Aus welchem nicht mehr unabhängigen land kommt der dalai lama

Der Dalai Lama am 18. April 1959 in der nordostindischen Stadt Tezpur. Zwei Wochen davor hatte ihm die indische Regierung Asyl gewährt. (Bild: AP)

Am 17. März 1959 musste der Dalai Lama seine tibetische Heimat wohl für immer verlassen. Er entkam dem chinesischen Militär nur knapp. Für Peking ist der Dalai Lama auch sechzig Jahre danach die Personifikation des bösen Separatisten.

Matthias Müller, Peking 14.03.2019, 11.00 Uhr

Die Erinnerungen an die Ereignisse vor sechzig Jahren werden das geistliche Oberhaupt der tibetischen Buddhisten wohl bis zu seinem Lebensende nicht loslassen. Am 17. März 1959 musste der damals 23 Jahre alte 14. Dalai Lama seine Heimat fluchtartig verlassen. Seitdem hat er nie mehr tibetischen Boden betreten dürfen.

Auch sechs Jahrzehnte nach der Flucht ist der charismatische Dalai Lama für die biederen chinesischen Machthaber noch immer die Personifikation des bösen Separatisten. Dies, obwohl er sich für einen Verbleib der tibetischen Gebiete in der Volksrepublik ausspricht. Derzeit gibt es wegen der harten Haltung Pekings keine Anzeichen dafür, dass der mittlerweile 83-jährige Dalai Lama noch einmal in seine Heimat wird zurückkehren dürfen.

Der Flucht war eine harmlos erscheinende Einladung der chinesischen Volksbefreiungsarmee vorausgegangen, die etwas ausserhalb von Lhasa ihren Hauptsitz hatte. Die Spitze des in Tibet verhassten chinesischen Militärs lud den Dalai Lama zu einer Tanzveranstaltung am 10. März ein. Es gab jedoch eine Bedingung: Die bewaffnete Leibwache durfte den Dalai Lama nicht begleiten.

Die Tibeter witterten eine Falle. Sie befürchteten, dass die Chinesen ihr geistliches Oberhaupt verhaften und nach Peking verschleppen würden. Rund 30 000 Tibeter umstellten daraufhin den Sommerpalast Norbulingka und bildeten einen menschlichen Schutzschild für den Dalai Lama. In den folgenden Tagen verschärften sich die Proteste gegen die chinesischen Besatzer. Die Rufe nach der Unabhängigkeit Tibets wurden lauter.

Der Dalai Lama (auf dem weissen Pferd) am vierten Tag seiner Flucht durch den Himalaja. (Bild: AP)

Als Soldat verkleidet durch den Himalaja

Am 16. März brachte die Volksbefreiungsarmee schwere Artillerie in Reichweite von Lhasa und in der Nähe der Sommerresidenz in Stellung. Für die Tibeter war dieses Vorgehen das Zeichen, dass ein chinesischer Angriff unmittelbar bevorstand. So kam es: Am Nachmittag des 17. März feuerten die Chinesen Mörsergranaten auf den Palast.

In seiner Autobiografie «Mein Leben und mein Volk» schreibt der Dalai Lama: «Nun hatten die chinesischen Granatwerfer das Warnzeichen des Todes gegeben. Jeder Beamte innerhalb des Palastes, jedes noch so bescheidene Mitglied des grossen Gefolges ringsum dachte jetzt nur eines: wie mein Leben geschützt werden konnte. Und das hiess, dass ich den Palast und die Stadt sofort verlassen musste.»

Am 17. März gegen 22 Uhr brach der eine Soldatenuniform tragende Dalai Lama in Richtung indische Grenze auf. Nach dem beschwerlichen Weg durch den Himalaja erreichten er und seine kleine Entourage am 31. März den Khenzimane-Pass, wo er schliesslich indisches Staatsgebiet betrat. Am 3. April 1959 erklärte der indische Ministerpräsident Jawaharlal Nehru im Parlament, seine Regierung habe dem Dalai Lama Asyl gewährt. Ende April richtete der Geflüchtete in der nordindischen Stadt Mussoorie die tibetische Exilregierung ein, die später nach Dharamsala verlegt wurde.

In Lhasa waren unterdessen am Abend des 19. März heftige Kämpfe zwischen tibetischen und chinesischen Truppen ausgebrochen. Laut Schätzungen kamen in den darauffolgenden Tagen in Lhasa 86 000 Tibeter ums Leben. Zahlreiche tibetische Kulturgüter wurden zerstört. Tausende Mönche seien entweder auf der Stelle getötet, zur Zwangsarbeit verschleppt oder deportiert worden, schreibt Tseten Samdup, der Repräsentant des Dalai Lama in Genf.

China steht wegen der repressiven Tibet-Politik weltweit seit Jahrzehnten in der Kritik. Diese prallt jedoch an den Machthabern ab. Nach der Lesart Pekings sind die tibetischen Gebiete bereits während der Yuan-Dynastie – zwischen 1279 und 1368 – in das chinesische Staatsgebiet eingegliedert worden. Später, während der Qing-Dynastie (1616 bis 1912), hatte Tibet den Status eines mit China assoziierten Gebiets: Peking war für die Aussenpolitik und das Militär zuständig; sonst verwaltete Tibet sich selbst. Mit dem Ende der Qing-Dynastie und der Abdankung des letzten Kaisers, Puyi, erklärte der 13. Dalai Lama Tibet für unabhängig. Als die noch junge Volksrepublik China Tibet 1950 besetzte, hatte jedoch keine ausländische Regierung das unabhängige Tibet anerkannt.

«Autonomie» nur auf dem Papier

Der China-Experte Thomas Heberer schreibt, dass nach Auffassung Pekings alle Völker, die bis 1911 auf chinesischem Gebiet gelebt hatten, Chinesen seien – unabhängig von deren Nationalität. Nach chinesischem Rechtsverständnis hat man 1950 denn auch nur legitime Rechte wiederhergestellt, die China wegen zeitweiliger Schwäche und Zerrissenheit zwischen 1912 und 1949 nicht auszuüben vermochte. Es gibt jedoch auch eine andere Sichtweise: Nach den Normen des heute gültigen Völkerrechts habe die Volksrepublik Tibet okkupiert, schreibt Heberer.

Seit der Flucht des Dalai Lama vor sechzig Jahren hat Peking Tibet nach han-chinesischen Vorstellungen umgestaltet und die traditionelle Kultur zu zerstören versucht. 1965 wurde die Autonome Region Tibet gegründet. Zudem gibt es in den Provinzen Gansu, Qinghai, Sichuan sowie Yunnan zwölf weitere autonome tibetische Präfekturen und Bezirke. Allerdings gilt das Wort «autonom» nur auf dem Papier.

Die Provinz und die Gebiete müssen die Vorgaben der chinesischen Zentralregierung umsetzen, und die lokalen politischen Akteure sind Peking treu ergeben. Die Herzen der Tibeter erreichen die Hanchinesen mit ihrem repressiven Vorgehen allerdings nicht. Fragt man die Bewohner in den tibetisch geprägten Gebieten, ob sie Chinesen oder Tibeter seien, erhält man in der Regel die lapidare Antwort: «Natürlich bin ich Tibeter.»

Eine tibetische Frau berührt 1956 bei einem Besuch des Dalai Lama in der indischen Hauptstadt Delhi die Füsse des spirituellen Oberhaupts. Drei Jahre später musste der Dalai Lama endgültig nach Indien flüchten. (Bild: AP)

Unter den Tibetern ist der Widerstand gegen die chinesischen Besatzer nie erloschen. Die Erinnerung an die Ereignisse von 1959 schlug in Lhasa im März 2008 in Kämpfe zwischen den chinesischen Sicherheitsbehörden und Tibetern mit vielen Toten um. Zwischen 2011 und 2013 verbrannten sich in den Provinzen Gansu und Qinghai zunächst zahlreiche buddhistische Geistliche aus Protest gegen die chinesische Tibet-Politik. Später schlossen sich Laien der Aktion an. Seit Anfang 2014 ist die Zahl der Selbstverbrennungen zurückgegangen. Dies ist jedoch vor allem eine Folge der sich verschärfenden Repression und der Überwachung durch die chinesischen Behörden.

Nervosität vor dem Jahrestag

Der Fall des aus der Provinz Qinghai stammenden Tibeters Tashi Wangchuk spiegelt exemplarisch, wie schlecht es um die Menschenrechte und die Wahrung der tibetischen Kultur bestellt ist. Er wurde im Mai 2018 zu fünf Jahren Haft verurteilt, weil er zum Separatismus aufgerufen haben soll.

Sein Vergehen bestand darin, dass er gefordert hatte, in den Schulen in von Tibetern bewohnten Gebieten verstärkt die tibetische Sprache zu unterrichten. In den sozialen Netzwerken hatte Tashi Wangchuk betont, dass die meisten tibetischen Kinder ihre Muttersprache nicht mehr fliessend sprächen. Das Beweismaterial der chinesischen Justiz gegen ihn bestand laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International vor allem in dem von der «New York Times» 2015 produzierten Dokumentarfilm «A Tibetan’s Journey for Justice».

Die bei Tibet-Fragen höchst sensiblen chinesischen Behörden sind derzeit noch etwas unruhiger als sonst. Ausländische Touristen dürfen bis Anfang April nicht in die Autonome Provinz Tibet reisen. Die Sicherheitskräfte treibt die Sorge um, dass es wegen des 60. Jahrestags der Flucht des Dalai Lama und im Gedenken an die Opfer der Proteste im März 2008 zu Demonstrationen in Lhasa kommen wird. Solche Bilder würden nicht ins Bild der von Peking propagierten heilen tibetischen Welt passen.

Zuerst ist da dieser durchdringende Ton. Er zieht mit dem ersten Frühnebel durch die Gassen, schwebt über verlassene Dachterrassen, er dringt durch Tempel und Teestuben, durch Mauerritzen und Türspalte in jedes Schlafzimmer, jede schmuddelige Imbissbude und jeden vollgestopften Souvenirshop der Stadt. Die Fichten sind noch schwarze Scherenschnitte auf dunkelblauem Grund, wenn dieser allmorgendliche Weckruf einsetzt: Die buddhistischen Mönche beten summend, das Bergdorf Dharamsala erwacht. Und schon bald darauf, wenn die Sonne die Fichten grün färbt und die Bergspitzen orange, mischt sich ein erstes Hupen der Autos und Mopeds in den monotonen Gesang der Mönche.

Im Gästehaus „Pema Thang“ klingelt das Telefon: Arbeitsbeginn für Mita Lama, Tochter einer Inderin und eines Briten, Anfang 30, verheiratet, gläubige Buddhistin. Sie ist eine muntere Frau mit hübschem Gesicht und warmen Augen, die immer gern redet. Seit ein paar Jahren managt sie die Rezeption.

Mita Lama schlägt das dicke Buch mit den Reservierungen auf und fährt mit dem Finger die Kolonnen entlang. „Ausgebucht, ausgebucht, ausgebucht.“ Sie schüttelt immer wieder den Kopf, als könnte ihr Gesprächspartner sie sehen. Ein Bett in Dharamsala, ausgerechnet nächste Woche – das ist nahezu unmöglich. „Wie kann man nur glauben, dass es jetzt noch freie Zimmer gibt, ein paar Tage bevor Seine Heiligkeit, der Dalai Lama, kommt?“

Das ist der Rhythmus von Dharamsala, genauer gesagt: der von Upper Dharamsala, dem höher gelegenen Teil der Stadt. Es ist ein beschaulicher Bergort am Fuße des Himalajas im Nordwesten Indiens. Fünf Straßen und ein paar Häuser krallen sich auf 1800 Meter Höhe an den Hang. „Little Lhasa“ wird Dharamsala auch genannt – nach der tibetischen Hauptstadt Lhasa, in der 1959 der antichinesische Aufstand niedergeschlagen wurde.

Zwischen den Fichten hängen bunte Gebetsfahnengirlanden, Straßenhändler verkaufen Buddha-Bilder, und in den Regalen der Buchläden stapeln sich die Schriften des Dalai Lama. Morgens, wenn der Singsang der Mönche einsetzt, schlurfen alte Frauen mit bunten Schürzen und langen Zöpfen die Straße zum Kloster hinunter, murmeln Mantras und lassen die Perlen der Gebetsketten durch ihre Finger gleiten. Jeden Tag umrunden sie das Kloster im Uhrzeigersinn. Die sogenannte Kora gehört zu den tibetischen Alltagsritualen.

Dieser ruhige Ort, wo die Straßenhändler an den Ständen Passanten nachsehen und die Taxifahrer in ihren Autos vor sich hin dösen, schwillt immer dann auf das Zigfache seiner Größe an, wenn ein fröhlicher alter Herr mit kleinen Augen hinter dicken Brillengläsern hierherkommt: der Dalai Lama. Seit seiner Flucht aus Tibet 1959 lebt der gegenwärtige 14. Dalai Lama, der Mönch Tendzin Gyatsho, geistliches Oberhaupt der Buddhisten, hier im Exil. „Meistens ist Seine Heiligkeit auf Reisen“, sagt Mita Lama, „aber wenn er sich für eine religiöse Unterweisung in Dharamsala angekündigt hat, dreht die Stadt durch.“

Dann reisen zu Tausenden seine Anhänger an, drängen sich buddhistische Mönche, europäische Sinnsucher und tibetische Flüchtlinge aus der ganzen Welt durch die schmalen Gassen, darunter auch ein paar verwirrte Inder, die eigentlich nur den Shiva-Tempel im Nachbardorf besuchen wollten. Die Straßenhändler machen großartige Geschäfte, in den teuren Touristencafés sind alle Tische besetzt, und die Wirte in den Momo-Buden servieren die tibetischen Maultaschen im Akkord.

„Auch auf den Bänken in der Lobby übernachten dann Gäste“, sagt Mita Lama. Die gläubige Buddhistin hat die letzte Vorlesung persönlich erlebt. Morgens um sechs Uhr kam sie ins Kloster. Da warteten vor den Sicherheitsschleusen schon an die 6000 Menschen. „Wie bei einem Popkonzert.“ Sie ergatterte einen Platz, so groß wie ein DIN-A-4-Blatt, auf dem Steinboden im Innenhof. Den Dalai Lama sah sie nur auf Großbildschirmen. „Trotzdem war es toll. Er ist ein sehr kluger Mensch.“ Drei Tage währte der Ausnahmezustand. Danach war alles wie immer.

Und das ist also sein Zuhause. Prunkvoll ist das Namgyal-Kloster nicht gerade: Weiß getünchte Wände, typisch tibetische Sprossenfenster – mehr sieht man von der Straße aus nicht. Rund 200 Mönche leben hier. Sie sind es, die sich jeden Morgen vor Sonnenaufgang versammeln und buddhistische Sutren in diesem einzigartigen Gesang rezitieren, der ganz Dharamsala einhüllt.

Mittags ist es auf dem Gelände angenehm leise. Kein Hupen, keine Musik, kein Baulärm. Ein Mönch huscht über den Innenhof, ein paar Touristen ziehen ihre Schuhe vor dem Kalachakra-Tempel mit den prächtigen Wandmandalas aus, und eine Gruppe Pilger legt vor der drei Meter hohen Avalokiteswara-Statue im Tsuglagkhang-Tempel Opfergaben nieder: Äpfel, Trinkpäckchen und eine Packung Kekse gibt es für den Gott der Barmherzigkeit. Im Museum im Eingangsbereich erzählen Fotos von der Flucht des Dalai Lama und von den tibetischen Familien, die ihm folgten, von Kindern, die mit erfrorenen Fingern in indischen Auffanglagern ankamen, von abgebrannten Klöstern, zerstörten Dörfern und vertriebenen Mönchen – von mehr als 100.000 Flüchtlingen. Die Fotos erzählen vom Widerstand, von Menschen, die sich selbst verbrennen, von Menschen, die alles für ihre Heimat opfern würden.

Von Menschen wie Lukar Jam, 43, Aktivist, Ex-Häftling. Ein Mann mit wildem schwarzem Haar und ernstem Gesicht, den man nur sehr selten lächeln sieht. Fünf Jahre hat er als politischer Gefangener in chinesischer Haft verbracht. Wenn man ihn nach dieser Zeit fragt, weicht er aus. Sie hat ihm das Lächeln geraubt.

Mit Anfang 20 gelang ihm die Flucht nach Dharamsala. Er schloss sich der Organisation Gu-Chu-Sum an, die tibetischen Ex-Häftlingen mit einer Unterkunft, Essen und medizinischer Versorgung hilft. Mit politischen Texten kämpft er vom Exil aus für die Unabhängigkeit seiner Heimat. Und selbst wenn er ein freies Tibet noch erleben würde – er würde nicht zurückkehren. „Das Tibet meiner Kindheit existiert nicht mehr“, sagt er. „Ich habe die Hoffnung eigentlich schon aufgegeben, aber ich muss trotzdem weiterkämpfen, das ist wie ein innerer Zwang.“

Neue Flüchtlinge erzählen ihm vom schleichenden Tod seiner Heimat. Sie erzählen von der gezielten Ansiedlung Hunderttausender Han-Chinesen, von klaffenden Bergbaugruben in der Steppe, von zerstörten Dörfern und verbotenen Ritualen. „Der Druck der Chinesen wächst – und damit auch die Wut der Tibeter“, sagt Lukar Jam. „Wir sind bereit zum Kampf und irgendwann wird es dazu kommen.“ In Dharamsala scheint es, als sei der Widerstand gegen die chinesische Regierung ungebrochen. An jeder Mauerecke klebt der Slogan „Free Tibet“, in den Cafés gibt es Vorträge über die Geschichte des Widerstandes, und in den Souvenirshops werden Jutebeutel mit Tibet-Aufdrucken verkauft.

Die Stimmung ist angespannt in Dharamsala. Lukar Jam sagt: „Die Menschen fürchten das Ableben des Dalai Lama. Sie haben Angst vor der Phase der Unsicherheit, die dann folgen wird.“ Der Dalai Lama ist 78 Jahre alt, und er ist das Gesicht des Widerstandes. In jedem tibetischen Haushalt in Dharamsala hängt mindestens ein Bild von ihm an der Wand, umkränzt von bunten Plastikblüten und angeleuchtet von Yakbutterlämpchen. Weltweit hat der Dalai Lama Aufmerksamkeit auf die Tibet-Frage gelenkt, ist bei Regierungschefs und Staatsoberhäuptern ein und aus gegangen, hat internationale Sympathie für den Kampf der Tibeter gewonnen. Und trotzdem hat bis heute keine Regierung die chinesische Provinz als unabhängigen Staat anerkannt.

Auf halbem Weg an der Straße nach Upper Dharamsala liegen die Gebäude der Regierung, mit der niemand spricht. Ein nahezu menschenleerer Komplex, wuchtige Häuser in traditionell tibetischer Bauweise, die fast ein wenig trotzig wirken. Als wollten sie ignorieren, dass man sie ignoriert. Hier bewahren die Exil-Tibeter ihre wichtigsten Kulturgüter auf: In der „Library of Tibetan Works & Archives“ sind alte tibetische Texte, Mandalas und Artefakte ausgestellt, das Men-Tsee-Khang-Institut kümmert sich um den Erhalt der tibetischen Medizin und Astrologie, und im Norbulingka-Institut stellen Flüchtlinge traditionelles Kunsthandwerk aus: Tangkha-Malerei, Holzfiguren und bestickte Kissen. Es sind die verzweifelten Versuche eines Volkes, in der Fremde seine Kultur zu bewahren.

Seine Heimat hat er nie gesehen, gesteht Tashi Dorji, Sohn tibetischer Flüchtlinge, Vater zweiter Kinder und Ticketverkäufer. „Aber ich würde sofort für Tibet kämpfen“, sagt er. „Ein bisschen muss es so sein wie hier, haben meine Eltern immer gesagt.“ Die Adler, die Fichten, die kühle Luft des Gebirges, die dicht bewaldeten Hügel, die Bergkuppen aus braunem Steppengras und die grafitgrauen Gipfel, die sich immer dann weiß färben, wenn es im Ort mal wieder regnet und die Touristen in die Cafés flüchten.

Es sind vor allem Trekking-Touristen, die es nach Dharamsala zieht. Der Ort ist eines der Bergsport-Zentren in der Region. Unzählige Agenturen bieten Touren ins Gebirge, zwei, drei, fünf, sieben Tage, vor allem im Herbst und im Frühjahr. Dann machen milde Temperaturen und wenig Regen das Klima erträglich. Auch Tashi verkauft in seinem hausflurgroßen Büro neben Bus-, Zug- und Flugtickets diverse Ausflüge in die Umgebung. „Seit einigen Jahren kommen auch immer mehr Hindus.“ Es ist die neue indische Mittelschicht, die in altersschwachen Bussen über die schlaglochgespickten Straßen von Dharamsala rumpelt. Der Shiva-Tempel ist ein beliebtes Pilgerreiseziel im Nachbardorf Bhagsu.

Hier drängen sich indische Reisegruppen vor Imbissbuden um den Tempeleingang, es wimmelt von lärmenden Rucksacktouristen und billigen Gästehäusern, die Massagekurse, Meditationsunterricht und Trommelworkshops anbieten. Es gibt Internet-Lounges, „Chilling Zones“ und Biokaffee. Der Dalai Lama scheint hier ganz weit weg zu sein, den Singsang der buddhistischen Mönche hört man nicht mehr. Fast möchte man den Finger auf die Lippen legen, damit alle für einen Augenblick leise sind, um kurz zuzuhören. Ein beeindruckender Gesang, jahrtausendealt und einzigartig.