Warum gibt es in indien so viele vergewaltigungen

Sie greifen sich die Säuglinge ihrer Nachbarn und vergewaltigen sie, bis sie tot sind; sie entführen Schülerinnen und halten sie monatelang als Sexsklavinnen gefangen; sie überfallen Frauen, die vom Feld heimkehren, vergewaltigen sie und hängen ihre aufgeschlitzten Körper an Bäumen auf; sie zerren Großmütter aus ihren Hütten, vergewaltigen sie und zerschmettern dann ihr Gesicht, damit sie niemand mehr erkennt.

Jeden Tag sind die Zeitungen in Indien voll mit solchen Berichten. „Warum machen sie das, Mama?“, fragt die achtjährige Tochter einer Freundin, als sie das liest. „Was soll ich ihr antworten?“, fragt die Mutter verzweifelt. „Was soll ich ihr sagen, wenn sie mich fragt, was Vergewaltigung bedeutet? Soll ich ihr sagen, dass die Angst vor männlicher Gewalt, die Angst, vergewaltigt zu werden, uns Frauen hier unser ganzes Leben lang begleitet? Dass es unmöglich ist, ihr zu entkommen?“

Fast auf den Tag genau sind jetzt sieben Jahre vergangen seit der entsetzlichen Gruppen-Vergewaltigung der 23-jährigen Studentin Jyoti Singh in einem fahrenden Bus in Delhi. Diese monströse Tat hat damals nicht nur ganz Indien, sondern die halbe Welt aufgeschreckt. Aber als wäre nichts geschehen, geht es seitdem munter weiter mit dem Vergewaltigen, der rohen Gewalt gegen Frauen, dem täglichen Missbrauch, den ständigen Belästigungen, den Säureanschlägen und Ehrenmorden. So als hätte sich Indien damit abgefunden.

Millionen gehen gegen die Gewalt auf die Straße

Umso erstaunlicher ist es, dass plötzlich zwei Gewalttaten die Nation in Aufruhr versetzten. Millionen und Abermillionen Frauen, aber auch viele Männer, demonstrieren in diesen Tagen überall im Land und schreien ihre Wut heraus: „Genug ist genug!“ - „Stoppt das Vergewaltigen!“ - „Hängt die Mörder, kastriert sie, lyncht sie!“

Der Mord an einer jungen Tierärztin in Hyderabad, die von einer belebten Straße weg in ein Gebüsch verschleppt wurde, wo sie vier Männer vergewaltigten, erdrosselten und verbrannten, scheint das Fass zum Überlaufen gebracht zu haben. Einer der Männer, so wird berichtet, habe danach stolz seiner Mutter von seiner Tat berichtet. Die aber ging nicht etwa zur Polizei, sondern schickte ihren Jungen ins Bett. So, als wäre nichts geschehen.

So als ginge sie das nichts an, verhielt sich auch fast zur gleichen Zeit die Polizei im Norden, als sie frühmorgens den verzweifelten Anruf einer jungen Frau erhielt, die von fünf Männern bedroht wurde. Da Hilfe ausblieb, hatten die Männer Zeit genug, die Frau mit Benzin zu übergießen und anzuzünden. Warum? Die junge Frau war auf dem Weg zum Gericht, um als Zeugin in ihrem Vergewaltigungsprozess auszusagen. Einer ihrer Mörder war der Vergewaltiger, das konnte sie noch aussagen, ehe sie starb.

Mit Rosenblättern werden sie überschüttet, als Helden werden sie gefeiert, die Polizisten, die in einem Akt angeblicher Selbstverteidigung die vier festgenommenen Vergewaltiger von Hyderabad einfach erschossen. Selbstjustiz findet fast immer Beifall in einem Land, in dem die Justiz am Zusammenbrechen ist und die Frustration des Volkes wegen der Langsamkeit der Gerichte und der Unfähigkeit des Staates, Recht und Ordnung durchzusetzen, steigt.

Jede Minute wird in Indien eine Frau vergewaltigt

Im August 2019 lagen 160.989 unerledigte Fälle sexueller Vergehen allein gegen Kinder bei den Gerichten, bei jungen Mädchen und Frauen dürfte es ein Vielfaches sein. Denn in Indien wird laut Statistik alle 15 Minuten eine Frau vergewaltigt. Tatsächlich wird es wohl jede Minute sein, denn 95 Prozent aller Fälle werden nicht angezeigt. Nur ein Bruchteil der Täter wird verurteilt, weil sich die eingeschüchterten Opfer plötzlich nicht mehr erinnern können, sich die Verfahren über allzu viele Jahre hinziehen, oder es an Beweismitteln fehlt. Es gibt nur drei forensische Labore in ganz Indien, kein einziges in Delhi, wo man DNA-Analysen oder andere Untersuchungen durchführen könnte.

Indien ist nach einer Untersuchung der „Thomson Reuters Stiftung“ das gefährlichste Land für Frauen, noch vor Afghanistan und Pakistan. Seit Beginn der Aufzeichnungen 1971 ist die Zahl der bekannt gewordenen Sexualstraftaten um 1.200 Prozent gestiegen. Gruppenvergewaltigungen sind zu einem einträglichen Geschäft geworden. Je brutaler, desto besser verkaufen sich die davon aufgenommenen Videos.

Nach der bestialischen Gruppenvergewaltigung von Jyoti Singh, die in Indien Nirbhaya – die Furchtlose - genannt wird, wurden ein ganzes Bündel Maßnahmen und Gesetze beschlossen und ein milliardenschwerer Fonds aufgelegt für Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit von Frauen.

Doch was ist daraus geworden? Gewiss, nun können Täter, die Kinder nach einer Vergewaltigung ermorden, zum Tode verurteilt werden. Aber wo sind die mehr als tausend Schnellgerichte, die tätig werden sollten? „Wir sind dabei, sie einzurichten“, heißt es. Wo sind die zusätzlichen 66.000, vor allem weiblichen Polizisten für Delhi? „Liegt auf Wiedervorlage.“ Wo gibt es Rehabilitation und Entschädigung für überlebende Opfer? „Ist noch nicht umgesetzt.“ Wo sind Überwachungskameras, Nottelefone, bessere Straßenbeleuchtung? „Ist nicht bekannt“, so die offiziellen Antworten.

Indien muss begreifen: Frauen
sind auch Menschen!

„Ein Mädchen ist für eine Vergewaltigung mehr verantwortlich als derjenige, der sie vergewaltigt, denn ein anständiges Mädchen treibt sich nicht um neun Uhr abends auf der Straße herum“, sagte einer der Vergewaltiger von Jyoti Singh. Er wartet mit seinen zum Tode verurteilten Kumpanen seit sieben Jahren auf den Galgen. Es ist diese Mentalität, die Frauen in Indien zu einem Ding degradiert, mit dem Männer machen können, was sie wollen.

Politik und Justiz nehmen das als gegeben hin, denn auch dort wird in den jahrtausendealten patriarchalischen Strukturen gedacht. Und die Frauen? „Wir müssen dafür kämpfen, dass unsere Politiker, die nur daran denken, Indien zu einer Weltwirtschaftsmacht zu machen, ihre Prioritäten ändern. Indien muss begreifen, dass Frauen auch Menschen sind, gleichberechtigte Menschen“, sagt die Vorsitzende der Frauenkommission von Delhi. Es klingt entschlossen, aber auch ein bisschen verzagt.

Gabriele Venzky

Die Autorin war 20 Jahre lang Asien-Korrespondentin der ZEIT. Sie hat im September 2009 "LIFT e.V - Zukunft für indische Mädchen" mitgegründet, ein Verein, der „Anugraha", ein Mädchenheim im indischen Südstaat Karnatataka unterstützt. Venzky besucht das Heim regelmäßig. Spenden sind mehr als willkommen: LIFT e.V., KTO 1009 300 003, Hamburger Sparkasse, BLZ 200 505 50.

Die vielen Vergewaltigungen in Indien werden so schnell nicht aufhören. Sie sind Ausdruck eines massiven gesellschaftlichen Umbruchs.

Warum gibt es in indien so viele vergewaltigungen

Frauen, Mädchen und ein paar Männer protestieren gegen die weit verbreitete Gewalt gegen Frauen Foto: dpa

Indien, das „Land der Gegensätze“ ist ein altes, aber hartnäckiges Klischee. Derzeit werfen Nachrichten über zahlreiche brutale Vergewaltigungen und Morde an jungen Frauen und Kindern in Indien die Frage auf: Was ist los in diesem Land, das über eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften und eine der größten IT-Industrien der Welt verfügt? Das schon eine Premierministerin hatte, als Angela Merkel noch ein Schulkind war, und in dem Shakti, die weibliche Form des Göttlichen, ebenso verehrt wird wie der männliche Gott Shiva?

Seit im April ein 8-jähriges Mädchen aus dem Krisenstaat Jammu und Kaschmir entführt und von mehreren Männern tagelang in einem Tempel vergewaltigt und ermordet wurde, reißen die Nachrichten über Vergewaltigungen in Indien nicht mehr ab. Eine 17-Jährige wirft einem Mitglied des Landesparlaments und der regierenden Bharatiya Janata Partei (BJP) im Bundesstaat Uttar Pradesh vor, sie vergewaltigt zu haben. Als die Polizei untätig bleibt, versuchen sie und ihr Vater, sich vor der Residenz des Ministerpräsidenten anzuzünden. Ihr Vater starb kurz danach. Die Untersuchung legt nahe, dass er in Polizeigewahrsam geschlagen wurde.

Am vergangenen Freitag wurde im Bundesstaat Jharkhand eine junge Frau (17) vergewaltigt und bei lebendigem Leibe verbrannt. Eine Woche zuvor war ein 16-jähriges Mädchen im demselben Bundesstaat vergewaltigt worden. Die Täter wurden von der lokalen Dorfverwaltung zu 100 Rumpfbeugen („Sit-ups“) und umgerechnet 620 Euro Strafe verurteilt und zündeten aus Rache das Haus des Opfers an. Das Mädchen starb an ihren Verbrennungen. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Nach Massenprotesten in der Hauptstadt Delhi sah sich Premierminister Narendra Modi gezwungen, das Wort zu ergreifen. Er versprach „Gerechtigkeit für die Töchter Indiens“. Doch das ist leicht gesagt. Zwar mag die Einführung der Todesstrafe für Vergewaltiger von Kindern und eine schnellere Bearbeitung solcher Fälle durch die überlastete indische Justiz dem Ruf nach Gerechtigkeit genügen.

Schlachtfeld der Modernisierung

Doch am Grundproblem wird es wenig ändern: Der weibliche Körper ist in Indien zum Schlachtfeld der Modernisierung geworden. Vergewaltigungen werden in den kommenden Jahren wohl eher noch zunehmen. Und das liegt nicht nur daran, dass die Öffentlichkeit stärker sensibilisiert ist und Frauen sich eher trauen, zur Polizei zu gehen.

Patriarchale Wertvorstellungen und moderne Medizin haben dazu beigetragen, dass Indien zu den Ländern mit dem größten Männerüberschuss weltweit gehört. Nach Angaben der offiziellen Statistik fehlen in Indien rund 63 Millionen Frauen. Obwohl es seit 2013 verboten ist, per Ultraschall das Geschlecht eines Embryos zu bestimmen, werden heute sogar mehr Mädchen abgetrieben als früher – nicht zuletzt, weil die Familien auch in Indien kleiner werden. Es gibt genügend Ärzte, die gegen Honorar sicherstellen, dass ein Stammhalter geboren wird.

Seit 2013 ist es verboten, das Geschlecht eines Embryos zu bestimmen – doch noch immer werden Mädchen abgetrieben

Auf 1.000 Jungen kommen heute in Indien nur noch 918 Mädchen. In Indien ist die Hälfte der Bevölkerung, also mehr als 600 Millionen Menschen, jünger als 25 Jahre. Sehr viele junge Männer haben also schlechte Aussichten auf eine Heirat und noch schlechtere auf außereheliche Sexualbeziehungen, die nach wie vor tabuisiert sind.

Zugleich hat die ökonomische Entwicklung vor allem in den Städten auch jungen Frauen ein bisher nicht gekanntes Maß an Freiheit eröffnet. Als Mitarbeiterinnen in IT-Firmen oder Callcentern lassen sie oft die Enge des Elternhauses hinter sich, teilen sich Zimmer mit Kolleginnen, tragen Jeans, gehen abends auf ein Bier in die Kneipe. Vor 20 Jahren war das undenkbar und gilt bis heute in weiten Teilen der Bevölkerung als unschicklich.

Vergewaltigungen in der Familie

Als Rollenmodell gilt noch immer Sita, die Heldin aus dem Nationalepos „Ramayana“: In Abwesenheit ihres Mannes Rama zieht dessen Bruder Lakshmana eine Linie (Sanskrit: rekha) um das gemeinsame Haus und empfiehlt Sita, diese nicht zu überschreiten, sonst drohe Gefahr. Als Sita eines Tages die Linie unwissentlich doch übertritt, wird sie prompt von dem Dämonenkönig Ravana entführt. Bis heute wird der Ausdruck „Überschreiten der Lakshmana rekha“ verwendet, um Frauen zu kritisieren, die sich zu viele Freiheiten nehmen und deshalb selbst Schuld seien, wenn ihnen ein Unglück zustößt.

So auch 2012, als eine Massenvergewaltigung, die als Nirbaya-Fall bekannt wurde, Delhi erschütterte. Der Mord an einer 23-jährigen Physiotherapeutin, die von einer Bande von Männern in einem Bus brutal vergewaltigt wurde, löste Massenproteste aus. Dass Frauen, die sich gegen überkommene Rollenvorstellungen hinwegsetzen, als Freiwild betrachtet werden, ist ein weltweit bekanntes Phänomen. Da die meisten Vergewaltigungen in der Familie stattfinden, dürften auch die Nachrichten aus Indien nur die Spitze des Eisbergs zeigen.

Ein weiteres Problem ist das dysfunktionale Justizsystem Indiens. Die Gerichte sind chronisch überlastet. Nach Recherchen der Kinderstiftung Bachpan Bachao Andolan warten an indischen Gerichten rund 110.000 Verfahren wegen Kindesmissbrauchs auf Bearbeitung. Es würde mindestens 20 Jahre dauern, diese beim jetzigen Tempo der Justiz zu bearbeiten, selbst wenn keine neuen Fälle hinzu kämen.

Viele Familien akzeptieren ein Schweigegeld

Unterbezahlte, korrupte Polizisten sind leicht davon zu überzeugen, Ermittlungen einzustellen. Nicht selten akzeptieren auch Familien ein Schweigegeld, weil die Vergewaltigung der Tochter als Schande betrachtet wird.

Weil gesellschaftliche Werte und Normen sich nur langsam ändern, ist die einzige Lösung eine konsequente Anwendung bestehender Gesetze und die dazu notwendige bessere Ausstattung von Polizei und Justiz. Einige Reformen wurden nach dem Nirbaya-Fall 2012 eingeleitet, aber wie sich jetzt zeigt, reichen diese bei Weitem nicht aus.