Wo ist das melt festival

Von "Institute for Sound and Music"

Um das einzigartige Melt!-Feeling zu verstehen, muss man einmal selbst auf dem Hügel der Big Wheel Stage gestanden haben, zu Sets von Carl Craig, DJ Koze oder Efdemin, wenn die Sonne sich langsam hoch schiebt und den Gremminer See in ein goldenes Licht taucht. Um das einzigartige Melt!-Feeling zu verstehen, muss man selbst einmal in der Zuschauermenge vor der Main Stage aufgegangen sein, wenn sich in einer Kettenreaktion individuelle Begeisterungen potenzieren und plötzlich alle um einen herum wie verrückt auf und ab springen. Legendäre Auftritte gab es en masse; von Björk über Aphex Twin bis zum Bühnensturm bei Deichkind.Um das einzigartige Melt!-Feeling zu verstehen, muss man selbst einmal am Montagmorgen auf dem Sleepless Floor getanzt haben und mit Gänsehaut die nun wirklich letzten Klänge des Wochenendes erfahren und sich erschöpft wie wehmütig gefragt haben, wo um Himmels Willen die letzten 80 Stunden geblieben sind. Dazu spielt Ellen Allien und versüßt einem den Abschied.

Stefan Lehmkuhl von Thomas VenkerInstitute for Sound and Music

Leuchtende Augen statt Business Plan

Umso lustiger ist es, dass Stefan Lehmkuhl, der von 2004 bis 2019 die Rolle des Künstlerischen Leiters und Mitveranstalters beim Melt! einnahm, das Festival selbst gar nicht besucht hatte, bevor er den Kölner Unternehmer Matthias Hörstmann dazu brachte mit dem Intro-Magazin einzusteigen und dann das Festival ganz zu übernehmen. Zu dem Zeitpunkt lag das Festival am Boden. 1997 gegründet und ‘99 in einen ehemaligen Tagebau in der sächsischen Provinz, nach Ferropolis, die Stadt aus Eisen, gezogen, fiel das Melt! 2003 aus. Es gab Probleme mit dem Wetter; und eben auch mit Sponsoren. Dabei hatte es schon damals einen guten Ruf in der langsam wachsenden deutschen Festival-Szene.Doch ganz sicher hätte jede*r Bankberater*in Lehmkuhl wohl mit einem wohlmeinenden Schulterklopfen wieder nach Hause geschickt - bei der Intro erkannte man aber das Potenzial und stieg ein. Denn dort waren leuchtende Augen stets mindestens genauso viel Wert wie ein solider Business-Plan.

Melt!-impression (2019)Institute for Sound and Music

Auf das Melt! Festival aufmerksam wurde Lehmkuhl in seiner damaligen Rolle als Termin-Redakteur beim Intro Magazin. Ihm gefiel die Mischung aus Indie-Rock und Elektronischer Musik, da sie perfekt zum offenen Magazinansatz passte, der auch das Intro auszeichnete; damals immerhin Deutschlands auflagenstärkstes Musikmagazin. Insofern überlegte auch keiner der Beteiligten zweimal als sich die Chance zum Einstieg bot – wobei aus einem “Einstieg” schnell eine Komplettübernahme wurde. Lehmkuhl und sein Team wurden 2004 ins kalte Wasser geworfen. Er erinnert sich: „Das war der schlimmste Albtraum, den ich in meinem Leben erlebt habe. Der ganze Weg zum Festival hin war sehr holprig”, man kämpfte etwa mit dem Absprung der Gründer des Festivals. “Es war dann so, dass das Intro damals das Risiko allein übernommen hat. Wir haben zwar mit dem bisherigen Melt!-Team zusammengearbeitet, aber ein gemachtes Bett war das absolut nicht. Ich musste mich deswegen mit unwahrscheinlich vielen Sachen beschäftigen, die neu für mich waren – zum Glück kannte ich andere Veranstalter und die fähigen Leute aus dem Melt! Team, die ich fragen konnte. Das war ein sehr aufregender und aufreibender Weg.“

Auch ohne vorherigen Festivalbesuch hatte Lehmkuhl ein gutes Verständnis von der bisherigen Tonalität des Festivals. Die Idee war es diesen Impuls aufzugreifen aber weiter zu denken: „Beim Melt! war ja damals das Besondere, dass es 2002 das erste Festival war, das Indie und Techno vermischte. Allerdings anders als wir dann: die hatten einen Tag Techno und einen Tag Bands – mit typischen Intro Bands wie Blumfeld, Märtini Brös und Zoot Woman. Eben so wie wir Intro als Genre-offenes Musikmagazin verstanden haben – das Magazin, in dem DJ Koze und Tocotronic gleichermaßen stattfanden - wollten wir das erste Festival veranstalten, dass die Genres konsequent vermischt.“

Gerade für ein Festival wie dem Melt!, das von seiner beeindruckenden Kulisse und der speziellen Atmosphäre lebt, ist ein solcher Wachstumsprozess nicht unheikel. Viele andere Festivals haben es nicht weggesteckt, dass plötzlich acht statt drei Bühnen auf dem Gelände platziert wurden. Einhergehend damit wurden aber auch die privaten Ecken für Schabernack aller Art weniger. Stattdessen wandelte man sich zum veritablen mittelgroßem Festival: Mit Fressmeilen und Sponsoren-Ständen, die die Erlebniswelt prägen, wo ehedem Wiesen und kleine Seebuchten zum verweilen einluden.

Dem Melt! ist dieser Weg im Großen und Ganzen gelungen. „Jedes Jahr hat sich wie der natürliche nächste Schritt angefühlt“, erinnert sich Stefan Lehmkuhl. „Es gab wenige Jahre, wo es sich so anfühlte, als ob es zu viel werden könnte. Wir haben das Gelände sanft der Nachfrage angepasst. Wir haben auch versucht, selbst das Gelände durch neue Akzente anders zu entdecken, indem wir mehr aufgemacht haben, mehr gezeigt haben. Es sollte sich nicht zu voll anfühlen, durfte aber durch Erweiterung auch nicht zu leer wirken. Man hatte da eine Aufteilung der Leute im Kopf. Es sollte sich ja nicht alles auf eine Bühne konzentrieren. Auch wenn es die Main Stage als Dorf-Treffpunkt für gewisse musikalische Highlights gab, hat es sich ja doch immer ganz gut auf die verschiedenen Bühnen verteilt.“

Melt! (2019) von Catherina RocioInstitute for Sound and Music

Kuratiert versus Wir-bringen-einen-Act-nach-dem-Anderen

Zu den besonderen Talenten eines Festival-Direktors und -Bookers gehört es, das Gespür dafür zu haben, welche Bands miteinander gut colorieren. Für die Erzählung eines Festivals ist es enorm wichtig, dass nicht zwei Bühnen total leer sind, weil sich jeder vor einer anderen tummelt. „Das ist der Unterschied zwischen einen kuratierten Lineup versus einem Wir-bringen-einen-Act-nach-dem-Anderen-Lineup“, merkt Lehmkuhl an. „Ich habe mir immer den Gang der Besucher*innen vorgestellt, wie diese sich von einer Bühne zur nächsten bewegen, in welcher Abfolge sie Musik erleben. Wie bei einer Playlist – zu welcher Uhrzeit und bei welchem Licht des Tages und bei welchem Setting will man das selber sehen. Gerade bei wachsenden Veranstaltungen ist es wichtig, dass der*die Festivalkurator*in sich auch Gedanken darüber macht, wie sich die Menschen bewegen. Das ist eine Safety-Sache. Wenn man nicht aufpasst und die Kapazitäten der Bühnen im Blick bewahrt, dann läuft man Gefahr, dass bestimmte zu voll oder auch zu leer sind und Menschen sich ungünstig begegnen. Man stellt die Leute vor zu schwere Entscheidungen.“

Um all das im Blick zu haben, musste Lehmkuhl sich vor Ort Jahr ein, Jahr aus vom Erfolg (oder Misserfolg) seiner Planungsideen vergewissern. Rückblickend spricht er davon wie „ein Wahnsinniger über das Gelände gerannt“ zu sein, „völlig rastlos von der Anreise bis zur Abreise. Ich wollte alles sehen – nicht nur die Bands, auch wie die Leute ankommen, wie sie aussehen, wann sie aufstehen, wann sie ins Bett gehen, wie sie auf die Bands reagieren.“Das besondere am Melt!, es kam in den Anfangsjahren noch ohne Datenerhebung und Zielgruppendefinition aus. Dank der emotionalen Nähe, die das Team mit den Besucher*innen verbunden hat, war der eigene Bauch das Maß aller Planungsmaxime. Das ging nur, da Publikum und Team sich gleichermaßen aus schüchternen Indie-Hipstern und hedonistischen Techno-Fans zusammensetzten.

Melt! Festival (2019) von Nicola Rehbein / Jen KrauseInstitute for Sound and Music

Wie alle anderen Festivals auch hat das Melt! seit einigen Jahren mit der starken Gagenüberhitzung auf dem Markt zu kämpfen. Die Indiebands, die neben den elektronischen Künstler*innen immer einen wichtigen Part des Festival-Lineups ausgemacht haben, Bands wie Phoenix, LCD Soundsystem oder The Rapture haben ihre Forderungen im Verlauf der vergangenen Dekade stark erhöht. „Alles wird seit 15 Jahren ohne Ausnahme immer teurer. Immer teurer werden aber vor allem mit Abstand die Artist-Kosten. Das ist der größte Kostenfaktor für jene Festivals, die über das Lineup announcen und auch Tickets über das Lineup verkaufen. Acts in den Größenordnungen, wie wir sie in den Anfangsjahren hatten, die konnte sich das Festival irgendwann nicht mehr leisten. Wenn ich mir heute angucke, was wir 2006, 2007, 2008 für die Bands bezahlt haben, dann ist das wesentlich weniger als die Hälfte dessen, was man heute bezahlen müsste.“

Da bleibt oft nur, auf die Loyalität der Künstler*innen zu hoffen – und auf die Mund zu Mund-Propaganda. „Dass das Festival einen super Ruf unter Musiker*innen genießt, ist immer die einzige Chance für uns gewesen“, kommentiert Lehmkuhl. „Die Leute wollen da spielen, sie freuen sich auf die Konstellation der Künstler*innen vor Ort. Viele Bands spielen so unendlich viele Festivals im Sommer, das Melt! ist eines, wo ein bisschen vom Vibe hängen bleibt.“

Doch auch das habe sich verändert, berichtet Lehmkuhl. „Die erfolgreichen Bands und DJs erleben die Festivals heute auch anders, da sie so so viele Shows wie möglich an einem Wochenende spielen wollen, um soviel Umsatz wie möglich zu generieren. Da bleibt das Erlebnis einen Extra-Tag zu bleiben oder eine Nacht mitzufeiern und im Backstage Leute zu treffen auf der Strecke. Die Festivalbranche ist so groß geworden, ein Riesen-Business. Von daher hat die Loyalität oft ihre Grenzen. Aber wir sind dankbar dafür, dass wir in der Welt der Agenturen und ihrer Musiker*innen zumindest immer noch in Erwägung gezogen werden, wenn wir mit unseren verhältnismäßig schlechten Angeboten im europäischen und weltweiten Vergleich um die Ecke kommen.“

Melt! knows no borders (2019) von Nicola Rehbein / Jen KrauseInstitute for Sound and Music

Nach 15 Jahren, in denen er hauptverantwortlich in der ersten Reihe des Melt! Festivals stand, hat sich Stefan Lehmkuhl zuletzt neu positioniert innerhalb der Goodlive GmbH, die mittlerweile das Melt! neben anderen Festivals wie Lollapalooza und Splash! verantwortet. „Es war mir immer wichtig, Leute im Booking-Team zu haben, die am Zeitgeist nah dran sind“, führt Lehmkuhl aus. „Weil mir schon mit 35 aufgefallen ist, dass ich nicht für immer und ewig komplett in allen Genres am Puls der Zeit sein kann. Früher habe ich wirklich vieles gebucht, was ich vorher selbst gesehen habe im Club und auf Partys. Ich war sehr viel unterwegs. Mit dem Älterwerden habe ich reagiert und Leute dazu geholt, die beispielsweise das Techno-Lineup gebucht oder mich im HipHop beraten haben. Ich habe nie für mich beansprucht, dass ich das Lineup komplett alleine entwickle oder die Acts gar alleine entdeckt habe. Und trotzdem habe ich lange auch schon gesagt, dass ich irgendwann die inhaltliche Verantwortung abgeben werde.“

Auch wenn er sich mit 40 noch immer „nah dran am Zeitgeist“ fühlt, beschloss Lehmkuhl im April 2019 den Stab weiterzureichen – und zwar an eine Doppelspitze aus Art Direktion und Künstlerischer Leitung, besetzt von Nina Nagele und Florian Czok. Lehmkuhl beschreibt seine neue Rolle in dieser Konstellation als „Mentor, Sponsor oder Sparringspartner“.Sowohl Nina Nagele als auch Florian Czok kennen das Melt! schon seit einigen Jahren, als Besucher*innen und als Teil des Melt! Teams. Allein in den drei Jahren seit dem sie dabei sei, führt Nina Nagele aus, habe sie mit dem wohl besten Team schon „so viele emotionale, aufreibende, schöne und mitreißende Momente erlebt, dass ich gar nicht genau sagen kann, was mein schönster Melt!-Moment war.“Fürs Protokoll: es waren der „Voguing Ball auf der 30kv Stage im letzten Jahr, beziehungsweise die Stormzy-Show kurz nach dem gewaltigen Sturm.“

Florian Czok, der ebenfalls 2016 zum Team dazugestoßen ist, ergänzt: „Mein erstes Melt habe ich 2008 noch als 19 Jähriger Besucher erlebt und war schon damals von der Vielfältigkeit des Programms, den Menschen und der Location beeindruckt. Niemals hätte ich gedacht, dass ich einmal selbst dafür verantwortlich sein würde und bin besonders Stefan wirklich unfassbar dankbar für sein Vertrauen in mich.Seitdem gab es schon so viele unzählbare tolle Melt! Momente für mich, ganz besonders in den Morgenstunden / beim Sonnenaufgang am Sleepless Floor, dem Big Wheel, im Forest oder der Gremmin Beach. Eins meiner persönlichen Highlights war auf jeden Fall das Set von The Black Madonna (nun The Blessed Madonna) im Jahr 2019 und einer phänomenalen Dance Crew, die sich hinter dem DJ Pult in Ekstase getanzt hat. Ich habe selten so eine Energie vor und hinter dem DJ Pult bei einer Festivalshow erlebt.“

Für ihr offizielles Debüt in der neuen Doppelfunktion im kommenden Jahr – zugleich das erste Melt! am neuen Termin am ersten Juni Wochenende – haben Czok und Nagele sich vorgenommen das Festival „neu zu präsentieren ohne dabei den ursprünglichen Charakter zu verlieren“. So wird das Thema Diversität bei der Zusammenstellung des Programms 2021 noch gewichtiger als zuletzt. Es gelte, so die beiden, „das zeitgenössischste und dennoch zugänglichste musikalische Festivalprogramm des Landes anzubieten.“ Konkret soll das eine Mischung aus großen Namen und spitzen Bookings bedeuten – letzteres ermöglicht durch noch mehr Bühnen. Sie betonen, die einzigartige Nische, die das Melt! besetzt, in dem es Mainstream und Avantgarde nicht als Widerspruch sondern als verbindbare Positionen versteht. Das zeigt sich auch an den Worten, die die beiden benutzen, um ihr Melt! greifbar zu machen: „Hedonismus, Lifestyle und Fashion“, aber eben auch „soziale Verantwortung, Plattform für noch immer zu wenig gehörte Stimme, ausgeglichenes Gender-Verhältnis und inklusiver Safe-Space.“ Ihr passender Slogan: „Melt! knows no borders.“

Quelle: Alle Medien

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