Wie viel Prozent der Grimmschen Märchen beginnen mit Es war einmal?

14. Dezember 2012 um 14:20 Uhr

Die Geschichtensammlung der Brüder Grimm ist weltberühmt. Vor 200 Jahren erschien der erste Band ihrer „Kinder- und Hausmärchen“. Eine Spurensuche zum Jubiläum.

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Düsseldorf. „Es war einmal . . .“: Wohl jedes Kind freut sich auf die Geschichte, die diesem verheißungsvollen Beginn folgt. Ob Rotkäppchen, Schneewittchen, Aschenputtel, Hänsel und Gretel oder Die Bremer Stadtmusikanten: Die Märchen der Brüder Grimm sind weltbekannt.

Jetzt feiern sie ein stolzes Jubiläum: Am 20. Dezember 1812 erschien die Erstausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“. Die Geschichten wurden inzwischen in mehr als 160 Sprachen übersetzt. Seit 2005 gehört die Erstausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“, die im Brüder-Grimm-Museum in Kassel liegt, zum Weltdokumentenerbe.

Wie kam es dazu? „Märchen sind nichts anderes als alte Geschichten der Menschheit. Jacob und Wilhelm Grimm haben versucht, alles zu sammeln, was auf das germanische Altertum verweist. Und so reichen diese Erzählungen mitunter bis zu den Anfängen unserer Zeitrechnung zurück“, sagt Holger Ehrhardt, Professor an der Universität Kassel. „Beispielsweise finden sich in den Märchen der Brüder Grimm auch Motive altindischer Fabeln aus dem ersten Jahrhundert.“

Die meisten Geschichten haben einen tieferen Sinn. „Menschen haben ihren Kindern wohl schon immer Märchen oder Mythen aus pädagogischen Gründen erzählt“, berichtet Grimm-Forscher Ehrhardt. Für Kinder seien es lehrreiche Geschichten gewesen. „Und oft steckte darin auch eine Erklärung für Erwachsene, zum Beispiel für Naturphänomene wie den Donner. Den musste ja jemand gemacht haben.“

1806 fingen Jacob und Wilhelm Grimm an, Märchen zu sammeln. Allerdings zogen die Brüder dafür keineswegs durchs Land. Die Grimms ließen sich von Menschen aus ihrem Bekanntenkreis Märchen erzählen und schrieben sie auf. Zunächst waren es die Familien Wild und Hassenpflug aus Kassel, für den zweiten Band kamen Erzählungen der Schneidersgattin Dorothea Viehmann hinzu.

Über sie hat Holger Ehrhardt gerade ein Buch veröffentlicht. „Die Grimms haben diese Erzählungen dann verändert, und daraus sind die Grimm’schen Märchen geworden, die rund um den Globus bekannt sind“, sagt der Forscher.

Zunächst jedoch blieb der Erfolg aus. Detailreich beschriebene Grausamkeiten und wissenschaftliche Anmerkungen der Brüder waren nicht gerade förderlich.

Während Jacob seinen Schwerpunkt auf die Sprach-, Politik- und Religionswissenschaften verlagerte, arbeitete Wilhelm die Märchen um und verpasste ihnen den bekannten romantischen Stil. „Das war seine bedeutendste Leistung“, sagt der Leiter des Grimm-Museums in Kassel, Bernhard Lauer.

„Böse Mütter wurden zu bösen Stiefmüttern, nackte Prinzen prächtig gekleidet, und Rapunzels Schwangerschaft blieb für die böse Zauberin wie für den geneigten Leser unentdeckt“, heißt es auf der Internetseite zum Jubiläum, www.grimm2013.de. Das sieht etwa der Schauspieler Ilja Richter (60), gefragt nach Grimms Märchen, durchaus kritisch. Alles, was eine gewisse Zweideutigkeit offenbare, hätten die Brüder entschärft. „Ich nenne nur Rotkäppchen und den bösen Wolf.“ Das sei eine sehr erotische Geschichte. Oder: Der Wolf und die sieben Geißlein. „Eigentlich geht es unentwegt ums Vernaschen“, betont Richter.

Ehrhardt erzählt, der Erfolg der Märchen bei Kindern sei unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Brüder den Geschichten später Bilder hinzufügten.

Über das gesamte Jahr 2013 wird der Märchen-Geburtstag gefeiert. Denn nicht nur die „Kinder- und Hausmärchen“ bieten einen Anlass. Es jähren sich auch die Todestage von Jacob (20. September) und „Malerbruder“ Ludwig Emil Grimm (4. April) zum 150. Mal.

Doch nicht nur Geschichten gehören zu den Hinterlassenschaften der Grimms. Dass sie auch bedeutende Sprachforscher waren, sei vielen nicht bekannt, sagt Ehrhardt. „Im Vergleich zu Goethe und Schiller haben die Grimms wenig Aufmerksamkeit“, stellt er heraus. Dabei gebühre ihnen auch als Wissenschaftlern Anerkennung. Sie begründeten die Germanistik mit und schrieben das Deutsche Wörterbuch — wenn sie auch nur bis zum Wort „Frucht“ kamen.

Verbunden bleiben aber wird der Name Grimm vor allem mit den Märchen. Knapp die Hälfte der Geschichten beginnt übrigens mit „Es war einmal . . .“.

„Und wenn sie nicht gestorben sind“, dann werden sie auch noch lange Kinderaugen zum Leuchten und Wangen vor Spannung zum Erröten bringen.

  1. Die Gebrüder Grimm, das sind Jacob Ludwig Karl Grimm (1785-1863) und Wilhelm Carl Grimm (1786-1859), die Ältesten von neun Geschwistern einer Amtsmannsfamilie aus Hessen. Die Bezeichnung "Gebrüder Grimm" ("Brüder Grimm") haben Jacob und Wilhelm selbst gewählt, um so einen "Wiedererkennungsfaktor" für ihre Leser zu schaffen.

  2. Heute sind die Brüder Grimm nicht nur als Herausgeber der wohl bekanntesten Märchensammlung der Welt bekannt, sondern auch als Sprachwissenschaftler und "Gründungsväter der deutschen Philologie bzw. Germanistik" (Wikipedia).

  3. Gesammelt haben die Brüder Grimm ihre Märchen im eigenen bürgerlichen (hessischen) Umfeld. Beigetragen zur Märchensammlung haben u.a. Menschen wie die Bäuerin Dorothea Viehmann, aber auch bekannte literarische Persönlichkeiten wie die Dichterin Annette von Droste Hülshoff und deren Schwester.

  4. Einige der Grimmschen Märchen haben die Brüder Jacob und Wilhelm vermutlich selbst verfasst.

  5. Die Brüder Grimm interessierten sich für die deutsche Geschichte und die Ursprünge der deutschen Literatur: Mit ihrer Märchensammlung wollten sie dazu beitragen, deutsches Volksgut zu bewahren. Auch deutsche Sagen haben die beiden Brüder gesammelt und veröffentlicht - jedoch längst nicht so erfolgreich.

  6. Als "hessische Märchen" bezeichneten die Gebrüder Grimm ihre Geschichten: Dabei stammt eine ihrer wichtigsten Quellen, Dorothea Viehmann, aus einer Gastwirtsfamilie mit hugenottischen Wurzeln. Auch Märchen des französischen Märchendichters Charles Perrault haben die Grimms in ihre Sammlung übernommen.

  7. Gibt es etwas "typisches Deutsches" an den Grimmschen Märchen? - Märchen sind weder an eine Zeit noch an einen Ort gebunden (siehe Definition). "Typisch deutsch", so die Forscher und Experten, sei höchstens ein Schauplatz, der häufig in den Geschichten eine Rolle spielt: Der Wald.

  8. Die "Kinder- und Hausmärchen" der Gebrüder Grimm umfassen 210 Geschichten - heute sind sie meist unter dem Namen "Grimms Märchen" oder "Grimmsche Märchen" bekannt.

  9. Zuerst dienten die Märchen der Brüder Grimm nicht als Kinderlektüre, sondern als eher derbe Unterhaltung für die unteren Volksschichten. Erst für spätere Auflagen wurden brisante Passagen (meist mit erotischem Unterton) verharmlost, allzu grausame Schilderungen gestrichen, christliche Moralvorstellungen in die Geschichten eingewebt.

  10. Die nächste Ausgabe der "Kinder- und Hausmärchen" 1815 wurde von den Grimms ganz bewusst als "Erziehungsbuch" deklariert.

  11. Durch seine Bearbeitung der mündlich überlieferten Geschichten hat vor allem Wilhelm Grimm eine neue Märchengattung geschaffen: Die "Gattung Grimm" oder das Buchmärchen: Eine Mischung aus (mündlich überliefertem) Volksmärchen und dem sogenannten Kunstmärchen, bei dem es sich um "die Schöpfung eines Dichters oder Schriftstellers" handelt. 

  12. Inzwischen wurden die Grimmschen Märchen in mehr als 160 Sprachen übersetzt und die Original-Manuskripte der Gebrüder Grimm zum Weltdokumentenerbe der UNESCO erklärt: Dazu gehören "wertvolle Buchbestände (...) die das kollektive Gedächtnis der Menschen in den verschiedenen Ländern unserer Erde repräsentieren."

  13. Zum Verkaufsschlager und Weltbestseller wurden die Grimmschen Märchen erst nach dem Tod der beiden Herausgeber: Jacob und Wilhelm Grimm erlebten den großen Erfolg ihrer Märchensammlung nicht mehr.

  14. Viele der Märchenfassungen, die wir heute kennen, haben mit den Originaltexten aus der Grimmschen Märchensammlung kaum noch etwas gemeinsam.

  15. Nur etwa 40 Prozent aller Grimmschen Märchen beginnen mit der bekannten Eröffnung: "Es war einmal..."