte.13 Er griff die Partei an und fragte danach, wie deren Gelder verwendet würden. Gleichzeitig sprach er offen von Bereicherung, Korruption und Betrug an der Bevölkerung, ja sogar von mafiösen Strukturen. Schließlich appellierte er an das Gemeinschaftsgefühl, an egalitäre Einstellungen und den Gerechtigkeitssinn: „Es muss so sein: Wenn bei uns etwas nicht reicht, in der sozialistischen Gesellschaft, dann sollen diesen Mangel alle ohne Ausnahme spüren. [Applaus] Und der unterschiedliche Arbeitsbeitrag in der Gesellschaft soll über unterschiedliche Gehälter reguliert werden. Schließlich müssen die Zuteilungen [pajki] für die – na sagen wir mal – ‚hungernde Nomenklatura‘ abgeschafft, das Elitäre in der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Das Wort ‚spec-‘ gehört der Sache und der Form nach aus unserem Wortschatz gestrichen, denn es gibt bei uns keine Spezkommunisten.“14

Schluss mit der gleichmacherei. wer mehr arbeitet, soll auch besser leben.

„Schmarotzertum“ war seit Bestehen der Sowjetunion verpönt, aber erst während der Perestrojka verband sich diese Kritik untrennbar mit der Kritik am Bürokratismus. „Im Essen ein Meister, aber beim Arbeiten so lala“, hieß es auf diesem Plakat von 1986.
(Auflage: 6.000, 79 cm x 49 cm, Grafiker: Aleksandr Petrovič Novožilov; http://www.russianposter.ru)

Abschaffung der Sonderzuteilung von Lebensmitteln und überhaupt aller Vergünstigungen für die „Spezkommunisten“ (von special’nyj) – das war ein Generalangriff auf die Parteielite. Denn jeder wusste, dass es für eine kleine Gruppe speziell ausgestattete Krankenhäuser, Kantinen, Ausbildungsstätten usw. gab. Generalsekretär Gorbačev gab mit beschwichtigenden, leicht herablassenden Worten die Verteidigungsstrategie des Establishments vor. Erstens behauptete er, dass die Einrichtungen und Versorgungssysteme der Partei sich nicht von denen der Betriebe und anderen gesellschaftlichen Organisationen unterschieden. Daran habe letztlich jeder Bürger irgendwie teil. Zweitens betonte er, dieses System sei historisch gewachsen und gesetzeskonform. Möglicherweise gebe es Missbrauch, den man aufklären müsse, und eventuell seien manche Privilegien nicht mehr zeitgemäß – da seien Korrekturen angebracht.15

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Im Laufe des Jahres 1988 sorgte eine Vielzahl von Publikationen für weiteren öffentlichen Druck in der Privilegienfrage. Nach Aufforderung durch den 1. Kongress der Volksdeputierten gründete der Oberste Sowjet im Juli 1989 schließlich eine Kommission zur „Untersuchung der Privilegien, die einige Gruppen von Bürgern genießen“. Vorsitzender wurde Evgenij Primakov, der als Orientexperte und langjähriger Leiter des Instituts für Weltwirtschaft eher ein Spezialist für Außen- als für Innenpolitik war.16 Sekretärin der Kommission wurde die 36-jährige Elektro-Ingenieurin Ella Pamfilova, damals eine noch unbekannte Deputierte, später eine profilierte Sozialpolitikerin.17

Zur Jahreswende 1989/90 erreichte die Debatte ihren Höhepunkt. Auf dem XXVIII. Parteitag der KPdSU im Juli 1990 wurde eine Kommission zur Untersuchung von Privilegien der Parteiorganisationen eingesetzt.18 Sie konnte mit ihren Beschlüssen den Ereignissen allerdings nicht mehr folgen. Ihr Ende fand die Debatte um die Privilegien der Nomenklatura im KPdSU-Prozess 1992, als das Eigentum der Partei zu Staatseigentum erklärt wurde.19

Primakov und Pamfilova bezogen innerhalb der Kommission des Obersten Sowjets unterschiedliche Positionen. Primakov argumentierte auf der Linie Gorbačevs. In der „Pravda“ versprach er im Dezember 1989, man werde den Missbrauch der Privilegien ahnden und ihren Umfang an manchen Stellen kürzen. Letztlich ließ er aber keinen Zweifel daran, dass er ein System von Vorzugsbehandlungen in begrenztem Rahmen für gerecht und gesetzlich hielt. Pamfilova äußerte sich in einem aufsehenerregenden „Izvestija“-Interview unter dem Titel „Gerechtigkeit oder Gleichmacherei“ (spravedlivost’ ili uravnilovka). Es gehe darum, „konkrete Empfehlungen zur Beseitigung von Privilegien und unbegründeten Vorzügen [neobosnovannye l’goty]“ auszuarbeiten. Die Privilegien beträfen nicht nur einen kleinen Ausschnitt des gesellschaftlichen Lebens, sondern seien als Grundbestandteil der bisherigen Ordnung zu verstehen. Arbeitsgruppen der Kommission würden „praktisch alle Sphären des Lebens“ beleuchten: „medizinische Versorgung, Heilung in Sanatorien und Kurorten, Wohnraum, Handel, Kultur, Alltag [byt], Transport, Altersversorgung“.20

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Pamfilova unterschied die Begriffe privilegii und l’goty. Diese Ausdrücke kamen in allen Texten zur Vorzugsbehandlung vor. Oft jedoch wurde der eine als Synonym für den anderen verstanden. Das erschwerte es noch zusätzlich, das verflochtene System von Extrarechten, Vorzugsbehandlungen und Zuschlägen zu durchblicken. Den Wortbedeutungen nach ist mit beiden Begriffen Privileg, Vergünstigung, Vor- und Sonderrecht gemeint. L’gota hat einen stärkeren Akzent auf „Vergünstigung“ bzw. „Ermäßigung“ und taucht häufig als Adjektiv auf wie in ermäßigten Preisen, Bedingungen, Fahrkarten (l’gotnye ceny, l’gotnye uslovija, l’gotnye bilety). L’goty bezeichnete somit den erleichterten oder vergünstigten Zugang zu Leistungen und Gütern – in der Regel für die sozial Schwachen: Kriegsveteranen, Invalide und Behinderte, Rentner und kinderreiche Familien. Sie mussten weniger Wohnnebenkosten zahlen, bekamen Medikamente zu vergünstigten Preisen, erhielten schneller Wohnraum und waren bei Lebensmittelgeschäften registriert, in denen sie sonst schwer erhältliche Produkte kaufen konnten. Privilegii dagegen stellten zusätzliche Auszeichnungen oder Aufwandsentschädigungen dar. Dabei handelte sich weniger um den Bezug von konkreten materiellen Gütern, sondern es ging eher darum, dass man überhaupt das Zugriffsrecht auf sie besaß.21 Privilegien betrafen besonders Dienstleistungen wie die bevorzugte medizinische Versorgung, die schnelle Zuteilung von großzügig bemessenem Wohnraum, die Nutzung eines Sommerhauses oder eines Dienstwagens auch für private Zwecke. Von all dem profitierte die zahlenmäßig kleine Oberschicht – in erster Linie die Nomenklatura, aber auch Wissenschaftler, besonders verdiente Arbeiter und Künstler.

Nicht zufällig nahm Pamfilova diese Unterscheidung zwischen Vorzügen und Privilegien vor, denn sie verwiesen auf unterschiedliche Probleme sozialer Gerechtigkeit. Bei den l’goty handelte es um die Aufgabe des Staats und der Gesellschaft, den Schwachen gegenüber Solidarität zu erweisen und soziale Sicherheit zu schaffen. Über diese Aufgabe gab es keinen Zweifel, wohl aber über den Umfang und möglichen Missbrauch. Darauf spielte Pamfilova mit dem Begriff „ungerechtfertigte Vorzüge“ an (neobosnovannye l’goty). Manchmal war auch von „ungesetzlichen Vorzügen“ die Rede (nezakonnye l’goty). Der Streit um die Abschaffung der Privilegien betraf dagegen unmittelbar die Legitimität der bestehenden Ungleichheiten: Welche Unterschiede im Lebensniveau erschienen mit einer sozialistischen Gesellschaft vereinbar? Welchen Stellenwert nahm geistige im Vergleich zur körperlichen Arbeit ein? Wie musste eine gerechte Lohnpolitik aussehen, die Anreize für wirtschaftliche Initiative bot, ohne eine zu ausgeprägte Ungleichheit in der Gesellschaft zu erzeugen? Damit setzten sich Diskussionen fort, die in der Sowjetunion unter dem Stichwort „Gleichmacherei“ (uravnilovka) immer wieder eine Rolle gespielt hatten. Sie galt als negativer Inbegriff eines leistungsfeindlichen Egalitarismus.

Pamfilovas Überschrift „Gerechtigkeit oder Gleichmacherei“ verwies schon auf die Gratwanderung der Kommission, Leistungsanreize mit Blick auf die lahmende Wirtschaft zu befürworten, ungerechtfertigte Vorzugsbehandlungen jedoch aufzuheben. Sie selbst sagte dazu: „Ich glaube nicht, dass man die Gerechtigkeit einfach [primitivno] verstehen kann und soll, indem man versucht, […] alle in allem gleich zu machen: ‚Nimm alles und dann teile alles.‘ Das ist unrealistisch und widerspricht den Zielen der ökonomischen Reformen, die im Land begonnen worden sind. Natürlich muss die Überwindung der Gleichmacherei mit der sozialen Absicherung aller Schichten der Bevölkerung, besonders der sozial schwachen, vereinbart werden. Über ein bestimmtes soziales Minimum muss jeder verfügen können. Aber dann – wozu Du befähigt bist, wie Du arbeitest, das bekommst Du auch. Die grundlegende und einzige Form der Verteilung soll das Gehalt werden. Für qualifiziertere und verantwortungsvollere Arbeit muss es entsprechend wachsen. Dabei aber ohne jegliche heute existierende ‚Naturalzugaben‘.“22

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Pamfilova vertrat einen liberalen, individualistischen Ansatz, mit dem sie den Einzelnen und sein Streben in den Mittelpunkt stellte und ihm selbst die Entscheidung überließ, was er leisten und mit seinem Gewinn tun wollte. Sie sprach an dieser Stelle nicht vom Nutzen für den Staat oder das Gemeinwohl. „Privilegien“ stellten für sie ein Gerechtigkeitsproblem in doppelter Hinsicht dar – einerseits deren Existenz schlechthin, andererseits wiederum die Frage von Missbräuchen und gesetzeswidrigen Praktiken. Pamfilova rechtfertigte die Vorzüge für hochgestellte Personen im Dienste des Staats und der Gesellschaft. Niemand könne ernsthaft fordern, dass ein Minister mit der Metro fahre. Es mangele jedoch an einem verbindlichen rechtlichen Rahmen. Eine Aufgabe der Kommission sei es deshalb, staatliche Posten und die mit ihnen verbundenen Vorzugsbehandlungen detailliert zu beschreiben und die Zahl solcher Posten zu verkleinern. Privilegienmissbrauch müsse juristisch verfolgt werden. Vorsichtig äußerte sich Pamfilova abschließend zu dem Problem der Sonderrenten, den so genannten Personalrenten, für „verdiente“ Sowjetbürger.23 Aus Zuschriften wusste sie offenbar, dass solche Renten in der älteren Generation ein äußerst umstrittenes Thema waren. Sie plädierte einerseits für die Abschaffung dieser Renten, stimmte aber andererseits zu, dass es ein System geben müsse, um besonders verdiente Menschen auszeichnen zu können.

Die Aussagen Primakovs und Pamfilovas lösten eine Flut von Briefen an die Vorsitzenden der Kommission, an Zeitungen sowie an Gorbačev und El’cin aus. Die Gegner der Privilegien standen grundsätzlich auf dem Standpunkt, dass Leute von ihnen profitierten, die sie nicht verdient hätten. Die extremste Position nahmen häufig einfache Arbeiter ein, die ihre schwere, körperliche Tätigkeit unterbewertet fanden und nicht einsehen wollten, dass Menschen, die in Schreibstuben einer Tätigkeit nachgingen, dafür besser bezahlt und zusätzlich ausgezeichnet würden. In ihren Briefen tauchte die traditionelle Vorstellung wieder auf, die Reichen und Privilegierten würden auf Kosten des einfachen Volks gut leben. „Die Sache ist die, dass die Parteiarbeiter niemals materielle Werte geschaffen, sondern sie nur verbraucht haben. Die Parteiarbeiter leben von den Parteibeiträgen der Kommunisten, haben sich restlos alles angeeignet und sich alle Annehmlichkeiten geschaffen.“24

Kritik dieser Art kam nicht nur von parteilosen Arbeitern, sondern auch von langjährigen Parteimitgliedern, aus deren Sicht die Parteielite die Glaubwürdigkeit der KPdSU insgesamt in Frage gestellt, zur Spaltung der Gesellschaft in Reiche und Arme geführt und zum moralischen Niedergang beigetragen habe. Wie schon El’cin forderten sie, dass die Partei die Last der Veränderungen gemeinsam mit dem Volk tragen sollte. Dann würden die Bürger ihr wieder Achtung entgegenbringen; nur dann habe die Politik der perestrojka eine Chance.25 Häufig verwiesen sie – ganz im Ton der perestrojka-Rhetorik – auf die „alten, leninistischen Zeiten“, in denen die Partei noch glaubwürdig die revolutionäre Ethik verkörpert habe.

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Doch auch die Verteidiger der Privilegien beriefen sich auf die „leninistischen Prinzipien“. Sie sahen sich als aufrechte Kommunisten, die im Dienste der großen gemeinsamen Sache alle Schwierigkeiten der Aufbau- und Verteidigungsarbeit auf ihre Schultern geladen hätten. Dabei spielte nicht die Parteizugehörigkeit die entscheidende Rolle, sondern der Dienst für Staat und Gesellschaft. Einige Briefschreiber griffen Pamfilova scharf an. Sie habe kein Recht, sich überhaupt zu der Frage zu äußern, weil sie kaum Dienste gegenüber dem Vaterland vorweisen könne – im Gegensatz zu den Menschen, über die sie urteile. Manche warfen ihr Hartherzigkeit und fehlende Weitsicht vor. Andere äußerten den Verdacht, dass es Personen wie Pamfilova gar nicht um Gerechtigkeit gehe, sondern dass Neid und Machtstreben der Nichtsnutze hinter ihren Versuchen stünden, die Privilegien abzuschaffen.26

Schluss mit der gleichmacherei. wer mehr arbeitet, soll auch besser leben.

3. Konturen sowjetischer Gerechtigkeitsvorstellungen Ende der 1980er-Jahre
 

Im Wesentlichen handelte es sich bei der Debatte um ein Problem von Verteilungsgerechtigkeit. Es fällt auf, dass sowohl Gegner als auch Befürworter als zentrales Argument nicht Bedürfnisse, sondern Leistungen anführten. Gerecht verteilt bedeutete für die meisten, dass jemand aufgrund seiner Leistung für Staat und Gesellschaft einen bestimmten Lohn und gewisse Auszeichnungen verdient habe. Über Dienst und Entlohnung als Grundprinzip der Verteilung schien weitgehend Einigkeit zu bestehen, während die Bewertungen bestimmter Leistungen unterschiedlich ausfallen konnten. Als Bezugspunkte wurden der Staat, das Vaterland, die Gesellschaft und gelegentlich der Aufbau des Sozialismus genannt. Der Dienst an der Partei trat bei den Rechtfertigungen in den Hintergrund. Das mag mit der 1989/90 bereits fortgeschrittenen Diskreditierung der Partei zusammenhängen.

Schluss mit der gleichmacherei. wer mehr arbeitet, soll auch besser leben.

„Der Staat sind auch wir. 40 Mio. Mitbürger leben unterhalb der Armutsgrenze“ (1989)
(kleine Auflage, 62 cm x 92 cm, Grafiker: Boris Grigorevič Dorogan; http://www.russianposter.ru)

In den Briefen kam deutlich zum Ausdruck, dass unter den Verfassern und Verfasserinnen Konsens über einen Gesellschaftsvertrag bestand. Sie hatten eine Ordnung akzeptiert oder sich in ihr eingerichtet, die als ein System des Gebens und Nehmens zwischen Staat und Bürger funktionieren sollte. Diese Tauschbeziehung war exklusiv und umfassend angelegt, denn dem Entwurf nach konnte es für den arbeitenden und produzierenden Menschen keinen anderen Tauschpartner als den Staat geben. So argumentierten auch die Briefschreiber: Sie hätten ihre Arbeitskraft und Gesundheit, all ihr Wissen und ihre Zeit für den Dienst am Staat verausgabt und könnten nun im Gegenzug umfangreiche Fürsorge und die Sicherung aller Lebensbedürfnisse erwarten.

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Neben dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung spielte eine Vorstellung von ausgleichender Gerechtigkeit eine Rolle. Häufig fiel in Zusammenhang mit den Privilegien der Begriff „Kompensation“. Der Staat war demnach verpflichtet, Schäden auszugleichen, die jemand durch seinen Einsatz für das Gemeinwohl erlitten hatte. Auf dieser Grundlage argumentierten vor allem die Veteranen des „Großen Vaterländischen Kriegs“, die befürchteten, ihre weitreichende Vorzugsbehandlung zu verlieren.

Brisanz hatte auch die Frage von Leistungsanreizen und die damit verbundene Kampfansage an die uravnilovka. Wer mehr arbeite, mehr riskiere und mehr Verantwortung übernehme, solle auch mehr verdienen. Seitdem es das Gesetz zu den Kooperativen gab, schloss dies private unternehmerische Tätigkeit und die Möglichkeit privater Kapitalbildung ein.27 Den Gegnern eines solchen „liberalistisch-kapitalistischen“ Ansatzes warf man Egalitarismus vor, einen stumpfsinnigen traditionell russischen Hang zur Nivellierung aller sozialen Unterschiede, eine Gleichmacherei aller auf dem Niveau der am wenigsten Motivierten und Leistungsbereiten. Trotz der Leugnung von Klassenunterschieden in der sowjetischen Ideologie deuteten diese Positionen auf einen dauerhaft bestehenden Konflikt hin. Wenn die „Oberschichten“ den „Unterschichten“ vorwarfen, selbst nichts leisten zu wollen und gleichzeitig den anderen jeden materiellen Erfolg zu neiden, so lautete umgekehrt der Vorwurf auf unrechtmäßige, unverdiente Aneignung von Vorteilen.

Pamfilova geriet mit ihrem Ansatz gewissermaßen zwischen die Fronten, indem sie sich einerseits für leistungsbezogene Entlohnung aussprach und andererseits die Pfründe der Elite angriff. Ein Deputierter aus Riga warf ihr uravnilovka vor: Es sei falsch, die Kompensation für schwere Arbeit mit Privilegien zu verwechseln. Überhaupt sei es leicht, das Thema populistisch zu nutzen, denn „die Welt ist so, dass immer diejenigen laut schreien, die weniger als andere haben. Da ich es nicht habe, sollen es die anderen auch nicht haben.“28

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Primakov wurde ebenfalls scharf angegriffen. In seinem Abschlussbericht auf dem II. Kongress der Volksdeputierten hatte er argumentiert, dass besonderer Einsatz besonders belohnt werden müsse.29 Seine Kritiker wollten sich nicht dem Vorwurf der Gleichmacherei aussetzen und hielten dagegen, dass sie durchaus eine leistungsabhängige Entlohnung unterstützten, jedoch nicht die Fortführung eines ungerechten Privilegiensystems. Für sie hatte das eine nichts mit dem anderen zu tun. Primakov verstecke sich hinter dem Schlagwort uravnilovka, um damit die Existenz der Parteikaste zu legitimieren.30 In verschiedenen Zuschriften wurde deutlich, dass sich die Bürger doppelt empörten. Zum einen wurde der Tatbestand an sich als ungerecht betrachtet – nämlich die Vorzugsbehandlung einer kleinen Gruppe –, zum anderen galten die dazu angeführten Erklärungen ebenfalls als ungerecht. Den Privilegierten wurde erstens unterstellt, sie hätten sich auf betrügerische, unehrliche Weise einen Vorteil verschafft, also die ungeschriebenen Regeln der sozialen Ordnung verletzt. Zweitens galt die Begründung des Vorrangs der Parteielite als ungerecht, weil sie von falschen Annahmen ausgehe (die Parteielite habe mehr gearbeitet als die übrigen Bürger) und die Verantwortung für die Situation anderen in die Schuhe schiebe (der Hang des Volks zu uravnilovka führe zu wenig Leistung). Das starke Gefühl der Ungerechtigkeit beruhte damit letztlich auf dem Eindruck, sich gegen Betrug, Unwahrheit und Verletzung der Spielregeln wehren zu müssen.

Eine Parteiangehörige aus Kalinin schrieb in diesem Sinne, dass sie den Ausspruch eines Deputierten als Beleidigung empfunden habe, der gesagt hatte: „Wir leben so, wie wir arbeiten.“ Dazu schrieb sie: „Wer sind diese ‚wir‘? Die einfachen Arbeiter (die Mehrheit) arbeiteten jederzeit ehrlich und gewissenhaft. Aber die Resultate der Arbeit des Volks werden von den Führern immer schlechter und schlechter verteilt.“31 Den Vorwurf der uravnilovka wollte sie ebenfalls nicht auf sich und den anderen gewöhnlichen Bürgern sitzen lassen: „Das einfache Volk sieht deutlich, dass die Verschlechterung des Lebens nur uns betrifft, aber die Partei-, Sowjet- und Staatsführer leben so gut wie eh und je. Und das nennen Sie uravnilovka? Man darf die Gleichheit nicht mit der Gleichmacherei gleichsetzen!“32 Ein anderer erregter Bürger, der sich als einfacher Arbeiter und Kriegsinvalide aus dem Altaigebiet vorstellte, brachte es wie folgt auf den Punkt: „Die Apparatschiki bringen oft ihr Lieblingsargument: ‚Wir sind gegen die Gleichmacherei!‘ Dabei vergessen sie, dass es außer uravnilovka noch den Begriff ravnopravie gibt [Gleichberechtigung, Rechtsgleichheit]. Das ist nicht dasselbe. Indem sie die Gleichmacherei ablehnen, versuchen sie die von ihnen eingenommenen Privilegien festzusetzen und zu rechtfertigen.“33

Viele Briefautoren verknüpften Gerechtigkeit mit Wahrheit und Ehrlichkeit und umgekehrt Ungerechtigkeit mit Lüge und Betrug. Es zählten also nicht nur die messbaren Ergebnisse, sondern ebenso die Prinzipien, nach denen verteilt wurde. In diesem Sinne kann auch der stereotype Hinweis auf die „ehrliche Arbeit“ (čestnyj trud) verstanden werden, von dem viele Briefeschreiber ihren Anspruch auf Lohn, soziale Leistungen und mehr ableiteten. Die materielle Entlohnung dafür stand zugleich für eine symbolische Anerkennung. Gerechtigkeit hatte also eine moralische Dimension und lud die Privilegiendebatte emotional auf: „Mir hat man eine lebenslange Personenrente in Höhe von 132 Rubeln gewährt. Es geht nicht ums Geld. Zunächst einmal ist das eine Frage des Prestiges. Irgendwie ist meine Rolle im Land bemerkt worden. Ich kann aufrichtig den Menschen in die Augen schauen. Mein Leben war nicht umsonst. In der Partei bin ich seit 62 Jahren. Und mir will man diese armseligen Privilegien wegnehmen. Niemand hat ein Recht, das zu tun.“34

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Die Chance, auf Güter zugreifen zu können, bedeutete gesellschaftliches Prestige und in einem traditionellen russischen Sinne auch Ehre. Deshalb entflammte manchmal um wenige Rubel, die der eine bekam und der andere nicht, ein erbitterter Streit. Dies war umso mehr der Fall, als sich trotz aller Privilegien eine weitgehende Angleichung der Gehälter und Renten durchgesetzt hatte und kleine Differenzierungen daher größere Bedeutung erhielten.35 Umgekehrt brachte der Entzug von Privilegien für den Betroffenen vor allem Ehrverlust und eine verminderte Wertschätzung. Der Unmut der Bevölkerung richtete sich also nicht gegen die Hierarchisierung der Gesellschaft als solche, sondern gegen „Privilegierte“, denen weder eine entsprechende Leistung noch eine besondere moralische Integrität zugesprochen wurde. Die Kritik spitzte sich zu, wenn den Privilegierten vorgeworfen wurde, sich auf ungesetzliche, unrechtmäßige Weise in diese Position gebracht zu haben.

Der Vorwurf der Gesetzlosigkeit bezog sich zunächst auf prominente Parteimitglieder, die öffentlich wegen Korruption und Amtsmissbrauch angeklagt und verurteilt worden waren.36 Von Vergehen dieser Leute schlossen Kritiker meist auf die Gesetzlosigkeit der gesamten Parteispitze und gingen von fortgesetzten Rechtsbrüchen auch auf niedrigeren Ebenen der Partei aus.37 An mehreren Stellen erwähnten Bürger, dass es ungesetzlich sei, die Vorzugsbehandlung der Parteielite nicht aus Parteigeldern, sondern aus dem Staatsbudget zu finanzieren.38 Neben dieser eher milden Kritik gipfelte der Vorwurf der Gesetzlosigkeit jedoch auch in einer Generalabrechnung mit der Parteiherrschaft: „Sie [direkte Anrede Pamfilovas] haben den Schleier über dem gelüftet, was jahrzehntelang vor dem Volk versteckt war. Die Diebe sind entblößt. Anders kann man sie nicht nennen. Das sind nicht nur Diebe, sondern das ist eine richtige korrumpierte Bande, aus der Pyramide der Macht, die alles an sich gerissen hat, was allen gehört.“39

Während an dieser Stelle die Gesetzesverstöße noch personalisiert wurden (Diebe) und das Vergehen genannt wurde (Raub, Korruption), so zogen die Briefeschreiber an anderen Stellen den weitergehenden Schluss, dass die Machthaber sich als über dem Gesetz stehend betrachteten: „Sie brechen Gesetze, lügen in Berichten, legen gegenüber niemandem Rechenschaft ab. […] Und wie sie unsere Sowjetmacht diskreditieren und unsere Perestroika? Und keiner kann sie stoppen, sie sind die Macht.“40 Dies schrieb ein Mann, der sich als einfacher Arbeiter aus einem ukrainischen Dorf vorstellte. Eine Pensionärin, nach eigenen Angaben Parteimitglied seit 1941 und Tochter eines alten Kommunisten, stellte fest: „Die Führer haben für sich die GESETZLOSIGKEIT zum Gesetz gemacht.“41

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Häufig reichte die Einstellung zur staatlichen Führung über die zeitgebundene Kritik an der Partei und ihrer Machtausübung hinaus und schloss an traditionelle russische Erfahrungen des Verhältnisses zwischen Volk, Herrschenden und Gesetz an. Allerdings mag es erstaunen, dass nur sehr wenige Briefe die kommunistische Ordnung als Ganzes in Frage stellten. In einem einzigen Brief an Ella Pamfilova vollzog der Verfasser den Schritt zur Systemkritik: „Aber das, worüber Sie reden, ist meiner Meinung nach nicht die Quintessenz des Problems. Ich glaube, dass die Privilegien, über die Sie sprachen, die Folgen eines grundsätzlichen Privilegs derjenigen sind, die die Macht usurpiert haben, und zwar zu kommandieren, unkontrolliert Willkür auszuüben und für nichts verantwortlich zu sein. Im Vergleich dazu ist alles andere im Grunde zweitrangig und entsteht daraus. Wenn man nicht die Ursachen entwurzelt, […] so werden die Bemühungen Ihrer Kommission wenig bewirken.“42

Der Briefschreiber blieb anonym und begründete dies damit, dass er schon mehrfach Probleme wegen seiner kritischen Haltung gehabt habe. Die perestrojka könne ihre Anhänger nicht verteidigen. Die anderen, mit Namen zeichnenden Briefeschreiber vermieden Radikalkritik. Offenbar galten für sie selbst 1989 noch die eingeübten Kommunikationsregeln. Durch Zeitungsartikel und Stellungnahmen „von oben“ war das Diskursfeld vorgegeben, und nur wenige wagten es, die abgesteckten Grenzen zu verletzen. Zu diesen Grenzen gehörte es, dass über Fragen der sozialen Gerechtigkeit gesprochen werden durfte, während das Thema der politischen Gerechtigkeit noch tabuisiert blieb. Gleichzeitig geht aus der Vielzahl zitierter Textstellen hervor, dass Befürworter wie Gegner der Privilegien offenbar tatsächlich auf einer gemeinsamen Basis von Vorstellungen über moralische Legitimität und soziale Gerechtigkeit argumentierten, die die gesellschaftlich-politische Ordnung nicht in Frage stellte – wenngleich mit gegensätzlichen Urteilen über die konkrete Praxis. Die häufigen Aufforderungen, zu „leninistischen Prinzipien“ zurückzukehren, drückten dies aus: Es gebe den richtigen Weg; nur hätten die Parteigenossen, die vorausliefen, ihn aufgrund mangelnder charakterlicher Qualitäten irgendwann verlassen. Der „neue Mensch“ existiere auch nach 70 Jahren Sowjetmacht nicht. Diese Erkenntnis bewirkte jedoch kein Abrücken vom positiven Menschenbild. Umso heftiger musste die Kritik den Regierenden gegenüber ausfallen, die mit ihrem verantwortungslosen, unmoralischen Verhalten das sozialistische Projekt gefährdeten. „Man muss sie dafür bestrafen, dass sie die kommunistische Partei kompromittiert und die Sowjetmacht beleidigt haben“,43 forderte in diesem Sinne ein Arbeiter.

Schluss mit der gleichmacherei. wer mehr arbeitet, soll auch besser leben.

4. Fazit
 

Die Frage nach der Abschaffung von Privilegien wurde weitgehend im Rahmen bestehender Konventionen diskutiert. Weder rüttelten die Briefeschreiber an den Wurzeln des sowjetischen Verständnisses von sozialer Gerechtigkeit, noch stellten sie es – mit wenigen Ausnahmen – in unmittelbare Beziehung zur politischen Gerechtigkeit. Nicht die Ungleichheit, die das Privilegiensystem verursachte, stand im Mittelpunkt, sondern die Handhabung, die Abweichungen und der Missbrauch der Übereinkünfte von gerechter Verteilung. Diese Kritik war stark moralisch und emotional aufgeladen. Als einzige soziale Institution tauchte in der Debatte die Partei auf: Sie habe ihren Anspruch verspielt, eine gerechtigkeitsschaffende und gerechtigkeitssichernde Institution zu sein.

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Dieser Befund deckt sich weitgehend mit den Schlüssen, die Jurij Levada und seine Mitarbeiter aus ihren Befragungen zum „Sowjetmenschen“ der Jahre 1989 bis 1991 zogen.44 Der innere Widerspruch des „hierarchischen Egalitarismus“ entsprang dem eingangs konstatierten Spannungsverhältnis zwischen Gleichheits- und Leistungsprinzip. Treffend heißt es bei Levada, dass wir es „mit einem vollkommen praktischen Egalitarismus zu tun haben, der nur die Ungleichheit ablehnt, die nicht der angenommenen Hierarchie entspricht“.45 Ebenso richtig war die folgende Beobachtung von Levadas Forschergruppe: „Unzulässig sind in diesem Fall erstens die Früchte jeder originellen, schöpferischen Arbeit und Begabung, zweitens die Einkünfte aus Eigentum und wirtschaftlichen Dienstleistungen und drittens ‚zu hohe Privilegien‘ für Menschen mit einem ‚ungenügend‘ hohen Status.“46 Fraglich ist jedoch, ob die von Levada angenommene Dichotomie zwischen Gesellschaft und Staat, zwischen Volk und einer völlig herausgelösten Parteielite in diesem Maße bestand. Die Debatte um die Privilegien zeigte eher, dass die Regeln der Verteilung, nämlich die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, für alle gleichermaßen gelten sollten und Verstöße zu allen Zeiten scharf verurteilt wurden. Die sowjetische Ordnung erhielt ihre Lebensfähigkeit nicht zuletzt durch das Versprechen, jeder könne am Aufbauwerk teilnehmen und individuelle Leistung werde mit sozialem Aufstieg belohnt. Das traf in beschränkten Maßen auch zu. Der von Levada zu Recht konstatierte Paternalismus muss nicht nur als Ausdruck eines übermächtigen oder sogar totalitären Staats gedeutet werden, sondern die erwartete Fürsorgefunktion des Staats kann auch als wechselseitige Tauschbeziehung gelten. Kritisch zu fragen wäre dann, ob die Vertragspartner freiwillig an diesem Tausch teilnahmen und ob die Prinzipien der Tauschgerechtigkeit befolgt wurden.

Levada nahm an, dass unter anderem die Antinomie zwischen Hierarchie und Egalitarismus zum Zerfall der Ordnung führe. Wenn er dafür das Versagen der Parteielite als Grund sah, die in der Beurteilung der Bürger von der „wohltäterischen Oberschicht“ zu „geheimnisvollen Übeltätern“ mutiert sei, dann argumentierte er damit auf derselben Ebene wie die von ihm Befragten, die in der moralischen Unzulänglichkeit der Parteielite das Kernproblem erkannten.47 Doch nicht im Widerspruch zwischen Egalitarismus und Hierarchie lag die eigentliche Sprengkraft. In jeder gesellschaftlichen Ordnung besteht der Wunsch nach Gleichheit auf der einen und nach Unterschiedlichkeit auf der anderen Seite. Dies auszutarieren gehört zur steten, notwendigen Suche nach Gerechtigkeit im menschlichen Zusammenleben.48

Das Hauptproblem des „hierarchischen Egalitarismus“ lag vielmehr darin, dass es ein auf die soziale Gerechtigkeit reduziertes Konzept war. Alles drehte sich um die Verteilung der Güter. Suggeriert wurde, dass jeder gleiche Chancen auf Zugang zu diesen Gütern habe. Aufgrund der deklarierten Volksherrschaft blieb ausgeblendet, dass dieser Zugang jedoch unmittelbar mit dem Zugang zu Macht verbunden und damit eine Frage der politischen Gerechtigkeit war. Es gab weder eine gleichberechtigte Ausgangssituation bei der Verteilung der Güter noch – und das wog schwerer – wirksame Mechanismen, um den Missbrauch von Machtpositionen zu sanktionieren. Das Kontrollsystem der Beschwerdebriefe funktionierte nur punktuell und wies strukturelle Mängel auf. Eine Beschwerde über den Amtsmissbrauch örtlicher Parteivertreter musste über Instanzen vor Ort an übergeordnete Gremien gerichtet werden, die dann wiederum den Fall zur Überprüfung nach unten weitergaben. Dies führte oft zur Verschleierung oder Verschleppung der Angelegenheit; mitunter fand sich der Kläger selbst in der Rolle des Angeklagten wieder.49

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Die Reduktion der Kritik auf die moralische Unzulänglichkeit der Kader und der Mangel an institutionalisierten Kontrollverfahren wurden kaum in Frage gestellt. Stattdessen wurden immer wieder einzelne Personen in der Rolle des Retters gesehen. Insgesamt ging aus den Stellungnahmen – wohlgemerkt einer alles andere als repräsentativen Gruppe von Briefeschreibern – nicht der Wunsch nach einem grundsätzlich neuen Modell gerechter Ordnung hervor, sondern viel deutlicher ein „Zurück“ zu den Wurzeln des wahren, gerechten Sozialismus.

Zeitgleich mit der Debatte um die Privilegien vollzog sich jedoch eine Vielzahl von wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen. Die ideologischen Grundlagen des sowjetischen Gesellschaftsentwurfs zerfielen, und die Eigentumsordnung änderte sich radikal. Auch die Machtfrage, das Kernproblem der politischen Gerechtigkeit, stand im Raum. Sie wurde in Auseinandersetzungen über die eigene Vergangenheit gestellt, in Diskussionen über die Notwendigkeit eines „Dekrets über die Macht“, über die Einführung des Präsidentenamts und die Streichung des in der Verfassung festgelegten Herrschaftsmonopols der KPdSU. Im Ergebnis sprach sich die Mehrheit der Bevölkerung für ein Mehrparteiensystem aus; sie befürwortete eine Präsidialdemokratie und befreite sich von der Beschränkung persönlicher Freiheitsrechte.50

Schluss mit der gleichmacherei. wer mehr arbeitet, soll auch besser leben.

„Markt Ja! Aber soziale Absicherung? Dutzende Millionen sowjetischer Menschen leben unter der Armutsgrenze. Denkt nach!“ (1990)
(Auflage: 20.000, 87 cm x 57 cm, Grafiker: Viktor Konstantinovič Kundyšev; http://www.russianposter.ru)

Insgesamt kann der Wunsch nach einem Modell „Sozialismus Plus“ konstatiert werden, also nach einer Verbindung von sozialer und politischer Gerechtigkeit. In der Folge erwies es sich aber als problematisch, dass diese beiden Bereiche weiterhin nicht als zusammenhängend betrachtet wurden. Vielmehr gab es bei den so genannten demokratischen Kräften die Tendenz, der politischen Gerechtigkeit Priorität zuzumessen. Sie waren der Überzeugung, dass sich durch die Beachtung bürgerlicher Freiheitsrechte, durch Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und das Wirken eines freien Markts keine Gleichheit, aber Gerechtigkeit einstellen würde. Diese Rechnung ging nicht auf, wie die Ergebnisse der unter El’cin eingeschlagenen Reformen zeigten. Bei der Masse der Bevölkerung bestanden die überlieferten Vorstellungen von Gerechtigkeit fort. Die Orientierung auf Verteilungsgerechtigkeit und die Erwartungen an die Versorgung durch einen fürsorglichen Staat nahmen nicht ab, sondern verstärkten sich durch die soziale Krise noch.51 Die Schuld am Verlust von Sicherheiten und der rapide wachsenden Ungleichheit in der Gesellschaft bekamen nun nicht mehr die Parteigremien zugeschoben, sondern andere Personenkreise. An der Argumentation als solcher änderte sich jedoch wenig.

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In seinen ersten beiden Amtszeiten konnte Putin die Kritik an der herrschenden Schicht und der entstandenen extremen Kluft zwischen Arm und Reich durch sozialpolitische Zugeständnisse dämpfen. Seit etwa 2010 gelang dies immer weniger. Wenn die Regierungspartei Edinaja Rossija mittlerweile als „Partei der Diebe“ bezeichnet wird, erinnert dies an die Debatte um die Privilegien vor rund 25 Jahren. Das deutet darauf hin, dass es in der Zwischenzeit nicht gelungen ist, eine Gerechtigkeitskonzeption zu entwickeln, die Fragen der politischen und sozialen Gerechtigkeit verbinden und damit integrativ auf die russische Gesellschaft wirken könnte.

   

Schluss mit der gleichmacherei. wer mehr arbeitet, soll auch besser leben.

Anmerkungen: 

1 Dieser Satz, der Plakate und sogar Geschirr zierte, hat seinen Ursprung in der Bibel, wurde aber in der frühen Sowjetunion durch Lenin populär gemacht. Er stand in der sowjetischen Verfassung von 1936 im ersten Kapitel über die „gesellschaftliche Ordnung“ (dort Art. 10) und ebenfalls noch im „Kodex des Erbauers des Kommunismus“ von 1961 (Punkt 5). Vgl. die Verfassung von 1936: <http://constitution.garant.ru/history/ussr-rsfsr/1936/red_1936/3958676/chapter/1/#1100>; der „moralische Kodex“ als Teil des III. Parteiprogramms der KPdSU: <http://leftinmsu.narod.ru/polit_files/books/III_program_KPSS_files/116.htm#1>. Zur Idee der Gerechtigkeit im kommunistischen Denken vgl. Ralf Dahrendorf, Marx in Perspektive. Die Idee des Gerechten im Denken von Karl Marx, Hannover 1952; Gerd Koenen, Gerechtigkeitsvorstellungen im Marxismus und Bolschewismus, unveröffentlichter Vortrag auf der Konferenz „Kulturen der Gerechtigkeit in Russland“, Bochum 2011.

2 Vgl. Georg Brunner/Boris Meissner (Hg.), Verfassungen der kommunistischen Staaten, Paderborn 1980. Die sozialen Rechte und Pflichten des Bürgers waren in Kapitel 7 der Verfassung von 1977 kodifiziert. Die Verpflichtung zu gewissenhafter Arbeit und nützlicher gesellschaftlicher Tätigkeit wurde in Artikel 60 festgelegt. Vgl. <http://constitution.garant.ru/history/ussr-rsfsr/1977/red_1977/5478732/chapter/7/>.

3 In philosophischen Abhandlungen zur Gerechtigkeit werden seit Platon und Aristoteles Versuche vorgenommen, den Begriff Gerechtigkeit fassbar zu machen, indem zwischen Teilgerechtigkeiten unterschieden wird. Bis heute folgen alle Theoretiker der Gerechtigkeit diesem Ansatz, verwenden aber gleichlautende Begriffe häufig unterschiedlich. Hier wird eine pragmatische und grobe Einteilung gewählt, indem die Gerechtigkeit nach den sozialen Zusammenhängen geordnet wird, in denen sie zum Einsatz kommt. Geht es um Herrschaftsverhältnisse, ist die Rede von politischer Gerechtigkeit; geht es um die Verteilung und um den Zugang zu Ressourcen, wird der Begriff soziale Gerechtigkeit verwendet. In jeder dieser Teilgerechtigkeiten gelten besondere Regeln, wie beispielsweise das Recht auf Mitsprache oder die Gleichheit vor Gericht für die politische Gerechtigkeit, die Tausch- und Verteilungs- oder ausgleichende Gerechtigkeit für die soziale Gerechtigkeit. Vgl. Otfried Höffe, Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, 4. Aufl. München 2010; Thomas Ebert, Soziale Gerechtigkeit. Ideen, Geschichte, Kontroversen, Bonn 2010; Elisabeth Holzleithner, Gerechtigkeit, Wien 2009; Fritz Loos/Hans-Ludwig Schreiber, Art. „Recht, Gerechtigkeit“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 231-311.

4 Vgl. René Ahlberg, Der Mythos der sozialen Gleichheit im Sozialismus, in: ders., Gesammelte Werke, hg. von Hartmut Salzwedel, Ingeborg Siggelkow und Brigitte Ahlberg, Frankfurt a.M. 2005, S. 190-220; David Lane, The End of Social Inequality? Class, Status and Power under State Socialism, London 1982.

5 Vgl. Ebert, Soziale Gerechtigkeit (Anm. 3), S. 38f. Für eine „angewandte historische Gerechtigkeitsforschung“ ist Eberts Systematisierung besonders hilfreich. Aus der soziologischen Forschung sind vor allem weiterführend: Stefan Liebig, Interdisziplinäre Gerechtigkeitsforschung. Zur Verknüpfung empirischer und normativer Perspektiven, Frankfurt a.M. 2002; ders./Meike May, Dimensionen sozialer Gerechtigkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 59 (2009) H. 47, S. 3-8. Zum engeren Themenfeld des vorliegenden Aufsatzes vgl. demnächst Corinna Kuhr-Korolev, Gerechtigkeit und Herrschaft. Von der Sowjetunion zum Neuen Russland, Paderborn 2013 (in Vorbereitung). Die Forschung konnte geleistet werden im Rahmen des Verbundprojekts „Kulturen der Gerechtigkeit. Normative Diskurse im Transfer zwischen Westeuropa und Russland“, speziell im Teilprojekt „‚Gerechte Herrschaft‘. Konzept und Wahrnehmung eines Topos im neuzeitlichen Russland“ am Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte des Historischen Instituts der Ruhr-Universität Bochum (<http://www.rub.de/gerechtigkeit>). Gefördert wurde das Projekt in den Jahren 2009–2012 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.

6 Bereits in den 1920er-Jahren existierte in radikalen Kreisen der Jugendorganisation Komsomol und in der Arbeiterschaft die Vorstellung vom vollgefressenen, korrumpierten Parteifunktionär, der die Interessen des Proletariats verrate. Im Prozess der Entstalinisierung fand die Kritik an den Parteibonzen einen populären Ausdruck in Vladimir Dudincevs Roman „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“, der 1956 erschien. Milovan Djilas’ Buch „Die Neue Klasse“ kursierte im Samizdat, und auch Michael Voslenskys „Nomenklatura“ dürfte in dissidentischen Kreisen bekannt gewesen sein.

7 René Ahlberg, Das sowjetische Privilegiensystem, in: Osteuropa 41 (1991), S. 1135-1157, hier S. 1136.

8 Vgl. exemplarisch: Mária Huber, Moskau, 11. März 1985: Die Auflösung des sowjetischen Imperiums, München 2002; Gerhard und Nadja Simon, Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums, München 1993; Stephen Kotkin, Armageddon Averted. The Soviet Collapse, 1970–2000, Oxford 2008; John Keep, Last of the Empires. A History of the Soviet Union 1945–1991, Oxford 1995; Helmut Altrichter, Russland 1989, München 2009.

9 GARF (Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii, Staatliches Archiv der Russischen Föderation), f. 10007: Kollekcija pisem i telegramm narodnym deputatam SSSR, opis 1 za 1989–1991gg.

10 Ein weiterer umfassender Bestand, in dem all diese Themen zur Sprache kommen, ist die Sammlung von Bürgerzuschriften, die Boris El’cin als Deputierter in den Jahren 1989–1991 erhielt: GARF, f. A-664, Kollekcija pisem B.N. El’cinu, 1989–1991.

11 Tatjana Eggeling, „Wie leben?“ Jugend in der Perestrojka, Eine Zeit gesellschaftlicher Neuorientierung in Leserbriefen, Hamburg 1999. Vgl. auch Alexei Yurchak, Everything was forever, until it was no more. The Last Soviet Generation, Princeton 2006. Eindrucksvoll ist die Entstehung gesellschaftlicher Bewegungen in einem Dokumenten- und Interviewband geschildert worden: Ol’ga N. Ansberg/Aleksandr D. Margolis, Obščestvennaja žizn’ Leningrada v gody perestrojki 1985–1991. Sbornik materialov [Das gesellschaftliche Leben Leningrads während der Perestrojka 1985–1991. Sammelband], St. Petersburg 2009.

12 Der erste Artikel erschien bereits in der Pravda vom 13.2.1986. Für diesen Hinweis danke ich Anna Ivanova.

13 Boris El’cin, der spätere erste Präsident der Russischen Föderation, war unter Gorbačev 1985 als 1. Parteisekretär der Stadt Moskau eingesetzt worden und profilierte sich zunehmend als Radikalreformer. Konflikte mit Gorbačev und konservativen Vertretern der KPdSU führten zu seiner Entlassung im Herbst 1987. Im Februar 1988 verlor er seinen Politbürositz. Zum Zeitpunkt des Kongresses war er 1. Stellvertretender Vorsitzender der Staatlichen Baubehörde mit Ministerrang. Dank seiner großen Popularität kehrte er mit den Wahlen zum 1. Kongress der Volksdeputierten 1989 ins politische Leben zurück. Vgl. dazu Boris Jelzin, Aufzeichnungen eines Unbequemen, München 1990.

14 Vystuplenie tovarišča El’cina, B.N. [Auftritt des Genossen El’cin, B.N.], in: XIX Vsesojuznaja konferencija kommunističeskoj partii sovetskogo sojuza, 28 ijunja – 1 ijulja 1988 goda. Stenografičeskij otčet [XIX. Allunionskonferenz der KPdSU, 28. Juni – 1. Juli 1988, Stenografische Aufzeichnungen], Moskau 1988, S. 55-62.

15 M.S. Gorbačev, O l’gotach i privilegijach. Otvet B.N. El’cinu [Über Vergünstigungen und Privilegien. Antwort auf B.N. El’cin], in: Rossijskij nezavisimyj institut social’nych problem [Russisches unabhängiges Institut für soziale Fragen] (Hg.), Gorbačev – El’cin: 1500 dnej političeskogo protivostojanija [Gorbačev – El’cin: 1500 Tage politischer Gegnerschaft], Moskau 1992, S. 84f.

16 Primakov wurde unter Präsident El’cin 1991 Chef des Auslandsgeheimdienstes, 1996–1998 Außenminister der Russischen Föderation, September 1998 bis Mai 1999 Ministerpräsident, 2001–2012 Präsident der russischen Industrie- und Handelskammer.

17 Im Jahr 2000 trat sie als Kandidatin für die Präsidentschaftswahl an. Von 2000 bis 2010 war sie die Vorsitzende des Rats zur Förderung zivilgesellschaftlicher Institute und der Menschenrechte beim Präsidenten der Russischen Föderation.

18 Vgl. Ahlberg, Privilegiensystem (Anm. 7).

19 Vgl. Elke Fein, Rußlands langsamer Abschied von der Vergangenheit. Der KPdSU-Prozeß vor dem russischen Verfassungsgericht (1992) als geschichtspolitische Weichenstellung. Ein diskursanalytischer Beitrag zur politischen Soziologie der Transformation, Würzburg 2007.

20 Ė. Pamfilova, Spravedlivost’ ili uravnilovka [Gerechtigkeit oder Gleichmacherei], in: Izvestija, 10.12.1989.

21 Vgl. Anna Ivanovas Beitrag zu den Beriozka-Läden in diesem Heft.

22 Pamfilova, Spravedlivost’ ili uravnilovka (Anm. 20).

23 In der Sowjetunion erhielten Personen, die in ihrem Arbeitsleben besondere Leistungen für den Staat und die Gesellschaft erbracht hatten, einen Zuschlag auf ihre Rente. Je nach Rang gab es eine Unterscheidung in Pensionäre „örtlicher“, „Republiks-“ und „Allunions-Bedeutung“.

24 GARF, f. 10007, op. 1, d. 164, l. 107. Der Verfasser des Briefs war Rentner, stammte von der Halbinsel Krim und wies sich als Veteran der Arbeit aus. Seine besondere Kritik galt der ungerechten Verteilung von Plätzen für Sanatoriumsaufenthalte, hatte also einen speziellen örtlichen Bezug, da die Krim ein bevorzugtes Erholungsgebiet darstellte.

25 Vgl. z.B. GARF, f. 10007, op. 1, d. 164, ll. 127-132; d. 145, l. 51; d. 151, l. 44.

26 GARF, f. 10007, op. 1, d. 164, ll. 82-83. Sehr deutlich äußerte sich in dieser Weise ein „Personalrentner“ und ehemaliger Schlosser aus der Provinzstadt Rjazan’.

27 Das Genossenschaftsgesetz und das Gesetz über die individuelle Wirtschaftstätigkeit wurden 1988 verabschiedet. Für einen Überblick zu den Wirtschaftsreformen der 1980er-Jahre vgl. Hans-Hermann Höhmann, UdSSR-Wirtschaft. Zwischen Krise und Neuorientierung, Köln 1991; Klaus Segbers, Der sowjetische Systemwandel, Frankfurt a.M. 1989, S. 206-266; zur Bildung von Kapital im Rahmen der so genannten Komsomolwirtschaft vgl. Ol’ga Kryštanovskaja, Anatomija rossijskoj ėlity [Anatomie der russischen Elite], Moskau 2005, S. 296-318.

28 GARF, f. 10007, op. 1, d. 164, l. 5.

29 E.M. Primakov, Soobščenie Komissii po rassmotreniju privilegij, kotorymi pol’zujutsja otdel’nye kategorii graždan [Verlautbarung der Kommission zur Begutachtung von Privilegien, die einzelne Gruppen von Bürgern genießen], in: Pravda, 25.12.1989, S. 2.

30 Vgl. z.B. GARF, f. 10007, op. 1, d. 167, ll. 5-8.

31 Ebd.

32 Ebd. Vgl. auch GARF, f. 10007, op. 1, d. 149, ll. 10-12ob.

33 GARF, f. 10007, op. 1, d. 149, l. 16.

34 Ebd., l. 14; vgl. auch d. 151, ll. 17-18; d. 149, ll. 1-2, l. 4. Die „Personalrenten“ bewegten sich Ende der 1980er-Jahre zwischen 99 und 130 Rubel pro Monat und lagen damit über dem durchschnittlich verfügbaren Einkommen von 80 bis 120 Rubel pro Familienmitglied sowie über der Durchschnittsrente von 60 bis 70 Rubel. Vgl. GARF, f. 10007, op. 1, d. 149, ll. 7-9.

35 Die Geschichte und Relevanz des Ehrbegriffs für die russische Gesellschaft im 20. Jahrhundert stellt ein Forschungsdesiderat dar. Besonders die verbreitete Praxis der Auszeichnung mit Ehrentiteln und Orden müsste unter diesem Aspekt betrachtet werden. Einige Ansätze finden sich bei Dagmar Burkhart, Konzeptualisierungen des Ehrbegriffs in der russischen Kultur, in: Volker Bockholt/Matthias Freise/Walter Kroll (Hg.), Finis coronat opus. Festschrift für Walter Kroll zum 65. Geburtstag, Göttingen 2006, S. 21-34. Vgl. allgemein etwa Dagmar Burkhart, Ehre. Das symbolische Kapital, München 2002; Kwame Anthony Appiah, Eine Frage der Ehre oder Wie es zu moralischen Revolutionen kommt, München 2011.

36 Besonders betraf dies die Angeklagten in der so genannten uzbekskoe delo, ein Korruptionsskandal, dessen Ausläufer von der Parteiführung in Usbekistan bis ins Moskauer ZK reichten.

37 Vgl. GARF, f. 10007, op. 1, d. 145, ll. 59-61; d. 167, ll. 3-4; d. 151, ll. 9-10.

38 Vgl. GARF, f. 10007, op. 1, d. 149, ll. 7-9; d. 164, l. 13.

39 GARF, f. 10007, op. 1, d. 149, l. 16.

40 GARF, f. 10007, op. 1, d. 167, l. 16.

41 GARF, f. 10007, op. 1, d. 143, l. 4.

42 GARF, f. 10007, op. 1, d. 149, l. 30.

43 GARF, f. 10007, op. 1, d. 164, l. 107.

44 Vgl. dazu Klaus Gestwas Beitrag in diesem Heft.

45 Jurij Levada, Die Sowjetmenschen 1989–1991. Soziogramm eines Zerfalls, Berlin 1992, S. 21.

46 Ebd., S. 22.

47 Ebd., S. 23.

48 Den Ansatz, Gerechtigkeit als ständigen Prozess gesellschaftlichen Aushandelns zu betrachten, verfolgt besonders Amartya Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, München 2009.

49 Diesen Teufelskreis beschrieben viele Betroffene in Briefen besonders an El’cin. Vgl. Anm. 10.

50 Vgl. die in Anm. 8 genannte Überblicksliteratur.

51 Die Kontinuität von Gerechtigkeitsvorstellungen verdeutlichen zwei umfassende Umfragen des von Levada geleiteten Meinungsforschungsinstituts VCIOM (Vsesojuznyj centr‘ izučenija obščestvennogo mnenija, Allunionszentrum zur Erforschung der Öffentlichen Meinung) von 1991 und 1996 mit dem Thema „soziale Gerechtigkeit“. Vgl. die Ergebnisse unter <http://sophist.hse.ru/db/oprview.shtml?T=Q&S=1872> und <http://sophist.hse.ru/db/oprview.shtml?ID_S=1873&T=m>.


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Der Aufsatz geht der Frage nach, welche Formen von Armut es in der DDR in den Jahrzehnten nach dem Mauerbau gab und wie über sie kommuniziert wurde. Sozialhistorisch rekonstruiert wird die Unterversorgung zweier ausgewählter Armuts-Gruppen: Rentner und kinderreiche Familien. Auf der Basis von Akten, zeitgenössischen wissenschaftlichen Arbeiten und Medienberichten wird zudem betrachtet, welche Images von „Armut“ zirkulierten. Zwar galt Armut im Selbstverständnis des SED-Staats als überwunden. Dennoch war offenkundig, dass es soziale Ungleichheiten, ja Notlagen auch in der DDR gab, und diese fanden in der damaligen Sozialforschung ein breites Interesse. Die Einkommens- und Wohnverhältnisse von Rentnern, besonders von Rentnerinnen, waren häufig prekär, so dass viele von ihnen eine zusätzliche Arbeit aufnehmen mussten – was mit dem Bild des „rüstigen“ Alten beschönigt wurde. Bei Kinderreichen wurde differenziert zwischen den „würdigen“, „wohlorganisierten“ und den „liederlichen“, „dissozialen“ Familien. So ging es im Hinblick auf beide Gruppen nicht allein darum, ihre Armut zu lindern. Das vorrangige Ziel war vielmehr, sie mit positiven Images zu versehen und abweichendes Verhalten zu sanktionieren.  ∗       ∗       ∗

The article explores various forms of poverty that existed in the GDR in the decades after the building of the Berlin Wall, and how social inequality was communicated and mediated in GDR society. Making use of political, scientific and media sources of information, the article seeks not only to reconstruct the plight of two specific social groups (pensioners and families with many children), but also to illuminate the predominant social images of their situations. Taking into account that poverty was officially considered eradicated, it was nevertheless always obvious that social difficulties were ubiquitous in the SED state. While the poor living conditions of the elderly (especially women) were extenuated by images of the ‘sprightly pensioner’, families with many children were classified into ‘worthy’, ‘well-organized’ people on the one hand and ‘disorderly’, ‘slatternly’ or ‘dissocial’ on the other hand. Hence, the aim of social and symbolic policies was not merely to overcome the poverty of both social groups, but rather to create positive images and to penalize deviant behaviour.


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Anmerkungen

Schluss mit der gleichmacherei. wer mehr arbeitet, soll auch besser leben.

Soziale Ungleichheit hat viele Gesichter und stellt sich in verschiedenen Gesellschaftsformationen jeweils unterschiedlich dar.1 China ist ein besonders interessanter Fall, weil dort eine Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft unter der Ägide der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) abläuft. Sozialistisches Erbe und kapitalistische Gegenwart gehen also eine ungewöhnliche Verbindung ein. Vor diesem Hintergrund soll der vorliegende Beitrag zeigen, dass die heutigen sozialen Ungleichheiten in China nicht allein das Produkt der Hinwendung zum Kapitalismus sind. Gemäß der Humankapitaltheorie müsste in einer marktbasierten Gesellschaft die individuelle Bildung den größten Beitrag zur Erklärung bestehender Einkommensungleichheit liefern. In der Praxis sind aber auch in kapitalistischen Gesellschaften die Startvoraussetzungen der Einzelnen nicht gleich: Sie hängen stark von der sozioökonomischen Stellung der Eltern ab, sprich von deren ökonomischem und kulturellem Kapital. Über die Weitergabe des Status von einer Generation zur nächsten bilden sich typischerweise soziale Schichten heraus, die je nach Gesellschaft mehr oder weniger Durchlässigkeit aufweisen. In China kommt noch ein dritter Faktor hinzu: Die im Staatssozialismus angelegten sozialen Differenzierungen bilden die Basis für heutige soziale Ungleichgewichte. „Politisches Kapital“ spielt nach wie vor eine wichtige Rolle – Verbindungen zur Herrschaftselite und die Stellung im offiziellen politischen Diskurs besitzen entscheidenden Einfluss auf die Schichtungsergebnisse.

Im Zentrum dieses Essays steht die These, dass Institutionen der sozialen Schichtung die sozialistische Phase in der Geschichte der Volksrepublik China überdauert und zusammen mit neuen, in der Reformära nach 1978 entstandenen Differenzierungen zu den heutigen verschärften Disparitäten innerhalb der chinesischen Gesellschaft geführt haben. Alte und neue Ungleichheiten verstärken sich gegenseitig. Dennoch – so der zweite Teil der These – steht China nicht kurz vor einer sozialen Rebellion, wie viele Medienberichte, aber auch akademische Beobachter suggerieren.2 Entgegen dieser landläufigen Meinung wird hier die Ansicht vertreten, dass die soziale Polarisation nicht zur Ausbildung eines Schichten- oder gar Klassenbewusstseins geführt hat, das solchen Autoren zufolge als Basis zur sozialen Mobilisierung dienen könnte. Aufgrund von Chinas ungewöhnlichem Weg in die Moderne birgt eine Übertragung westlicher Paradigmen und damit verbundener Erwartungen die Gefahr von Fehlschlüssen.3 Aber selbst wenn man den Zusammenhang von Sozialstruktur, Schichten- bzw. Klassenbewusstsein und politischem Handeln vorläufig akzeptiert, gilt es empirisch zu überprüfen, ob Chinas gesellschaftliche Umschichtung zu einem entsprechenden Wandel sozialer Identitäten geführt hat.

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1. Segmentierung der Gesellschaft: das hukou-System
 

Nachdem die Kommunistische Partei unter der Führung ihres Vorsitzenden Mao Zedong 1949 die politische Macht errungen hatte, gestaltete sie die Gesellschaft um. Diese Politik des sozialistischen Aufbaus legte zugleich die Grundlage für neue Ungleichheiten. Unter Mao entstand der für Chinas Gesellschaft strukturprägende Gegensatz zwischen Stadt und Land, wobei die Bevorzugung der Städte und der Industrie der orthodoxen sozialistischen Überzeugung entsprang. Diese Stadt-Land-Dichotomie wurde in den 1950er-Jahren angelegt und besaß keine historischen Vorbilder in China.4 Das 1958 eingeführte Haushaltsregistrierungssystem (hukou-System) unterteilte die Bevölkerung in „agrarische“ und „nicht-agrarische“ Segmente. Nur für letztere übernahm der Staat die Verpflichtung, mit Lebensmittelrationen die Versorgung sicherzustellen, während erstere in ihren Volkskommunen als Selbstversorger galten. Dieses System diente zugleich als effektive Migrationskontrolle, da ein Überleben in den Städten ohne Lebensmittelmarken unmöglich wurde.5 Dem sowjetischen Vorbild folgend blieb die Bauernschaft für den Rest der Mao-Ära in den Volkskommunen an das Land gebunden.6 Das Stadt-Land-Gefälle in Versorgung und Lebensstandard wurde damit zementiert. Allein entscheidend für die Zuteilung war die Geburt, so dass einige ausländische Beobachter sogar von einem „Kastensystem“ sprachen.7 Dass die Vererbung des hukou-Status über die Mutter stattfand, war für eine patriarchalisch geprägte Gesellschaft wie China ungewöhnlich und zusätzlich ungünstig für die Aufstiegschancen der Landbevölkerung. Denn Männer besaßen über eine Karriere beim Militär eine der wenigen Möglichkeiten, ihren Status von „agrarisch“ zu „nicht-agrarisch“ zu wechseln.8 Schätzungsweise 80 Prozent der Bevölkerung verharrten durch ihren ländlichen Status in einer Form der „sozialistischen Leibeigenschaft“.9

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Erst die Wirtschaftsreformen unter Deng Xiaoping ab 1978 brachten eine „zweite Befreiung“ (nach 1949) für Chinas Bauern: Die Volkskommunen wurden aufgelöst, und der Boden wurde den Bauernhaushalten zur Bewirtschaftung überlassen. Gelockerte Migrationskontrollen und neu zugelassene freie Bauernmärkte machten das Überleben in den Städten auch ohne Lebensmittelmarken möglich. Allerdings blieb das hukou-System im Kern erhalten, ebenso das Kollektiveigentum am Agrarland. Bis heute entscheidet also weiter die Geburt darüber, zu welchem Bevölkerungsteil ein Chinese gehört und welche sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rechte er damit erhält.10 Für beide Bevölkerungssegmente bestehen getrennte Systeme der sozialen Sicherung sowie große Unterschiede in den Bereichen Bildung und Gesundheit.11

Auch bei der Einkommensentwicklung konnten die Bauern den Abstand zu den städtischen Einkommen nicht dauerhaft verkürzen: Nach einer leichten Annäherung in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre stiegen die städtischen Durchschnittseinkommen nach offiziellen Angaben vom Doppelten auf das Dreifache des ländlichen Werts an.12 Wie bei allen (chinesischen) Statistiken ist auch hier eine vorsichtige Interpretation geboten. Wegen des politischen Drucks, Erfolge der Wirtschaftsentwicklung vorzuweisen, bestehen handfeste Anreize für die Verantwortlichen, die amtlichen Angaben zur Einkommenshöhe der Bevölkerung nach oben zu fälschen.13 Weil diese Anreize aber immer bestehen, ist es möglich, in längeren Zeitreihen und im sektoralen oder regionalen Vergleich belastbare Trends auszumachen. Ein deutlich geringeres Wachstum der ländlichen Einkommen gilt daher als unumstritten, auch wenn zur Größe des Abstands unterschiedliche Angaben vorliegen.14

Die Landbevölkerung kann daher klar als Verlierer der Reformpolitik gelten, insbesondere in den Regionen des Hinterlands, wo nicht wie entlang der Ostküste eine starke ländliche Industrie entstand, die neue Einkommensmöglichkeiten bot.15 Gerade in ärmeren, agrarisch geprägten Gebieten mussten Lokalregierungen auf eine Vielzahl von ad hoc erhobenen Gebühren zurückgreifen. Sie finanzierten damit Schulen, Krankenhäuser oder landwirtschaftliche Beratung, aber auch eine übertriebene Ausdehnung des ländlichen Verwaltungsapparats. Pro Kopf erhoben, wirkten diese Gebühren regressiv und belasteten gerade die einkommensschwachen Bauernhaushalte prozentual besonders stark. Dieses Phänomen, das zu zahlreichen lokalen Protesten führte, bekämpfte die Zentralregierung in den 1990er-Jahren nur halbherzig.16 Kritiker werfen der Regierung unter Jiang Zemin daher auch vor, in diesem Jahrzehnt eine Wirtschaftspolitik verfolgt zu haben, die positive Ansätze der 1980er-Jahre zerstörte und die staatsnahe bzw. städtische Wirtschaft gegenüber der privaten und ländlichen bevorzugte.17

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Eine stärkere Hinwendung zu den Problemen des ländlichen Raums fand erst unter der Regierung Hu Jintaos und Wen Jiabaos statt, die ihre Ämter als Staatspräsident bzw. Ministerpräsident von 2003 bis 2013 innehatten. Diese Regierung schaffte die Agrarsteuern und sonstigen Abgaben im ländlichen Raum 2006 landesweit ab.18 Hinzu kam eine schrittweise Ausdehnung der direkten Produktionssubventionen im Agrarsektor, die sich von 2004 bis 2009 mehr als verzehnfachten.19 Diese Politik zur Unterstützung des ländlichen Raumes verdichtete sich Ende 2005 zu einem neuen Regierungsprogramm unter dem Slogan „Aufbau des neuen sozialistischen Landes“ (shehuizhuyi xin nongcun jianshe).20 Das mit massiven Investitionen verbundene Programm wird von vielen Beobachtern positiv bewertet.21 Große Fortschritte wurden innerhalb weniger Jahre zum Beispiel im Aufbau und bei der Verbreitung eines grundlegenden Systems der Kranken- und Rentenversicherungen für den ländlichen Raum gemacht. Die größte Herausforderung sind derzeit die niedrige Qualität der Gesundheitsversorgung und die unzureichende finanzielle Absicherung trotz Versicherungsschutz.22 Das Leistungsniveau der ländlichen Kranken- und Rentenversicherungen liegt deutlich unter dem des städtischen Pendants.23 Dieser parallele Aufbau getrennter Systeme der sozialen Sicherung könnte die Zweiteilung der Gesellschaft sogar weiter verfestigen.

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2. Land-Stadt-Migration und neue städtische Unterschichten
 

Mangelnde Einkommenszuwächse und die Belastung durch Gebühren im ländlichen Raum machen es verständlich, weshalb immer mehr Menschen in die Städte drängten, vor allem in die „Boomtowns“ entlang der Ostküste. Hier trugen sie durch ihre günstige Arbeitskraft maßgeblich zum Aufschwung der chinesischen Exportindustrie und zum Bauboom bei. Die Zahl dieser so genannten Wanderarbeiter – naturgemäß schwer zu erfassen – dürfte im Verlauf der 1990er-Jahre von schätzungsweise 40 bis 50 Millionen auf ca. 100 Millionen gewachsen sein.24 Neuere Daten zeigen bis 2010 eine erneute Verdoppelung auf über 200 Millionen Menschen. Das hukou-System verhindert zwar nicht mehr ihren Zuzug, erschwert aber eine permanente Ansiedlung und schließt sie von vielen Sozialleistungen aus: Sie werden de facto als Bürger zweiter Klasse behandelt – ein Zustand, der sich erst seit einigen Jahren graduell wandelt.25 Gerade weil ihre Ausgrenzung systematische Züge trägt, erscheint es keineswegs übertrieben, hier von einer neu entstehenden städtischen Unterschicht zu sprechen: ungelernte Arbeitskräfte als ein neues Proletariat, das bereits 1996 schätzungsweise 6 Prozent der Bevölkerung ausmachte und dessen Anteil zehn Jahre später auf über 10 Prozent angestiegen war.26 Chinas wachsende Bedeutung in der Weltwirtschaft fußt also auf einer sozialen Segmentierung, die bereits in der sozialistischen Gesellschaftsordnung angelegt war.27

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Inzwischen ermöglichen lokale Reformen Teilen der Migranten unter Auflagen den Wechsel ihrer Wohnsitzregistrierung in die Stadt. Sie erlangen damit meist aber nur einen Aufenthaltsstatus ohne gleichberechtigte soziale Stellung, so dass sich an ihrer Exklusion wenig ändert.28 Allerdings haben in den letzten Jahren Verschiebungen zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zu höheren Gehältern für Migranten geführt. Machten die durchschnittlichen Migrantengehälter 2001 nur 35 Prozent der entsprechenden Gehälter von Städtern aus, so lag dieser Wert 2010 bereits bei 78 Prozent. Beobachter nehmen an, dass sich dieser Trend zur Lohnkonvergenz fortsetzen wird, plädieren darüber hinaus aber für Reformen zur Überwindung der strukturellen Ausgrenzung von Migranten.29

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Dieser ökonomische Veränderungsdruck ist zudem nicht zu verwechseln mit einem politischen Druck seitens der Migranten selbst. Zwar sehen manche Beobachter eine verstärkte Konfliktbereitschaft, die sich in einigen prominenten Streiks und Protesten der letzten Jahre äußerte.30 Doch sind die Migranten noch weit davon entfernt, ein entsprechendes Klassenbewusstsein zu entwickeln. Zum einen werden sie durch die objektiven Bedingungen – das hukou-System ebenso wie das strikt durchgesetzte Verbot unabhängiger Gewerkschaftsgründungen – daran gehindert, sich in die städtische Gesellschaft zu integrieren und sich mit anderen Teilen der Arbeiterschaft zusammenzuschließen.31 Zum anderen verhindert der offizielle politische Diskurs, dass sie sich subjektiv als eigene Klasse zu begreifen lernen, wie es von zahlreichen Autoren postuliert wird.32 Stattdessen deuten viele Studien darauf hin, dass sie unter dem Einfluss des staatlich propagierten Diskurses stehen, der allen bei entsprechendem Talent und eigenen Anstrengungen Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs verspricht. Wenn sich diese Hoffnungen nicht erfüllen, suchen die Betreffenden die Schuld offenbar eher bei sich als im politischen und sozialen System.33

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3. Städtische Absteiger
 

Neben der Migration wuchs die städtische Unterschicht auch aufgrund einer anderen Entwicklung: Ab dem 15. Nationalen Parteikongress der KPCh 1997 führte die Regierung landesweit eine grundlegende Reform des Staatssektors durch. Um die von hohen Sozialausgaben belasteten Staatsunternehmen rentabel zu machen, wurden bis zu 60 Millionen Arbeiter „freigesetzt“ (xiagang). Dieser Euphemismus bezeichnete ehemalige Beschäftigte staatlicher Einheiten, die zwar keine Arbeit und kein Gehalt mehr hatten, aber über ihre Wohnung oder geringfügige Sozialversorgung noch Beziehungen zu ihrem früheren Arbeitgeber unterhielten.34 Die von der Restrukturierung am schlimmsten betroffenen Unternehmen waren regional stark konzentriert, etwa auf den von Schwerindustrie geprägten Nordosten des Landes. Dort war diese verdeckte Arbeits-losigkeit so hoch, dass sich kaum Auswege boten. Vor allem in solchen Gebieten entluden sich Frustration und pure Verzweiflung in Protesten und Demonstrationen, die teils gewaltsam abliefen und einige tausend, manchmal sogar Zehntausende xiagang-Arbeiter mobilisierten.35 Insgesamt gesehen erwies sich jedoch die Strategie der Regierung als erfolgreich, die Entlassungen zeitlich zu strecken, durch unterschiedliche Entschädigungs- oder Versorgungsleistungen die Betroffenen in kleinere Gruppen zu segmentieren und Anführer von Protesten hart zu bestrafen. So blieben die Demonstrationen in aller Regel lokal oder sogar auf einzelne Firmen begrenzt.36

Des Weiteren bemühte sich die Regierung durch den Aufbau eines Wohlfahrtssystems, zumindest die größte Not zu mildern und die Legitimität ihrer Herrschaft zu stärken.37 Ein 1999 begonnenes Programm zur Sicherung eines minimalen Lebensstandards in den Städten ( dibao ) wurde rasch ausgeweitet und erreichte schon am Ende der Ära Jiang Zemin (2002/03) über 20 Millionen Begünstigte. Die Höhe dieser Wohlfahrtsleistung ist jedoch äußerst bescheiden und variiert zudem regional sehr stark; die Regierung gibt hierfür lediglich 0,1 Prozent des BIP aus.38 Selbst wenn es schwer fällt, bei den dibao-Empfängern von einer „Klasse“ zu sprechen, so können sie als Schicht oder soziale Kategorie bezeichnet werden, die sich ihrer Stellung am Fuße der städtischen Sozialpyramide zunehmend bewusst wird. Diese Selbstsicht ist jedoch eher individuell verankert. Es bildet sich kein kollektives Bewusstsein heraus, das als Basis für gemeinsames Handeln dienen könnte.39 Gerade die Reformverlierer glauben offenbar dem „hegemonialen Diskurs des Markts“, der behauptet, jeder könne aus eigener Kraft in der chinesischen Gesellschaft vorankommen.40 Dies bestätigt eine landesweit durchgeführte repräsentative Befragung des Soziologen Martin Whyte. Sie zeigt, dass gerade die wirtschaftlich schlechter gestellten Bevölkerungsteile der ungleichen Einkommensverteilung erstaunlich unkritisch gegenüberstehen.41 Den Erfolgreichen wird im öffentlichen Diskurs unterstellt, dass sie aufgrund ihres höheren Humankapitals (im Chinesischen wird hier von „Qualität“ [suzhi] gesprochen) den Aufstieg auch verdient hätten. Hierzu gibt es allerdings eine wichtige Ausnahme: diejenigen, die ihre überlegene wirtschaftliche Position durch politische Vorteilsnahme erlangten.42

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4. „Kaderwirtschaft“ und politisches Kapital
 

Die Wirkung des politischen Kapitals ist der Gegenstand einer breiten Debatte, die Victor Nee 1989 in Gang setzte und die ihren Niederschlag auch in der Literatur zur mittel- und osteuropäischen Transformation fand.43 Nee stellte die These auf, dass sich mit dem Übergang zur Marktwirtschaft die Vorteile, welche Administratoren in der Planwirtschaft besitzen, verringern würden. Dagegen müssten diejenigen der Unternehmer steigen. Die Gegenposition vertrat die Ansicht, dass Kader auch weiterhin ihre politischen Beziehungen zu nutzen verstünden und daher mit großen Startvorteilen ausgestattet seien.44 Mit anderen Worten dreht sich die lebhafte Debatte um die jeweiligen Vorteile, die politisches Kapital (operationalisiert als Parteimitgliedschaft oder Kaderstatus) und Humankapital besitzen – und wie sich diese im Zeitverlauf ändern.45 Für das ländliche China wurden deutliche Vorteile politischer Amtsinhaber sowie ihrer Verwandten belegt, die im Verlauf der 1990er-Jahre sogar noch zunahmen.46

Als viel gravierender erwies sich jedoch die durch Statistiken nicht zu erfassende Vorteilsnahme von Staats- und Parteikadern. Sie profitierten bereits in den 1980er-Jahren von einem so genannten zweigleisigen Handelssystem, in dem niedrige planwirtschaftliche Preise und höhere Marktpreise für dieselben Güter nebeneinander existierten. Eigentlich war dies als Produktionsanreiz für die unrentable Staatswirtschaft gedacht, die nun ihre Überquotenproduktion auf dem freien Markt verkaufen durfte. Die wahren Profiteure dieses Systems waren aber diejenigen Kader, die zu Planpreisen über Güter verfügen konnten, um sie dann mit riesigen Gewinnen auf dem Markt weiterzuverkaufen.47 Es war die öffentliche Empörung über diese Korruption verbunden mit Inflation, die ab Mitte der 1980er-Jahre den soziopolitischen Sprengstoff lieferte, der sich schließlich in den Studentenprotesten von 1989 entlud.48

Nachdem diese Herrschaftskrise durch die Niederschlagung der Proteste überwunden war und die Wirtschaftsreformen Anfang der 1990er-Jahre wieder an Fahrt aufnahmen, boten sich politisch gut Vernetzten neue wirtschaftliche Möglichkeiten. Entweder gingen sie selbst in die Wirtschaft (xiahai, wörtlich „hinab ins Meer“), oder sie verschafften ihren Kindern und Verwandten Managementposten. Noch größere Chancen für Profiteure boten sich Ende der 1990er-Jahre bei der Restrukturierung des Staatssektors. Während diese Politik eine große Zahl an Arbeitern die Beschäftigung kostete und viele davon in die Abhängigkeit von Wohlfahrtsleistungen oder in den Individualsektor drängte, konnte sich eine beträchtliche Zahl an Managern das Produktiveigentum der privatisierten Staatsunternehmen günstig aneignen.49 Die engen Verbindungen von Kader- und Unternehmerschicht veranlassten einige Autoren dazu, beide Schichten als zu einer Klasse verschmolzen zu charakterisieren.50 Zudem wurde der Begriff der „roten Kapitalisten“ geprägt, als die Unternehmerschaft politisch immer weiter aufgewertet wurde. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte dieser Prozess 2001, als Jiang Zemin seine Theorie der „Drei Repräsentationen“ dahingehend definierte, dass die KPCh immerzu die „fortschrittlichsten Produktivkräfte“ zu vertreten habe. Damit eröffnete er den Privatunternehmern ebenso wie Fachleuten in der Wirtschaft die Türe zum Beitritt in die Partei – trotz aller Widerstände des linken Parteiflügels.51 Hier entstand faktisch eine neue duale Elite aus der Verbindung von Geld und Macht.52

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Zu beobachten ist ferner, dass die Parteiführung seit Hu Jintao (2002/03) auch flankierende Maßnahmen zur ideologischen Absicherung ihrer Herrschaft ergreift. Unter dem Slogan „Aufbau einer harmonischen Gesellschaft“ (goujian hexie shehui) entwickelte sie eine neue politische Agenda. Die Anklänge an die konfuzianische Tradition waren dabei durchaus beabsichtigt: Die Regierung setzte darauf, traditionelles Denken zu reaktivieren, um „soziale Stabilität“ als die Grundlage für gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung über alle anderen politischen Ziele zu stellen. Dabei wurden orthodoxe sozialistische Formulierungen keineswegs fallengelassen, sondern lediglich anders vermittelt.53 Hus Nachfolger Xi Jinping, der seit Oktober 2012 an der Spitze der Kommunistischen Partei steht, reagierte zudem mit einer neuen Kampagne auf die verbreitete Unzufriedenheit über die Korruption der Kader. Dabei setzt er, statt unabhängige Instanzen zuzulassen, ganz auf die parteiinterne Kontrolle. Ein nachhaltiger Erfolg der Korruptionsbekämpfung ist daher nicht zu erwarten.

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5. Entstehende Mittelschichten
 

Im Gegensatz zu den neuen Unterschichten profitierten in der Periode 1985 bis 1997 im städtischen China Beschäftigte in öffentlichen Einrichtungen der Forschung, des Gesundheits- oder Bildungswesens, in Kunst und Medien durch überdurchschnittliche Einkommenszuwächse. Diese Personengruppe will nicht recht in die Dichotomie von „Administratoren“ versus „Produzenten“ passen, auch wenn sie dem Staat nahesteht.54 Eher sind hier die Anfänge einer städtischen Mittelschicht zu sehen.55 Weiter verstärkt wurde dieser Trend durch die am Ende der 1990er-Jahre durchgeführte Reform des Wohnungswesens, welche genau solche Gruppen bei der Umwandlung von staatlichen Wohnungen in Privateigentum begünstigte.56 Wohnungseigentum, das zuvor praktisch nur im ländlichen Raum bestanden hatte, wurde zu einem zentralen Statusmerkmal der chinesischen Gesellschaft. Die Eigenheimquote liegt inzwischen mit 82 Prozent etwa doppelt so hoch wie in Deutschland.57 Dabei entstanden zugleich aber große qualitative Unterschiede und eine räumliche Segregation der verschiedenen Schichten in Wohnviertel, die ein sichtbarer Ausdruck der fortschreitenden gesellschaftlichen Stratifizierung ist.58 Die Bildung einer Mittelschicht ist seit dem 15. Nationalen Parteikongress 1997 ein explizites Politikziel der KPCh; die Umsetzung trägt aber oft die Handschrift der jeweiligen lokalen Amtsträger und variiert daher regional.

Im Verlauf der 1990er-Jahre setzte sich ein neuer Stratifikationsmechanismus durch, der die Entwicklung dieser Mittelschichten begünstigte. Politisches Kapital sank im Ansehen, ökonomisches Kapital legte in der Wertschätzung zu, aber Humankapital (Bildung) wurde als Statusmerkmal am wichtigsten. Folglich erlangen gebildete und zugleich wohlhabende Personen das höchste Sozialprestige. Andere, die ihren Wohlstand politischen Verbindungen verdanken oder Vermögen besitzen, aber keine höhere Bildung, werden von der Mehrheit der Bevölkerung abschätzig als Neureiche (baofahu) betrachtet.59 Der offizielle, vom Parteistaat propagierte Diskurs unterstützte diese Entwicklung insofern, als er allen Schichten ein neues Idealbild vorhielt, das sie zu individueller Anstrengung im Rahmen des bestehenden Systems anleiten sollte: der Mittelschichtsbürger, der seine soziale Stellung durch kulturelles Kapital erwirbt und sie durch Konsum ausdrückt und zugleich festigt.60

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Guo spricht in diesem Zusammenhang von einem „Mittelklasse-Fetisch“ und weist darauf hin, dass die Fixierung hierauf die Diskussion der Kapitalisten-Kader-Klasse verhindere – auch dies im Sinne des Parteistaats, für den die Existenz einer solchen Klasse eine Herausforderung seiner Legitimität bedeute.61 Die Fokussierung der chinesischen Diskussion auf die Mittelschichten hat eine paradoxe Folge. Denn die Betreffenden selbst bleiben bezogen auf ihre soziale Identität unsicher: Bei allen Diskussionen um die genaue Abgrenzung dieser Mittelschichten sind sich die Fachwissenschaftler doch einig, dass sie nur über ein schwach ausgeprägtes Schichtenbewusstsein verfügen.62 Es ist daher mehr als fraglich, ob sie eine oft geäußerte Erwartung erfüllen und zu einem Motor der politischen Liberalisierung in China werden.63

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6. Fazit und Ausblick
 

Die in der Mao-Ära angelegte Stadt-Land-Dichotomie, die auf einem sozialistischen Glauben an die Fortschrittlichkeit der Städte, der Industrie und des Proletariats gründete, ist bis heute strukturprägend für die Ungleichheit in der chinesischen Gesellschaft. Man kann sogar argumentieren, dass Chinas gestiegene Bedeutung in der globalen Wirtschaft maßgeblich auf der Ausbeutung der Wanderarbeiter beruht, die erleichtert wird durch das hukou-System und so ihren Ursprung in der sozialistischen Gesellschaftsordnung hat.64 Seither ist zwar viel Bewegung in die soziale Schichtung Chinas gekommen, aber dieser grundlegende Gegensatz wurde bislang nicht überwunden. Kontinuität zeigt sich auch darin, dass politisches Kapital nach wie vor eine große Rolle für den Aufstieg in die wirtschaftliche Elite besitzt.

Diese Verbindung von Macht und Geld hat in der Öffentlichkeit Unmut hervorgerufen. Dennoch scheint sich bislang eine Mehrzahl der Chinesen – Beschwerden im Internet oder lokaler Proteste zum Trotz – mit dem derzeitigen Sozialsystem abzufinden. Dies ist sicher nicht mit allgemeiner Zufriedenheit gleichzusetzen. Im Gegenteil besitzt jede der oben genannten Schichten ihre eigenen Gründe für Klagen. Aber genau deshalb wird ein Zusammenschluss hinter einer gemeinsamen Agenda des Wandels erschwert: „A pattern in which each social group feels a mixture of grievances and positive feelings is a recipe for social and political stability, not instability.“65 Die obige Diskussion hat zudem gezeigt, dass die meisten sozialen Schichten noch über kein ausgeprägtes kollektives Bewusstsein verfügen, das als Grundlage für gemeinsame politische und soziale Forderungen dienen könnte. Aus dieser Perspektive betrachtet sind Erwartungen vieler Autoren, China stünde eine soziale Rebellion bevor, übertrieben.

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Anmerkungen:

1 Dieser Essay beschränkt sich aus pragmatischen Gründen auf die ökonomischen Aspekte in China. Zu Ungleichheiten aufgrund von Geschlecht oder Ethnie vgl. neben vielen anderen Wenfang Tang/William L. Parish, Chinese Urban Life under Reform. The Changing Social Contract, Cambridge 2000, Kapitel 8 und 9; Ellen R. Judd, Gender & Power in Rural North China, Stanford 1994; Elena Barbantseva, From the Language of Class to the Rhetoric of Development: Discourses of „Nationality“ and „Ethnicity“ in China, in: Journal of Contemporary China 17 (2008), S. 565-589.

2 Vgl. exemplarisch: Unrest in the Cities: Middle Class Blues, in: Economist, 29.10.2012, URL: <http://www.economist.com/blogs/analects/2012/10/unrest-cities>; Minxin Pei, New Leaders, Old Challenges – China in Power Transition, Bertelsmann Stiftung, Asia Policy Brief 2012/03; Cheng Li, The End of the CCP’s Resilient Authoritarianism? A Tripartite Assessment of Shifting Power in China, in: China Quarterly 211 (2012), S. 595-623.

3 Yunxiang Yan, The Chinese Path to Individualization, in: British Journal of Sociology 61 (2010), S. 489-512.

4 Hanchao Lu, Small-Town China: A Historical Perspective on Rural-Urban Relations, in: Martin K. Whyte (Hg.), One Country, Two Societies. Rural Urban Inequality in Contemporary China, Cambridge 2010, S. 29-54.

5 So ermöglichte das hukou-System die zwangsweise Rückführung von ländlichen Arbeitern nach dem gescheiterten „Großen Sprung nach vorn“ (1958–1960), die zuvor für die städtische Industrie rekrutiert worden waren. In nur zweieinhalb Jahren (1961–1963) entließ der Staat 19,4 Millionen Arbeiter und damit 38,4 Prozent der damaligen Gesamtzahl; vgl. Lei Guang, Broadening the Debate on Xiagang: Policy Origins and Parallels in History, in: Thomas Gold u.a. (Hg.), Laid-off Workers in a Workers’ State. Unemployment with Chinese Characteristics, New York 2009, S. 15-37, hier S. 30.

6 Zur ländlichen Sozialstruktur im Überblick: Jonathan Unger, Status Groups and Classes in a Chinese Village: From the Mao Era through Post-Mao Industrialization, in: Beatriz Carrillo/David S.G. Goodman (Hg.), China’s Peasants and Workers. Changing Class Identities, Cheltenham 2012, S. 15-39.

7 Sulamith H. Potter/Jack M. Potter, China’s Peasants. The Anthropology of a Revolution, Cambridge 1990, S. 296ff.

8 Martin K. Whyte, The Paradoxes of Rural-Urban Inequality in Contemporary China, in: ders., One Country, Two Societies (Anm. 4), S. 1-25, hier S. 11. Zur (zögerlichen) Reform dieses Grundsatzes siehe Fei-Ling Wang, Renovating the Great Floodgate: The Reform of China’s Hukou System, in: ebd., S. 335-364, hier S. 338. Eine weitere Chance zur Umwandlung des hukou-Status in dieser Richtung besteht bis heute über ein Universitätsstudium. Allerdings werden ländliche Schüler durch das Quotensystem der nationalen Hochschulzugangsprüfung (gaokao) systematisch benachteiligt; siehe Mette Halskov Hansen, Recent Trends in Chinese Rural Education: The Disturbing Rural-Urban Disparities and the Measures to Meet Them, in: Eric Florence/Pierre Defraigne (Hg.), Towards a New Development Paradigm in Twenty-First Century China. Economy, Society and Politics, London 2013, S. 165-178.

9 Whyte, Rural-Urban Inequality (Anm. 8), S. 1.

10 Wu Jieh-min, Rural Migrant Workers and China’s Differential Citizenship: A Comparative Institutional Analysis, in: Whyte, One Country, Two Societies (Anm. 4), S. 55-81.

11 Emily Hannum/Meiyan Wang/Jennifer Adams, Rural-Urban Disparities in Access to Primary and Secondary Education under Market Reforms, in: Whyte, One Country, Two Societies (Anm. 4), S. 125-146; Winnie Yip, Disparities in Health Care and Health Status: The Rural-Urban Gap and Beyond, in: ebd., S. 147-165.

12 National Bureau of Statistics of China (Hg.), China Statistical Yearbook, Beijing (versch. Jgg.).

13 Yongshun Cai, Between State and Peasant: Local Cadres and Statistical Reporting in Rural China, in: China Quarterly 163 (2000), S. 783-805.

14 Werden regionale Unterschiede in Lebenshaltungskosten, Subventionen und Migranteneinkommen berücksichtigt, liegen die städtischen Durchschnittseinkommen eher beim Doppelten als beim Dreifachen des ländlichen Werts; vgl. Terry Sicular u.a., How Large is China’s Rural-Urban Income Gap?, in: Whyte, One Country, Two Societies (Anm. 4), S. 85-104; Li Shi/Luo Chuliang, Reestimating the Income Gap Between Urban and Rural Households in China, ebd., S. 105-121. Beide Arbeiten basieren nicht auf amtlichen Statistiken, sondern auf einer akademischen Erhebung (China Household Income Project).

15 Scott Rozelle, Stagnation without Equity: Patterns of Growth and Inequality in China’s Rural Economy, in: China Journal 35 (1996), S. 63-96, hier S. 82. Rozelle hat berechnet, dass 1983 rund 55 Prozent der interprovinziellen Einkommensungleichheit durch ländliche Industrialisierung erklärt werden konnten, während dieser Wert für 1992 fast 80 Prozent betrug.

16 Xiaobo Lü, The Politics of Peasant Burden in Reform China, in: Journal of Peasant Studies 25 (1997), S. 113-138; Björn Alpermann, Der Staat im Dorf. Dörfliche Selbstverwaltung in China, Hamburg 2001, Kapitel IV.

17 Yasheng Huang, Capitalism with Chinese Characteristics. Entrepreneurship and the State, Cambridge 2008.

18 Christian Göbel, Paving the Road to a Socialist New Countryside: China’s Rural Tax and Fee Reform, in: Björn Alpermann (Hg.), Politics and Markets in Rural China, London 2011, S. 155-171.

19 Xiande Li/Shihai Wang/Yan Jia, Grain Market and Policy in China, in: Alpermann, Politics and Markets (Anm. 18), S. 89-105, hier S. 99.

20 Anna L. Ahlers/Gunter Schubert, „Building a New Socialist Countryside“ – Only a Political Slogan?, in: Journal of Current Chinese Affairs 38 (2009) H. 4, S. 35-62.

21 Su Minzhi, China’s Rural Development Policy. Exploring the „New Socialist Countryside“, Boulder 2009.

22 World Bank/Development Research Center of the State Council, PR China, China 2030. Building a Modern, Harmonious, and Creative High-Income Society, Washington 2012, S. 331f.

23 Die städtischen Sozialsysteme wurden ebenfalls weiter ausgebaut; vgl. Linda Wong, Improving the Chinese Welfare State, in: Florence/Defraigne, Towards a New Development Paradigm (Anm. 8), S. 127-143.

24 Thomas Scharping, Bevölkerung, in: Brunhild Staiger/Stefan Friedrich/Hans-Wilm Schütte (Hg.), China. Lexikon zu Geographie und Wirtschaft, Darmstadt 2006, S. 26-45, hier S. 45.

25 Shaohua Zhan, What Determines Migrant Workers’ Life Chances in Contemporary China? Hukou, Social Exclusion, and the Market, in: Modern China 37 (2011), S. 243-285, hier S. 251ff.; Wang, Renovating the Great Floodgate (Anm. 8).

26 Thunghong Lin/Xiaogang Wu, The Transformation of the Chinese Class Structure, 1978–2005, in: Social Transformations in Chinese Societies 5 (2009), S. 81-112, hier S. 91.

27 Pun Ngai/Lu Huilin, Unfinished Proletarianization: Self, Anger, and Class Action among the Second Generation of Peasant-Workers in Present-Day China, in: Modern China 36 (2010), S. 493-519; Pun Ngai/Jenny Chan, Global Capital, the State, and Chinese Workers: The Foxconn Experience, in: Modern China 38 (2012), S. 383-410.

28 Zhan, Migrant Workers’ Life Chances (Anm. 25).

29 World Bank/DRC, China 2030 (Anm. 22), S. 355; Liu Kaiming, The Shortage of Peasant Workers and the Dilemma Facing Chinese Industry, in: Florence/Defraigne, Towards a New Development Paradigm (Anm. 8), S. 105-114.

30 Wenfang Tang/Qing Yang, The Chinese Urban Caste System in Transition, in: China Quarterly 196 (2008), S. 759-779; Parry P. Leung/Alvin Y. So, The Making and Re-Making of the Working Class in South China, in: Carrillo/Goodman, China’s Peasants and Workers (Anm. 6), S. 62-78.

31 Anita Chan/Kaxton Siu, Chinese Migrant Workers: Factors Constraining the Emergence of Class Consciousness, in: Carrillo/Goodman, China’s Peasants and Workers (Anm. 6); Teresa Wright, Accepting Authoritarianism. State-Society Relations in China’s Reform Era, Stanford 2010, Kapitel 5.

32 Vgl. neben den oben zitierten Autoren auch Chris Kin-Chi Chan/Pun Ngai, The Making of a New Working Class? A Study of Collective Actions of Migrant Workers in South China, in: China Quarterly 198 (2009), S. 287-303. Kritisch hierzu Yingjie Guo, Classes without Class Consciousness and Class Consciousness without Classes: The Meaning of Class in the People’s Republic of China, in: Journal of Contemporary China 21 (2012), S. 723-739; Björn Alpermann, Class, Citizenship and Individualization in China’s Modernization, in: ProtoSociology 28 (2011), S. 7-24, hier S. 19.

33 Björn Alpermann, Bauer, Händler, Produktpirat: Soziale Identitäten in China im Wandel, Kompetenznetz „Regieren in China“, Background Paper No. 5/2011, URL: <http://regiereninchina.uni-wuerzburg.de/uploads/media/Background_Paper_No.5_2011.pdf>; Wang Feng, Boundaries of Inequality: Perceptions of Distributive Justice among Urbanites, Migrants, and Peasants, in: Whyte, One Country, Two Societies (Anm. 4), S. 219-240.

34 Mary E. Gallagher, China’s Older Workers: Between Law and Policy, Between Laid-Off and Unemployed, in: Gold u.a., Laid-off Workers (Anm. 5), S. 135-158.

35 Yongshun Cai, The Resistance of Chinese Laid-off Workers in the Reform Period, in: China Quarterly 170 (2002), S. 327-344.

36 Xi Chen, Between Defiance and Obedience: Protest Opportunism in China, in: Elizabeth J. Perry/Merle Goldman (Hg.), Grassroots Political Reform in Contemporary China, Cambridge 2007, S. 252-281; Feng Chen, Worker Leaders and Framing Factory-Based Resistance, in: Kevin J. O’Brien (Hg.), Popular Protest in China, Cambridge 2008, S. 88-107, hier S. 92ff.

37 Thomas Heberer/Gunter Schucher, Politische Partizipation und Regimelegitimität in der VR China, Bd. 1: Der urbane Raum, Wiesbaden 2008, Kapitel 5.

38 Dorothy J. Solinger/Yiyang Hu, Welfare, Wealth and Poverty in Urban China: The Dibao and Its Differential Disbursement, in: China Quarterly 211 (2012), S. 741-764, hier S. 748.

39 Dorothy J. Solinger, The New Urban Underclass and Its Consciousness: Is It a Class?, in: Journal of Contemporary China 21 (2012), S. 1011-1028.

40 Marc Blecher, Hegemony and Workers’ Politics in China, in: China Quarterly 170 (2002), S. 283-303.

41 Martin K. Whyte, Myth of the Social Volcano. Perceptions of Inequality and Distributive Injustice in Contemporary China, Stanford 2010, Kapitel 6.

42 Carolyn L. Hsu, Creating Market Socialism. How Ordinary People Are Shaping Class and Status in China, Durham 2007.

43 Victor Nee, A Theory of Market Transition: From Redistribution to Markets in State Socialism, in: American Sociological Review 54 (1989), S. 663-681.

44 Ákos Róna-Tas, The First Shall be the Last? Entrepreneurship and Communist Cadres in the Transition from Socialism, in: American Journal of Sociology 100 (1994), S. 40-69.

45 Yang Cao/Victor G. Nee, Comment: Controversies and Evidence in the Market Transition Debate, in: American Journal of Sociology 105 (2000), S. 1175-1189; Zhou Xueguang, Reply: Beyond the Debate and Towards Substantive Institutional Analysis, in: ebd., S. 1190-1195.

46 Andrew G. Walder/Litao Zhao, Political Office and Household Wealth: Rural China in the Deng Era, in: China Quarterly 186 (2006), S. 357-376.

47 Chris Bramall, Chinese Economic Development, London 2009, S. 350ff.

48 Richard Baum, Burying Mao. Chinese Politics in the Age of Deng Xiaoping, Princeton 1994, S. 190ff. und Kapitel 10, sowie ausführlicher Heike Holbig, Inflation als Herausforderung der Legitimation politischer Herrschaft in der VR China. Wirtschaftspolitische Strategien in den Jahren 1987-89, Hamburg 2001.

49 Xueliang Ding, The Illicit Asset Stripping of Chinese State Firms, in: China Journal 43 (2000), S. 1-28.

50 Alvin So, The Changing Pattern of Class and Class Conflict in China, in: Journal of Contemporary Asia 33 (2003), S. 363-376, hier S. 369. Ähnlich argumentiert David S.G. Goodman, Why China Has No New Middle Class: Cadres, Managers and Entrepreneurs, in: ders. (Hg.), The New Rich in China. Future Rulers, Present Lives, London 2008, S. 23-37.

51 Bruce J. Dickson, Red Capitalists in China. The Party, Private Entrepreneurs and Prospects for Political Change, Cambridge 2003; Kellee S. Tsai, Capitalism Without Democracy. The Private Sector in Contemporary China, Ithaca 2007.

52 In der Mao-Ära bestand eine duale Elite auf der Basis von politischem und Humankapital; vgl. Andrew G. Walder/Bobai Li/Donald J. Treiman, Politics and Life Chances in a State Socialist Regime: Dual Career Paths into the Urban Chinese Elite, 1949 to 1996, in: American Sociological Review 65 (2000), S. 191-209.

53 Maria Bondes/Sandra Heep, Frames We Can Believe In: Official Framing and Ideology in the CCP’s Quest for Legitimacy, GIGA Working Papers 187 (2012), URL: <http://www.giga-hamburg.de/dl/download.php?d=/content/publikationen/pdf/wp187_bondes-heep.pdf>.

54 Tang/Parish, Chinese Urban Life (Anm. 1), S. 94.

55 Ivan Cucco, The Professional Middle Classes: Management and Politics, in: Goodman, The New Rich in China (Anm. 50), S. 126-147; Jingqing Yang, Professors, Doctors, and Lawyers: The Variable Wealth of the Professional Classes, in: ebd., S. 148-167.

56 Siming Li/Zheng Yi, The Road to Homeownership under Market Transition: Beijing, 1980–2001, in: Urban Affairs Review 42 (2006), S. 342-368.

57 Luigi Tomba, The Housing Effect: The Making of China’s Social Distinctions, in: Cheng Li (Hg.), China’s Emerging Middle Class. Beyond Economic Transformation, Washington 2010, S. 193-216, hier S. 199ff.

58 Zhigang Li/Fulong Wu, Socio-spatial Differentiation and Residential Inequalities in Shanghai: A Case Study of Three Neighborhoods, in: Housing Studies 21 (2006), S. 695-717; Li Zhang, In Search of Paradise. Middle-Class Living in a Chinese Metropolis, Ithaca 2010.

59 Hsu, Creating Market Socialism (Anm. 42).

60 Ann Anagnost, From „Class“ to „Social Strata“: Grasping the Social Totality in Reform-Era China, in: Third World Quarterly 29 (2008), S. 497-519, hier S. 499.

61 Guo, The Meaning of Class (Anm. 32), S. 739.

62 Shen Hui, Dangdai Zhongguo zhongjian jieceng rentong yanjiu [Studie zum Bewusstsein der Mittelschicht im gegenwärtigen China], Peking 2008; Li Chunling, Characterizing China’s Middle Class: Heterogenous Composition and Multiple Identities, in: Li, China’s Emerging Middle Class (Anm. 57), S. 135-156.

63 Chen Jie/Lu Chunlong, Democratization and the Middle Class in China: The Middle Class’s Attitude toward Democracy, in: Political Research Quarterly 64 (2011), S. 705-719; Björn Alpermann, Die politische Rolle der entstehenden Mittelschichten in China: Wandel oder Status quo?, Kompetenznetz „Regieren in China“, Background Paper No. 1/2012, URL: <http://regiereninchina.uni-wuerzburg.de/uploads/media/Background_Paper_No.1_2012.pdf>.

64 Pun/Lu, Unfinished Proletarianization (Anm. 27).

65 Whyte, Myth of the Social Volcano (Anm. 41), S. 99.