Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 1 Uchtspringer Schriften zur Psychiatrie/Neurologie, Schlafmedizin, Psychologie und Psychoanalyse Herausgegeben von Christfried Tögel und Volkmar Lischka unter Mitwirkung von Ferenc Erös (Budapest), Jörg Frommer (Magdeburg), Michael Molnar (London), Carl Nedelmann (Hamburg), Michael Schröter (Berlin) Bd. 4
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Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 3 Uchtspringer Schriften zur Psychiatrie, Neurologie, Schlafmedizin, Psychologie und Psychoanalyse Hg. von Christfried Tögel und Volkmar Lischka Bd. 4 »... Wünschen ist wohlfeil ...« Zum 150. Geburtstag von Sigmund Freud Herausgegeben von Christfried Tögel Uchtspringe Sigmund-Freud-Zentrum 2006
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 4 Adresse: Sigmund-Freud-Zentrum des SALUS-Instituts Halberstädter Str. 40a 39112 Magdeburg Tel.: 03931 6075317 Fax: 0391 6075333 www.salus-institut.de/sfz.php Computer-Satz und Druck: Druckerei des Fachkrankenhaus Uchtspringe, SALUS gGmbH © 2006 Sigmund-Freud-Zentrum, Fachkrankenhaus Uchtspringe ISSN 1611-0730 Gedruckt mit Unterstützung des Fördervereins Psychiatrie in Geschichte und Gegenwart e.V.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 5 Inhalt Christfried Tögel Vorwort 7 I Würdigungen Freuds aus Anlaß seiner Geburtstage Der 70. Geburtstag Bericht über die Feier von Freuds 70. Geburtstag am 6. Mai 1926 im Berliner Hotel »Esplanade« 11 Alfred Döblin Zum siebzigsten Geburtstag Sigmund Freuds 15 Lou Andreas-Salomé Zum 6. Mai 1926 23 Eugen Bleuler Zum siebzigsten Geburtstag Sigmund Freuds 27 Hanns Sachs Zum 70. Geburtstage Sigm. Freuds 33 Sandor Ferenczi Zum 70. Geburtstage Sigm. Freuds. Eine Begrüßung 35 Der 75. Geburtstag Sigmund Freuds 75. Geburtstag in der Presse 43 Stefan Zweig Bildnis Sigmund Freuds 57 Theodore Dreiser Bemerkungen am 6. Mai 61
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 6 Thomas Mann Ritter zwischen Tod und Teufel (Ein Brief von Thomas Mann an die Redaktion der »Vossischen Zeitung« am 6. Mai 1931) 63 Kurt Tucholsky Elf Bände, die die Welt erschütterten 65 Der 80. Geburtstag Glückwunschadresse zum 80. Geburtstag Sigmund Freuds 69 Thomas Mann Freud und die Zukunft 77 Robert Wälder Die Bedeutung des Werkes Sigm. Freuds für die Sozial- und Rechts- wissenschaften Zu Sigm. Freuds 80. Geburtstag, 6. Mai 1936 95 Heinrich Meng Die Stellung der Wissenschaft zu Freuds 80. Geburtstag 115 II Zum Gedenken an Harro Wendt Volkmar Lischka Abschied in Respekt vor einem großen Lebenswerk 119 III Diskussion Michael Schröter Alexander Etkind über Max Eitingon: Ein kurzer Protest 127 IV Hinweise für Autoren 129
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 7 Vorwort Zum 60. Geburtstag von Thomas Mann schrieb Sigmund Freud in seinem Gratulationsbrief: ... »Wünschen ist wohlfeil und erscheint mir als Rückfall in die Zeiten, da man an die magische Allmacht der Gedanken glaub- te. Auch meine ich aus eigenster Erfahrung, es ist gut, wenn ein mitleidiges Schicksal unsere Lebensdauer rechtzeitig begrenzt!« Freud selbst wurde 83 Jahre alt und erhielt besonders in seinen letz- ten Lebensjahren mehr Wünsche und Ehrungen, als ihm lieb war. Nach der Festrede zu seinem 70. Geburtstag im jüdischen Humanitätsverein B’nai B’rith in Wien sagte er: » ... wenn mich jemand beschimpft, kann ich mich verteidi- gen; wenn mich aber jemand lobt, bin ich wehrlos.« Am 6. Mai 2006 jährt sich nun der Geburtstag Freuds zum 150. Male. Schon zu seinem Lebzeiten waren die Jubiläen immer Anlaß für Familie, Freunde und Schüler, ihm etwas Besonderes zu schenken. So bekam er zum 35. Ge- burtstag von seinem Vater Jakob eine Bibel mit einer sehr persönlichen he- bräischen Widmung. Zum 50. Geburtstag schenkten ihm seine Schüler eine eigens angefertigte Medaille mit seinem Bildnis. Die Rückseite trägt einen Vers aus dem Schlußchor des König Ödipus von Sophokles »Der das be- rühmte Rätsel löste und ein gar mächtiger Mann war.« Und zum 65. erhielt Freud eine Büste, die von da ab »als gespenstisch drohender Doppelgän- ger« in seiner Wohnung stand. Doch erst seit dem 70. Geburtstag im Jahre 1926 nahm auch die Öf- fentlichkeit – und nicht nur in Österreich – an Jubiläen anteil: Es wurden Feiern und Festveranstaltungen organisiert, die Presse veröffentlichte Wür- digungen, Glückwunschadressen wurden initiiert, und sogar Radiostationen brachten Sendungen über den Begründer der Psychoanalyse. Im vorliegenden Band werden einige Dokumente neu abgedruckt, die zwischen 1926 und 1936 aus Anlaß von Geburtstagsjubiläen Freuds ver- streut veröffentlicht worden waren. Sie vermitteln einen Eindruck von der Einstellung vieler Intellektueller, die – wenn auch nicht immer überzeugte Anhänger der Psychoanalyse – würdigen, daß Freud Fragen gestellt hat, an denen niemand vorbeikommt. Christfried Tögel März 2006
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Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 9 Der 70. Geburtstag
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 10 Freud 1926 Radierung von Ferdinand Schmutzer
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 11 Bericht über die Feier von Freuds 70. Geburtstag am 6. Mai 1926 im Berliner Hotel »Esplanade« Am 6. Mai fand im Esplanade-Hotel in Berlin eine Feier der »Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft« unter dem Vorsitz von Dr. Ernst Simmel statt. Der Vorsitzende würdigte das Lebenswerk Freuds und wies besonders darauf hin, daß die heute und sicher noch lange fließende Quelle von Freuds Schaffenskraft in jenem Übermaß von Liebesfähigkeit liegt, das der leiden- den Menschheit von ihm aus zuströmt. »Es fällt uns, die wir uns heute mit Stolz seine engeren Schüler, seine Schule nennen, heute, wo Freud schon anerkannt ist, ebenso wie zu jener Zeit, als er noch verkannt und verlästert war, schwer, nicht hinauszutreten vor die Öffentlichkeit und aus den vielen Erfahrungen zu berichten, die wir in der strengsten Anwendung seiner Me- thode gewonnen und die die unbeirrbare Logik und Konsequenz der Freudschen Psychoanalyse bewahrheitet haben. Wir tun es nicht, weil er es nicht will. Wenn aber das Leben dieses Mannes zu jenen seltenen Phänomenen der menschlichen Entwicklung ge- hört, die gleichsinnig mit dem Ablauf ihres individuellen Daseins ein generel- les Stück Zeitgeschichte, ja man darf es heute wagen auszusprechen, ein Stück Weltgeschichte in sich offenbaren, dann müssen die Auswirkungen dieses eminenten Geistes in führenden Geistern unserer Zeit sich widerspie- geln, und so haben wir, nur gestützt auf den Glauben an die geniale Wirkung unseres Meisters, uns kühn unterfangen, am 70. Geburtstag Freuds den ›Zeit- geist‹ selber zu uns zu Gast zu laden. Dieser Zeitgeist ist heute unter uns, er ist repräsentiert durch die Persönlichkeiten, die mündlich und schriftlich jetzt das Wort ergreifen werden.« Geheimrat Prof. His, Direktor der Medizinischen Klinik an der Charité, setzt auseinander, daß es kaum eine Wissenschaft gibt, die nicht aus Freuds Anschauungen irgendwelche Anregungen zu schöpfen vermöchte. Freud ist aus der heutigen Geistesrichtung nicht mehr hinwegzudenken. Die Gei- stesgeschichte bewegt sich in Perioden. Die jetzt in den Vordergrund gelan- gende geistige Einstellung hat zweifellos eine Ähnlichkeit mit der vor einem Jahrhundert blühenden Romantik, die eine Reaktion auf den Rationalismus der Aufklärung darstellte. Naturforscher und Mediziner sind auf keine Ro- mantik gut zu sprechen. Doch ist unsere Zeit von der mechanistischen Be- trachtung übersättigt und von ihrer Begrenzung unbefriedigt. Wenn die Psy- chologie des Unbewußten früher nicht vom Fleck kam, so lag dies daran, daß sie mit ungenügender Methode an die Probleme herantrat. »Hier setzt nun die Lebensarbeit Meister Freuds ein, und ihr danken wir die Hoffnung, über die unfruchtbare Spekulation früherer Epochen hinwegzukommen. Freud hat
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 12 als erster den Weg gewiesen, analytisch, induktiv an das dunkle Gebiet des Unbewußten heranzutreten. Er reiht sich den großen Pfadfindern und Weg- bereitern an, er gleicht einem Kolumbus ... Noch übersehen wir die Tragweite der Freudschen Gedanken bei weitem nicht, aber der Boden ist bereitet, auf dem sie in der Medizin befruchtend wirken können. Die Medizin hat als Wis- senschaft wie als Heilkunst die Pflicht, am heutigen Tage des Meisters mit innigstem Danke und mit dem Ausdruck höchster Anerkennung zu geden- ken.« Es folgte ein längerer Vortrag des Dichters und Arztes Alfred Döblin. Der Vortrag ist den Lesern dieser Zeitschrift seither durch die Wiedergabe im »Almanach 1927« des Internationalen Psychoanalytischen Verlages bekannt geworden. Staatssekretär z. D. Prof. Julius Hirsch sprach über den Einfluß unbe- wußter Seelenregungen auf Vorgänge der Wirtschaftsentwicklung. Die Ent- stehung des Freudschen Gedankenwerkes rechnete er neben der Abrun- dung des kosmischen Weltbildes und der Amerikanisierung der Wirtschaft zu den drei historischen Bedeutsamkeiten unseres Zeitalters. Für die bildenden Künste ergriff Prof. Emil Orlik das Wort. Obschon der bildende Wirker sein Werk abgewandt und oft abwendig von der Wis- senschaft entstehen sieht, schafft er sich doch auf dem Grundstock der Tra- dition einen Komplex von Erkenntnissen, die selbst eine Wissenschaft bil- den. »Der Mann, den wir heute hier ehren wollen, hat aber das Erkennen und Ergründen alles Menschlichen durch seine bahnbrechende Tat so beein- flußt, daß der Weg, den er so leidenschaftlich gewiesen, nicht mehr umgan- gen werden kann. Die Durchleuchtung des menschlichen Charakters kann nur erschöpfend sein, wenn das Licht seiner Lehre mitgeleuchtet hat in die Finsternis des Unbewußten. Was verdeckt war, ist enthüllt, tiefes Dunkel bricht zum Tage.« Der Bedeutung der Freudschen Lehre für die Musik gedachte in we- nigen Worten der Komponist Prof. Franz Schreker. Des ferneren wurden verschiedene Zuschriften und Telegramme ver- lesen. Prof. Goldstein, Direktor des Neurologischen Universitätsinstitutes in Frankfurt a. M., gibt in seinem Briefe vor allem seiner Überzeugung Aus- druck, daß die Psychoanalyse sehr Wesentliches zu einer Vertiefung unserer Erkenntnisse auch auf dem Gebiete der organischen Erkrankungen bieten kann. Fruchtbar ist an der Lehre Freuds vor allem »die allgemeine Tendenz, von der sie geleitet wird, der Ernst, mit dem das Problem des Unbewußten hier nicht nur wie sonst gewöhnlich als theoretisches Diskussionsthema gestellt wird, sondern mit dem Anspruch auftritt, das Zentralproblem zu sein, und mit der unerbittlichen Forderung auf Entscheidung bei dem Vorgehen
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 13 zur Bekämpfung der Krankheiten. Hier wird Freuds Name als der eines wah- ren Führers unvergessen mit einem wesentlichen Fortschritt unserer Erkennt- nis und unseres ärztlichen Tuns verknüpft bleiben. Hier wird ihm die Medizin und die Menschheit, der diese dient, immer zu tiefstem Danke verpflichtet bleiben.« Die Zuschrift von Lou Andreas-Salome ist seither an der Spitze des »Almanachs 1927« des Internationalen Psychoanalytischen Verlages abge- druckt worden. Aus der Zuschrift von Thomas Mann: »Ich sehe in dieser Bewegung, weit über alles bloß Medizinische hinaus, eine geistige Erschütterung, deren Wellen heute überall hinreichen und ein Hauptelement jener allgemeinen Revolution, die im Begriffe ist, das Weltbild und Lebensgefühl des europäi- schen Menschen bis in den Grund zu ändern.« Professor Max Scheler gedenkt in einem Telegramm des »tiefsten Triebpsychologen unserer Zeit des großen Durchleuchters der menschli- chen Herzen« . Jakob Wassermann schreibt: »Ein Seelenforscher von so genialer Art wie Freud, dessen Arbeit und Werk das ganze geistige Leben der Epoche beeinflußt und in manchem Betracht auf neue Fundamente gestellt hat, kann nicht ohne sichtbare und spürbare Wirkung auch auf die Kunst und das Kunstschaffen sein ... Wenn die Grenzen des Erkennens sich erweitern, deh- nen sich auch die des Schauens aus, und die Ahnung und Vision des Dich- ters entledigt sich gleichsam ermutigt jener Gebundenheiten, die als Summe der Vorurteile seiner Zeit auch dem erleuchtetsten Geist noch anhaften ... Freilich, was wir wissen können, ist winzig gegenüber der Unendlichkeit des Unbekannten, aber hier tritt der schöpferische Akt in seine Rechte, der die- ses Mißverhältnis für die Dauer einer Sekunde, der Sekunde eines opfer- vollen und der Idee geweihten Lebens, aufhebt. Das ist auch der Punkt, wo schöpferische Erkenntnis und schöpferische Gestaltung zusammenfallen. Beides erscheint mir in Sigm. Freud als erstem vereint. Ich neige mich grü- ßend vor ihm und der strahlenden Fackel in seiner Hand.« Aus der Reihe weiterer Zuschriften und Telegramme seien noch er- wähnt die von Prof. Vaihinger, Prof. v. Mises, Hermann Hesse, Felix Hollaender, Dr. Max Marcuse, ferner die der ausländischen Psychoanalytischen Vereini- gungen und des Zentralpräsidiums der I. PsA.V. Der Feier wohnten u. a. auch bei: Prof. Albert Einstein, Prof. Bier, Prof. v. Eycken, Artur Hollitscher, Alice Salomon, Prof. Paneth. Der preußische Minister für Volkswohlfahrt ließ sich durch Geheimrat Professor Lenz vertre- ten. Für die Gesandtschaft der Republik Österreich in Berlin erschien Lega- tionsrat Bacher, der im Namen des Österreichertumes für die Ehrung des
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 14 großen Mitbürgers dankte. Der preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, der sein Erscheinen zugesagt hatte, konnte der Feier we- gen dringender dienstlicher Inanspruchnahme nicht beiwohnen. Aus: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Band 13 (1927), S. 81-83.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 15 Alfred Döblin Zum siebzigsten Geburtstag Sigmund Freuds In einem alten indischen Buch wird erzählt, wie ein Königssohn zu einer unglückverheißenden Stunde geboren wird und deshalb verstoßen und von Waldbewohnern aufgezogen wird. Er wächst heran in dem Wahn, Wald- mensch zu sein. Bis ihn eines Tages Minister des Königs, der gestorben ist, aufsuchen und über seine Herkunft belehren. In diesem Augenblick hört die Wahnvorstellung auf, und er weiß, daß er ein König ist. In solchem Wald hatten jahrzehntelang, bis in unser Jahrhundert hin- ein, die Gedanken der europäischen Menschen gehaust. Und ein Minister, der verkündete, daß der König gestorben sei, heißt Freud. Die Macht, die die Gedanken der Menschen so lange einseitig führte und auch drückte, waren der Naturalismus und der Materialismus. Das war eine kraftvolle Bewegung, man wird ihren Kern nicht verleumden. Es war mehr als eine vorübergehende Bewegung. Sie ist jetzt zurückgedrängt, und ihre Ex- zesse sind überwunden, aber sie wird wieder auftauchen und ihre Fruchtbar- keit zeigen. Da war der Kopf von Helmholtz, ein Entdecker und Fortführer. Da war die skeptische Klarheit und unerbittliche Nüchternheit von Rudolf Vir- chow, da konzipierte Ehrlich seine mächtigen Ideen. Wirklich Ungeheures hat die Naturwissenschaft dieser Periode unter solcher geistigen Führung geleistet, und die Technik, die jetzt die Wirtschaft beherrscht, fußt auf den Ergebnissen und Leistungen dieser Periode. Es ist kein Grund, diese Zeit zu verleumden. Aber es gibt Dinge, an die diese Epoche nicht herankam. Da gibt es in der Welt etwas, es ist kurios zu sagen, was sich nicht wägen lassen will, nicht messen lassen will, dem Seziermesser und dem Mikroskop entgleitet und doch die fabelhaftesten Wirkungen übt. Die ganze Weltgeschichte ist eine Leistung dieses nicht wägbaren, nicht meßbaren, unsichtbaren und schlüpf- rigen Dinges. Es ist eigentümlich und geradezu herausfordernd, daß gerade die Sachen, auf die der Mensch am stolzesten ist, die ihn charakterisieren, Leistungen dieses unwägbaren, unmeßbaren Dinges sind. Es ist die Seele. Da hatte eine freche Behauptung gelautet: Man kann die schärfsten astronomischen Fernrohre in den Raum richten, und man wird keinen Gott entdecken. Und eine andere: Man kann die Großhirnrinde und alle menschli- chen Organe mikroskopieren; man wird nur Zellen und Fasern entdecken. Es war eine Lücke in diesem Denken. Welches Instrument sollte man gebrau- chen in dieser instrumentwütigen Zeit? Keins. Nur den einfachen ruhigen und undogmatischen Blick.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 16 Freud wuchs in der älteren Periode auf. Er trieb Gehirnanatomie, be- diente sich des Mikroskops. Er war Neurologe wie viele andere. Versuchte, sich zu komplettieren, in Paris und Nancy. Da lehrten Charcot und Bernheim. Was nun dieser Charcot war, hat Freud selbst geschildert: ein voller Mensch, kein Grübler, durchaus kein Denker, aber ein Seher. Charcot sah, das war sein Instrument, und gegen die deutschen Theoretiker hatte er unablässig die Rechte des Sehens zu verteidigen. Sie vertraten die Young-Helmholtzsche Theorie; er sagte: »Die Theorie ist gut, aber das hindert doch nicht zu existie- ren.« Und was nun Freud hier auf einem kleinen Spezialterrain lernte, wurde ent- scheidend. Er gewöhnte sich zunächst ab, über die Hysterie zu lachen. Ich möchte feststellen, es geht die Fabel: In der Charité stand an einer großen Klinik vor zwanzig Jahren bei gewissen Fällen das geheimnisvolle Zeichen T. M. an der Tafel. T. M. hieß »total meschugge« und bezeichnete – den Hyste- rischen. Die Objektivität und Echtheit der hysterischen Erscheinungen stand in Paris fest, und allgemein, das war etwas Großartiges und weit Ausgreifen- des, stand fest: die Bedeutung seelischer Vorgänge auf die Bildung, die Er- zeugung hysterischer Symptome. Wenn da noch irgend etwas unklar war, so mußte die Hypnose, die man bei Charcot übte, allen Zweifel beheben: grobe körperliche Erscheinungen, wie Lähmungen, ließen sich da als Erfolge von Vorstellungen nachweisen. Jetzt saß der Wurm in Freud. Er war in die große Lücke der Zeit getre- ten. Er hat dann nicht mehr nach dem Mikroskop gegriffen. Vielleicht hätte ein anderer nun philosophiert und über die Zusammenhänge von Leib und Seele gegrübelt. Bekanntlich hängen in diesem Stacheldraht schon viele Denkerleichen. Es hätte sich dann nichts ergeben, und daß da vieles dunkel ist, wissen wir auch nach Freud. Er ist aber wie ein wackerer Mediziner seinen Weg fürbaß gezogen. Er war damals, nach Wien zurückgekehrt, noch kleiner Privatdozent. Später ist er Professor geworden, aber Professor nicht der Phi- losophie oder Theologie, sondern Professor der Medizin. Er hat es verdient. Er hat es darum verdient, weil er Tausenden Kranken zu ihrem Recht verhalf, als Kranke zu gelten. Es gab viele genau beschriebene Krankheiten mit sogenanntem Organbefund. Und wer das Glück hat, solche Krankheit zu besitzen, wurde ernsthaft behandelt. Nichts hebt einen Kranken mehr in der Achtung des Arztes, als wenn er einen gut greifbaren Geschwulstknoten vorzeigt. Was tut man aber ohne Geschwulstknoten? Etwa bloß mit Kopf- schmerzen? Oder wenn einer weinen muß und er gesteht selbst, er hat gar keinen Grund zu weinen, es geht ihm eigentlich ganz gut, auch zu Hause tut ihm keiner was. Da blieb nichts weiter übrig, ich meine früher, als ihm die Diagnose T. M. zu geben, ein Wort von erblicher Belastung zu murmeln, ihn
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 17 mit Bromkali auf einem Zettel zu verjagen und sich im Geheimen zu denken: es ist doch eigentlich ein starkes Stück, womit einen die Leute belästigen; das sollte er eigentlich seiner Schwiegermutter erzählen, nicht mir. Aber die Kran- ken sind weiter unablässig zu den Ärzten gelaufen. Und schließlich haben die Ärzte nachgegeben: Sie haben die Augen aufgemacht. Es muß festgestellt werden, daß Freud nicht Schüler Charcots blieb. Charcot zimmerte sein abgeschlossenes Hysteriegebäude nach gutem alten Muster, und dabei blieb er stehen. Freud sah Fragen, sah Neuland, wuchs weg von Charcot und stand in dem Moment auf seinem Boden, wo er mit Breuer zusammen die Beobachtung machte: der Hysterische leidet größten- teils an Erinnerungen. Das war eine saubere und einfache psychologische Beobachtung. Jeder Menschenkenner hätte sie machen können. Aber die Menschenkenner kamen nicht an die Hysterie heran, und die Ärzte waren zu vornehm, um Menschenkenner zu sein. Denn es paßt sich nicht für einen Mediziner, zu erkennen, ohne vor- her ein paar Karnickel zu schlachten. Das sind gewissermaßen Opfer für den Gott der Erkenntnis. Aber der Gott hört nicht immer. Es konnte nach dem Auftauchen Freuds ein großes Aufatmen unter den Meerschweinchen und Karnickeln beginnen. Ich habe gehört: es sind Deputationen dieser Tier- geschlechter nach Wien gegangen, zu Freuds Geburtstag, um ihrem großen Retter zu danken. Der Hysterische leidet an Erinnerungen: damit geht es mit voller Fahrt ins Psychische hinein. Was gab es denn vorher für eine Psychologie, gab es keine? Oh, reichlich! Schon lange vor Freud gab es sogar Lehrstühle für Psychologie; ich glaube aber, er würde sich noch heute vergeblich um sol- chen Lehrstuhl bewerben. Die Psychologie da und seine würden sich nicht erkennen und voreinander erschrecken. Es werden da richtige und wichtige Dinge abgehandelt, aber es ist im ganzen nur wenig und nicht das Wesentli- che von der Seele, was diese psychologischen Kollegs beschäftigt. Die menschliche Seele war schon vor Jahrhunderten, da sie von den Psychologen und den Ärzten verstoßen war, auf eine große Wanderschaft gegangen. Sie war zu den Dichtern geflohen und auch zu den Pfarrern. Die waren recht lieblich mit ihr umgegangen. Der Pfarrer hatte sie an das Gebet- buch geführt. Der Dichter reichte ihr den Arm und ging mit ihr im Grünen spazieren. Freud ließ sie in sein Sprechzimmer eintreten, machte die Tür hin- ter ihr zu und sagte: »Legen Sie ab, gnädige Frau. Ja, bitte: ziehen Sie sich aus.« Ich möchte bemerken, daß die Seele bis zum heutigen Tag über diesen Anruf erschrocken an der Tür stehengeblieben ist und noch nicht mehr als den Hut abgelegt hat. Von 1892 bis jetzt, 1926, also vierunddreißig Jahre, hat Freud sich um die Seele bemüht, praktiziert und gelehrt. Es hat sich um ihn ein wachsend
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 18 großer Kreis von Schülern gebildet. Das Ganze ist eine Seefahrt: sie fahren auf dem Meer der menschlichen Seele; sie loten, prüfen Wind und Wellen, Eigenart des Wassers in seinen Tiefen. Das Meer ist groß, größer als irgend- ein Ozean, und ich möchte nicht verhehlen, daß ich manchmal den Eindruck habe, nicht alle Schüler wissen, welch beispiellos riesengroßes Wesen sie da befahren. Es kommen sich manche schon sehr wissend vor. Man wird leicht übermütig, wenn man dauernd ein und dieselbe Route befährt. Von Freud selbst liegen zehn starke Bände vor, die noch nicht alles umfassen. Das ist eine vorläufige Rekognoszierung des neu betretenen Terrains, jener Lücke, von der ich sprach. Was er da vorträgt, ist für die Medizin etwas ganz Unge- wöhnliches; man hat sich aber jetzt schon daran gewöhnt. Seine Krankenge- schichten, wie sehen sie aus? Er sagt selbst: »Ich bin nicht immer Psychothe- rapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektrodiagnostik er- zogen worden, und es berührt mich selbst eigentümlich, daß die Krankenge- schichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind und daß sie sozusa- gen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muß mich aber damit trösten, daß für dies Ergebnis die Natur des Gegenstandes offen- bar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe. Lokaldiagnostik und elektrische Reaktion kommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist, mir gestattet, doch eine Art von Einsicht in den Hergang des Leidens zu gewinnen. Solche Krankenge- schichten haben vor psychiatrischen eines voraus, nämlich die innige Bezie- hung zwischen Leidensgeschichte und Krankheitssymptom, nach welchen wir in den Biographien der Psychosen noch vergebens suchen.« Man be- achte den einfachen klaren Stil, es ist gar kein Stil; er sagt ungekünstelt und phrasenlos, was er meint; so spricht einer, der etwas weiß. Freud, in das Seelengebiet einrückend, stellte zunächst das Aller- gröbste fest, und das war, daß es etwas Unbewußtes gibt. Es ist ihm eigen- tümlich gegangen: links hat er an die Dichter gestoßen, rechts die Philoso- phen verärgert, vorne den Ärzten auf die Hacken getreten. Es waren gar keine Worte da für das, was Freud meinte und was er auch sah im Seelischen. Sagen mußte er es. Woher nehmen und nicht stehlen? Da stahl er. Von den Philosophen das Unbewußte. Die meinten damit mancherlei, Unsicheres, worüber sie disputierten. Freud meinte nur einen ganz gewöhnlichen seeli- schen Tatbestand, der täglich vor seine Augen trat. Die nähere Bestimmung und Aufklärung des beobachteten Tatbestandes, sagte er, wird sich schon beim Arbeiten mit dem Begriff ergeben. Das ist so: erst nimmt man einem das Geld und gebraucht es; nachher wird sich schon herausstellen, wem es ge- hört. Aber die Methode hat sich bewährt, ich meine in der Wissenschaft.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 19 Es lichtete sich vieles von den Zwangsneurosen, Angstneurosen, paranoischen Zuständen. Es wurde vor allem deutlich, daß unterirdisch in uns eine Art Gedächtnis verläuft, ein aktives Gedächtnis, das uns mit Instink- ten belädt und bis auf Urväterzeiten zurückgeht. Er findet: Ebensowenig wie der Körper von heute auf morgen gemacht ist, von jeder Mutter selbständig neu geboren wird, sondern eine ungeheure Tiergeschichte hinter ihm steht, so wird die Seele nicht in jedem Fall neu aufgebaut. Die Seele hat ebenso eine ungeheure Vergangenheit, sie hat ja schließlich diesen Körper beseelt, und bis in die Tierzeit hinein senkt sie ihre Wurzeln. So hat Freud ein Stück Histo- rie der Seele bloßgelegt. Er ist ins Traumreich vorgestoßen, hat da das eigen- tümliche archaische Denken erkannt, das Denken in Symbolen, die merkwür- digen Verdichtungen, die Zeitverschiebungen. Freud als Historiker der See- le: hier vornehmlich hat er Dinge geleistet – man kann im einzelnen sagen, was man will –, die sich sehen lassen können und die sich im Kern mit jeder Sicherheit behaupten werden. Er hat da bei seinen Kranken, nur sich der Augen und des ruhigen Nachdenkens bedienend, die wunderbare Entdek- kung gemacht, die später von anderer Seite her gestützt wurde, von der Übereinstimmung zwischen dem Seelenleben wilder Völker und mancher Neurotiker. Hier ist überall von ihm der erste Spatenstoß getan; kleine Schür- fungen, ja schneidige Kavallerieritte in dies Gebiet hinein haben schon ande- re getan; der Name Nietzsches, des Genealogen der Moral, ist nicht zu ver- gessen. Zuletzt ist Freud auf seine Weise auf Exkursionen gegangen, ins Bio- logische hinein. Denn nun steht die Sache schon so, daß nicht mehr wie vor dreißig Jahren die Anatomie und Physiologie Seelenvorgänge erklärt, son- dern daß biologische Daten, Lebensbewegungen elementarer Art begreifbar werden durch Daten, die man aus unserem eigenen Seelenleben herausge- holt. All diese Erkenntnisse hat Freud ständig aus der Praxis, aus der Be- obachtung lebender Menschen geschöpft. Er hat die Erkenntnis ständig zurück in die Praxis fließen lassen. Das ist die psychoanalytische Behand- lung Freuds. Es ist eine ganz originelle Methode. Es soll da der Mensch, also der Kranke, aus dem Nigger und Kannibalen in eine zivilisierte Person umge- wandelt werden. Man wird zugeben, daß das eine ganz besondere Aufgabe ist und daß dazu ganz besondere Hilfsmittel notwendig sind. Mit Beichte ist es nicht getan. Freiwillig wird überhaupt ein Kannibale nicht zivilisierter Mensch. Schwere Widerstände sind zu brechen; es kommt zu starken Erschüt- terungen des Seelenlebens. Dabei wird nicht hypnotisiert, nicht grob sugge- riert, sondern nur geführt, aufgedeckt und unermüdlich gedrängt. Ich bin,
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 20 nebenbei bemerkt, der Meinung, daß es einer besonderen Analyse bedürfte, um festzustellen, was eigentlich diese ausgeübte Analyse ist. Aber daß sie, in dieser oder jener Form, orthodox oder liberal geübt, starke und fördernde Wirkung hat in einem bestimmten Kreis von Fällen, ist sicher. Wie anders übrigens ist diese Methode als die der früheren oder der übrigen Ärzte. Früher hatte ein Patient Husten, das war aber gar kein Husten, das war eine Bronchitis acuta oder chronica oder gar ein Emphysem, und damit war der Husten der Kenntnis des Mannes entzogen. Er war ihm gewis- sermaßen geraubt. Der Mann war um seinen Husten gekommen. Und dann die Zauberformeln der Rezepte und die Untersuchungen: das sind ja beinah hierarchische und liturgische Prozeduren. Ein Rezept, selbst wenn nur Brust- tee in lateinischer Sprache darauf steht, hat etwas Geheimnisvolles und ari- stokratisch Abweisendes an sich. Das Vertrauen, das der Patient dem Arzt schenken soll, kann nur Vertrauen in die geheimnisvolle Macht des Arztes und der Wissenschaft hinter dem Arzte sein. Also es liegt eine Art Unterwer- fung und magischer Gläubigkeit vor. Bei jeder Seelenarbeit aber von Arzt und Patient heißt es, mit offenen Karten spielen. Man spricht deutsch, nicht ein- seitig lateinisch, und in jedem Sinne hat man deutsch miteinander zu spre- chen. Das ist etwas Demokratisches. Ich finde, das hat etwas Wohltuendes, und schon diese Art des Umgangs von Arzt und Patient ist befreiend und ein Gewinn. Wie soll ich nun zum Schluß Freud loben. Er hat große Anfeindungen zeit seines Lebens erfahren, manche seiner Schüler haben aus seinen Lehren eine Art Konfession gemacht, er selbst aber hat sich durch kein Dogma binden lassen und weiß, daß die geistigen Dinge im Fluß bleiben müssen. Freud ist, wie man sagte, ein großer Beleber, Beweger, Heraufführer der neu- en Zeit. Ich nannte ihn den Minister, der dem Waldmenschen anzeigte, daß er ein König sei. Er beseitigte den Irrtum; der Waldmensch mußte aber schon selbst König sein. Es gibt, recht gesehen, überhaupt keine Beleber und Beweger. Das Leben und was wahrhaft lebendig ist, ist immer massenhaft da und bedarf nur eines Hervorrufes. So sind alle guten und wahrhaft wichtigen Dinge: sie sind massenhaft verbreitet, das Neue muß immer in dieser Weise vorbereitet sein, einen Boden finden, sonst nützt – es ist tragisch, aber nicht zu bestreiten –, sonst nützt der genialste Gedanke nichts und das stärkste Führertalent zerbricht. Da hat Freud ein großes Glück gehabt. Vor ihm und zeit seines Lebens um ihn herum sind ähnliche Gedanken gewachsen, sind Bewegungen aufgetaucht, die man mit ihm in Zusammenhang gebracht hat. Es sind Triebe aus derselben Wurzel. Er war einer der frühsten und kräftigsten Triebe. Man widerstrebe dieser Auffassung nicht. Man sehe sich die berühmtesten Namen an, etwa Napoleon, oder von heute Lenin. So ge-
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 21 waltig die Männer waren, so weit sie durchschlagend wirkten, sind sie nur mächtige Anfacher gewesen. Erfüller ihrer Zeit. Es ist da der Unterschied zwischen dem Blasebalg und dem Feuer. Das Feuer muß brennen, damit der Blasebalg wirkt. Große Männer sind die, die ein wirkliches echtes Feuer zu einem weiten und allgemeinen anfachen. Solch Blasebalg ist Freud. Ich will da eine Meinung besonders erwähnen, die mir am Herzen liegt, die Meinung: Freud habe die Dichtung beeinflußt oder werde sie beein- flussen. Man hat gesagt: die Freudsche Tiefenpsychologie wird eine Tiefen- dichtung zur Folge haben. Ein kompletter Unsinn. Noch immer hat Dostojew- ski vor Freud gelebt, haben Ibsen und Strindberg vor Freud geschrieben. Und wir wissen ja, Freud hat selbst an ihnen gelernt und an ihnen demon- striert. Die Unterschiede sind nicht: Tiefendichter und Flächendichter, son- dern: gute Dichter und schlechte Dichter. Die guten haben ihre Intuition, die macht alle Anleihen überflüssig; und den schlechten ist so und so nicht zu helfen.Wie aber sogar die Grundwahrheit Freuds selbst, die von der Seele, den Dichtern, wenn auch nicht den Wissenschaftlern, bekannt war, wie diese solide Wahrheit und Dinge darüber hinaus sich sogar in der strengsten natu- ralistischen Zeit bei den Dichtern lebendig erhielten, zeigt Walt Whitman. Einmal singt er: »Verlangte jemand, die Seele zu sehen? / So sieh deine eigene Gestalt und dein Antlitz, Menschen, Stoffe, Tiere, die Bäume, die fließenden Ströme, die Felsen, den Sand am Meer / Sie alle enthalten geistige Freuden und geben sie hernach wieder frei / Dein wahrer Leib und jeglichen Mannes und Weibes wahrer Leib. / So treu, wie die Typen, die der Setzer setzt, ihren Abdruck prägen, die Bedeutung, der wesentliche Sinn / Genau so treu prägt eines Mannes Wesen und Leben oder eines Weibes Wesen und Leben sich in Leib und Seele aus / Einerlei, ob vor oder nach dem. Tode / Siehe, der Leib enthält und ist die Bedeutung, der wesentliche Sinn, und enthält und ist die Seele.« Das greift über die Wissenschaft hinaus und ist noch lange nicht für eine heutige Wissenschaft erfaßbar. Die Dichtung ist aber allgemein und überhaupt ein sehr mißachtetes, großartiges Wissensreservoir der Menschen. Eine Quelle, kein Nebenfluß. Man hat Freud verargt, daß er, der im Seelischen die enorme Wirksam- keit einer gesellschaftlichen Zensur fand, daß er nicht den Schritt aus dem Sprechzimmer heraus machte und auf den Plan trat, um im Sozialen, Pädago- gischen oder wie sonst die Gesellschaft zu verändern. Warum hat er dies alles gesehen und hat nicht verändert und zerstört? Man braucht nur die Bilder, die Photographien Freuds in verschiedenen Lebensaltern zu sehen,
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 22 um sich die Frage zu beantworten. Immer erkennt man den Beobachter, einen deutlich mißtrauischen und skeptischen Menschen, einen Pessimisten. Er teilt nicht den Aberglauben an den großen Wert menschlicher Einrichtun- gen, an den Wert für die wirkliche Veränderung der Seele. Er wäre kein Ken- ner der menschlichen Seele, wenn er glaubte, mit irgendwelchen raschen Änderungen im Sozialen ließe sich Entscheidendes an der menschlichen Seele ändern. Er ist in dieser Skepsis und Zurückhaltung völlig identisch etwa mit Tolstoi. Glaube man nun aber nicht, daß nach Abklingen des materialistischen Zeitalters auf die materialistische Überschätzung der Tatsachen und Einrich- tungen ein Quietismus, ein wonniges Planschen in Seele und Lyrik folge. Mögen Dunkelmänner nicht glauben, die angenehme Dämmerung für sie sei gekommen. Mögen diejenigen nicht Morgenluft wittern, die in der vergange- nen Periode niedergekämpft sind und denken sich jetzt wieder zu erheben. Im Gegenteil, die menschliche Kraft, Verantwortung und Entschlossenheit, auf ihren Boden zurückgeführt, wird sich jetzt heftiger als je fühlen. Jetzt heißt es wie nur je: wir haben unsere Sache auf uns gestellt. Wahrhaftig, die Zeit der Flauheit und des Defaitismus ist gründlich vorbei. In zwiefacher Hinsicht lobe ich Freud – und ein Stück ist da so gut wie das andere. Als einen Wohltäter der Menschheit, der breit die Türe zu dem Krank- heitsherd vieler Leiden geöffnet hat. Und dann als Geistesführer, als einen, der in Europa am frühesten wieder in der Wissenschaft das Königsgebiet der Seele betrat. Da muß es mir fern sein, einer kalten Bewunderung Ausdruck zu ge- ben, von großen Leistungen zu sprechen, Farben zu beschnüffeln und De- tails zu bekritteln. Mit Zustimmung und Herzlichkeit, mit Liebe treten wir vor Sigmund Freud. Und wünschen ihm und uns zu seinem siebzigsten Geburts- tag Glück. Alfred Döblin Aus: Almanach der Psychoanalyse 1927, S. 28-38
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 23 Lou Andreas-Salomé Zum 6. Mai 1926 Im Rückerinnern will mir scheinen, als ob mein Leben der Psychoanalyse entgegengewartet hätte, seitdem ich aus den Kinderschuhen heraus war. Denn im darauffolgenden Jahrzehnt ereignete sich ein Dreierlei nacheinan- der, was die Zeitläufte dann entscheidend zusammengriffen. Erstlich das Zurücktreten der gealterten metaphysischen Methodik unter dem Vordrang des Darwinismus und kritischen Positivismus, sodann der Eintritt Nietzsches in das Mannesalter seines Schaffens, nach der vorangegangenen Schopen- hauer-Wagner-Periode; endlich, allmählich, den Zeitgenossen noch verbor- gen, die Geburtsstunde der Psychoanalyse in Wien, der ich erst gegen mein fünfzigstes Lebensjahr nahetrat. Die erste dieser drei Wendungen ist nicht als eine zu betrachten, die bloß philosophisch Interessierte anging; die großen metaphysischen Syste- me – letztlich noch Hegel, nach rechts wie nach links - umfaßten, nicht nur theoretisch, alles ethische, soziale, ästhetische, religiöse Lebensverhalten, sondern bestimmten es; ihren Abbruch mitmachen konnte ernstliche Jugend nicht, ohne sich zu den neuen entgötternden Wahrheiten gleichsam hero- isch einzustellen, weil es eben die »Wahrheit« galt; in einer Seelenhaltung, die überging vom angenehm Begeisterten zum Opferbereiten. Diese, an sich recht wertvolle, aber den empirischen Zweckwissenschaften gegenüber et- was unproportionierte Anstrengung der Seele, entspannte sich in dem Maße, als die Forschungsmethoden immer noch an Anspruch und Strenge zunah- men; denn gerade dadurch ergab sich ihnen auch zunehmend eine um so reinlichere, sachlichere Zweckbegrenzung, – die Einsicht nämlich, von der Wirklichkeit Fülle nur eine flachgezeichnete Silhouette bieten zu können, die nach allen Seiten lebendiger Ergänzung bedürftig blieb. Bis durchgehends das befreiende Schlagwort geprägt war: »Auch der Denktrieb ein Lebens- trieb.« Hiemit setzte Nietzsches mittlere Schaffensperiode ein: er war es, der für »Menschliches, Allzumenschliches« sogenannter »Wahrheit« in seinen Aphorismen jenen gewaltigen Ausdruck fand, der über den resignierten See- len der Opferbereiten wie eine erste »Morgenröte« aufstieg, und alles Den- ken, ungeachtet dessen erworbener Nüchternheit, wieder zu einer »Fröhli- chen Wissenschaft« werden ließ. Jedesmal hat dies als die eigentliche Ge- walt seines Genius sich erwiesen, dem jeweils Theoretischen zu dessen Er- lebnis zu verhelfen, es, an der inbrünstig durchlebten Formung zum Wort, zu überwältigen. Diese lebenszugewendete Tendenz in Nietzsche ließ sich nicht allzu lange von der sachlichen Zurückhaltung der Theoreme, denen sie sich
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 24 begleitend angeschlossen hatte, bändigen; aus dem überbetonten individu- ellen Lebensrecht überschlug sie sich in die grelle Grandiosität eines Gedanken- rausches, der sich ins Übermenschentum verflog: wobei sich ihm als Basis die Evolutionstheorie unterschob, – sie, die allen Übersteigerungen stets so hilflos willige. Nietzsches ganze Wegstrecke und hinein in diese letzte Aufgipfelung, führte ihn durch Gebiete psychischer Entdeckungen offenbarendster Art, – oft möchte man davon sagen: psychoanalytischer Art. Die Sterilität der Schulpsychologie wurde darin überstürzt vom Reichtum eines Materials, woran die menschliche Seele, aller Vorurteile entfesselt, unerhört tief, uner- hört kühn, sich auszuschöpfen begann. Wer es miterlebte, konnte wohl spü- ren: hier –, hier, an dieser Stelle gilt es, sich geistig anzusiedeln: wagemutig und geduldig; hier gilt es, statt eiligen Umkipps in erneute Theoretik, langes Verweilen zu üben unter Anleitschaft inzwischen errungener forscherischer Strenge. Wobei freilich sofort auch das Problem sich auftun mußte: wie die- sem lebendigsten Material beikommen mit wissenschaftlich sichernden He- beln und Schrauben, ohne es eben an seiner Lebendigkeit zu verletzen? Dieses Rätsel ist es, dessen Lösung Freud uns brachte. Was sich keinem Philosophen gelöst hätte, verriet sich dem Arzt, als die Durchforschung psy- chischer Krankheitsherde ihm die Wünschelrute in die Hand gab, welche anzuzeigen versteht, was sich im Unterirdischen des Menschen verdrängt hält oder was sein Widerstand nur in vieldeutigsten Entstellungen an die Oberfläche kommen läßt. Indem am Pathologischen die ungreifbare Leben- digkeit gleichsam halb entseelt erscheint, mechanisiert, typisiert, gestattet sie eine Exaktheit des Eingehens, Eindringens, in sich, die erstens therapeu- tisch wirksam wurde, zweitens aber Erfahrungen und Rückschlüsse zuließ hinsichtlich der sogenannten Normalität, d. h. desjenigen, worin die allge- mein menschlichen Analogien dazu sich ebenfalls eingegraben finden, nur nicht in Lapidarschrift, sondern in unentzifferbarem Lettern. Insofern darf man sagen: Freuds Entdeckung glich dem Ei des Kolumbus wörtlich darin, daß er es auf die zerbrochene Spitze stellte. So ergab sich im Grunde von vornherein – ob auch noch so unbeabsichtigt vom Schöpfer der Psychoana- lyse, ja ihm zunächst unerwartet genug – an seiner Psychoanalyse eine inter- ne Doppelrichtung, die sonst in feindlichen Strömungen gegeneinander zu verfließen pflegt: einmal die Wegrichtung auf Exaktheit speziellster Untersu- chungen, auf Zerlegung noch des Zusammengehörigsten, auf Genese, Hi- storie, Anekdote; sodann die Zielrichtung auf das dem Bewußtsein nur indi- rekt Erfaßbare, Zugrundeliegende, Gleichartige, Wesenhafte im Sinne der eigentlichen psychischen Wirklichkeit. In dieser unzerreißlichen Doppelung wurden Leben und Denken – trotz Unterstreichung von beider Sonderart und gerade durch diese – wieder geeint; weder reduziert aneinander, noch
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 25 auch sich gegenseitig zum Größenwahn der Alleingeltung steigernd. Mit anderen Worten: alles war damit auf praktische Analyse gestellt; auf den Kampf des Menschen mit den ihm innewohnenden Verdrängtheiten und Widerständen. Mit immer wiederholtem Staunen - als erlerne und erführe man daran die Psychoanalyse jedesmal erstmalig von neuem - sieht man von einem Fall zum andern, wie unter dem Hochdruck der nüchternsten aller Me- thoden, dieser lebendige Springquell vom Wesensgrund her zum Auftrieb gelangt. Deshalb bedeutet es zweifellos eine der schwersten Beeinträchti- gungen psychoanalytischer Wirksamkeit, wenn Halbgegner oder Halban- hänger für eine »Beigabe von Synthetik« zur Analyse glauben sorgen zu müssen durch Untermischungen mit allerhand Ethik, Religion oder Philoso- phie; sie entziehen eben damit die »synthetisch« wirksamsten Elemente der- jenigen Betätigung, die im natürlichen Genesungsvorgang sich neu organi- siert. Gilt dieser Vorgang doch nicht, wie irgendeine Wunderkur, nur für den sogenannten »Kranken«, d. h. den, dessen stockende oder aber hemmungs- lose Funktionierung ihn an den Realitätsansprüchen scheitern ließ, sondern für jeden, der sich, aus Berufs- oder anderen Gründen, einer Analyse unter- zog, und nicht zum wenigsten für den Analytiker selbst, den Freud von jeher daran mahnte, daß man mit niemandem weiter gelange, als man mit sich ge- kommen sei. Dieses gleiche Schicksal der Seele ergibt für die zwei, an einer Analy- se Beteiligten, eine Gemeinsamkeit einziger Art, die weder mit individuellen Bezogenheiten zu verwechseln ist, noch mit irgendwelcher Weichheit, wie sie etwa beim Helfer der Teilnahme, beim Analysanden dem Hilfsverlangen entspräche. Sie reicht also über jene »Übertragungsphänomene« noch hin- aus, die außeranalytisch sich ebenso ereignen können, oder aber an denen die Affektvergangenheit des Analysanden sich am Analytiker zu wiederho- len und zu lösen hat. Ich meine hier die Gemeinsamkeit des Erlebnisses selber auf dem sonst unbetretbaren Boden des Unbewußten; nicht die bloße Tatsa- che der gleichen psychischen Wesenhaftigkeit, sondern daß sie einem Men- schen dort als gemeinschaftliches Erlebnis aufgeht (– etwa wie wenn einem Körper die chemische Chiffre der Körpergleichheit zu einem erfühlten Ereig- nis würde –). Das beiderseitige Niedersteigen in vielfaches Grauen, das bei- derseitige Innewerden vom Einssein noch des Entwertetsten mit dem Wert- vollsten in uns, das Abfallen von Kleinmut wie von Hochmut, vor einer letzten Unschuld und Verbundenheit des Seins Aller: das ist hier und nur hier erlebbar. Und wird zu etwas gleich einer Einkehr – nur anders gewendeter und verwendeter – in die fernst entsunkene Kindheitsregion: die therapeu- tisch ja zur Losung infantiler Fixierungen aufgespürt werden mußte. Nur daß damit »Kindheit« neu kenntlich wird als der dauernde Urgrund auch des Aufbaus unserer Vollendung. Ist das Kindeswesen durch seine Unreife noch
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 26 von nichts klar abgehoben, sich ein wenig noch für alles nehmend, und alles für sich, so kehren wir reif erst heim zu uns selbst, wo an den vollzogenen Erfahrungen eines Lebens, solche Ganzheit uns wieder aufnimmt. Ich möchte davon beileibe nicht in Traktätchenton reden und möchte doch an dieser Stelle den Mut finden dürfen zu Goethes stammelnd umschreibendem Wort: »Wir heißen’s fromm sein.« Damit komme ich auf die Veranlassung zu diesen Ausführungen. Hier war jeder geladen, mitzuteilen, ob und worin Freuds Psychoanalyse wichtig geworden sei seinem Lebenswerk. Ich möchte hier ergänzend von dem An- onymen geredet haben, was nicht bloß Spezialwerken wichtig wurde. Solche Werke, also vorwiegend künstlerischer oder wissenschaftlicher Produktion, stellen selber schon Spezialabfuhren und Ermöglichungen der Lebens- bewältigung dar, - trotz aller sich gerade an ihnen ergebender Komplikatio- nen, die so zahlreiche Geistesarbeiter neurotisch erscheinen lassen; es blei- ben dennoch Daseinsentlastungen, Daseinsentzückungen intensivster Art, die dem nicht so gerichteten Menschen abgehen. Im Grunde hat nur er, der Mensch der Anonymität, das Dasein in nacktester Tatsächlichkeit auszuhal- ten, nur er hat ganz standzuhalten der Gefahr, sich zu verflachen, zu banali- sieren, um sich das zu erleichtern. Die Psychoanalyse und sollte nicht eben dies ihr Kostbarstes sein? - reicht allein bis dorthin: bis in die Not und Wich- tigkeit eines jeden. Bis dorthin, wohin sonst nur wahnhaft religiöser oder mystischer Hilfstraum sich erstreckte. Dem Schöpfer der Psychoanalyse hat zwar wahrlich keine Konkurrenz damit vorgeschwebt! Was er schuf, war das voraussetzungslose Ergebnis des Genius äußersten Mutes, letzter Ehrlich- keit; was wir heute feiern, ist diese Großtat. Wir feiern damit diese unbeein- flußbare Nüchternheit der Einstellung, die dafür keinerlei Kampf scheute. Und wünschen ihr und uns jeden Kampf auch in Zukunft: Kampf mit Wider- sachern und Widerständen, Kampf auch mit jedem Widersacher in uns selbst, daß er nicht irgendeine vorbehaltliche Besonderheit dagegen ausspiele! Aber im Wesen der Psychoanalyse liegt es, daß sie eines Zweierlei bedarf: tiefster, intimster Einfühlung, und kältester Anwendung des Verstandes, – darin gleichsam beiden Geschlechtern im Menschen gerecht werdend. So betont sich vielleicht mir, als Frau, das Positive am menschlichen Ergebnis (noch jenseits des rein Therapeutischen dran), besonders dankesstark – Sei immer- hin Kampf die Losung; Kampf für und für, – heißer noch macht es, sich zu versenken, zu versetzen in das durch ihn Errungene von Mensch zu Mensch. Und somit verteilt sich unser Verhalten dazu ganz unwillkürlich nach den Geschlechtern. Denn Männer raufen. Frauen danken. Aus: Almanach der Psychoanalyse, 1927, S. 9-14
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 27 Eugen Bleuler Zum siebzigsten Geburtstag Sigmund Freuds »Nach innen geht der geheimnisvolle Weg.« Ein Jahrhundert ist’s, seitdem die Romantiker zum erstenmal mit diesen Wor- ten verkündeten, was alle großen Dichter von je erfühlt haben. Etwa ein Menschenalter später, am 6. Mai 1856, kam der Mann zur Welt, der nicht als Dichter, sondern als Wissenschaftler, aber doch mit Intuition und künstleri- scher Gestaltungskraft begabt, jenen Weg nicht bloß ahnend streifte, son- dern ihn stet und zäh, spähenden Blickes verfolgte und endlich erschloß. Und zwar war er dazu auch mit wissenschaftlichen Hilfsmitteln ausgerüstet, die er sich, was vielleicht zu wenig betont wird, zuerst in ernsten Forschun- gen langer Jahre erarbeitet hatte. So tief war der mittellose junge Mann in physiologische und anatomische Studien versunken, daß sein Lehrer Brük- ke, wohl ungern genug, ihn erst zu der Erkenntnis wecken mußte, daß dieser Weg ihn zwar zu Einsichten, aber kaum je zu Aussichten auf Broterwerb führen dürfte. Da verzichtete Freud darauf, die Opfer, die sein Vater dem begabten Sohne bis dahin großherzig gewährt hatte, noch weiter anzuneh- men. Der Name Sigmund Freud fiel mir zum erstenmal auf im Jahre 1891, als er eine Broschüre »Zur Auffassung der Aphasien« (d. h. der durch Herd- erkrankungen im Gehirn verursachten Sprachstörungen) herausgab. Die Aphasielehre war damals in einem Schema verknöchert, das den neuern Be- obachtungen nicht entsprach. Die eigenartige Auffassung des Autors schien mir ein genialer Wurf, und ich fand mich veranlaßt, eine Ausrede zu benutzen, um in dem gelesensten Referatenblatt auf diesen Fund hinweisen zu können - allerdings nicht mit großem Erfolg. Eilte doch Freud mit seinen Ideen den Fachgenossen um zehn Jahre voraus; ungefähr solange brauchten sie näm- lich, um einzusehen, daß er recht hatte. Dann sah ich Arbeiten über anatomi- sche Erkrankungen des Zentralnervensystems, die von einer seltenen Be- herrschung des Stoffes zeugten. Die Gelegenheit, gleich nach dem Staatsex- amen schon berühmt zu werden, hatte Freud unbenutzt gelassen: mit einer aussichtsreichen Arbeit über Kokain beschäftigt, zeigte sich ihm die Mög- lichkeit, seine weitentfernte Braut zu besuchen, und da reiste er zu der Lang- entbehrten, seinem Kollegen den Einfall überlassend, die Koka in der Augen- heilkunde zu benutzen, eine Idee, die bald zu der Einführung der lokalen Schmerzlosigkeit bei chirurgischen Operationen überhaupt führte. Wir dür- fen aber in diesem Fall dem Eingreifen Gott Amors dankbar sein, wäre doch der Entdecker einer so wichtigen Sache nachher kaum noch ins Gebiet der
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 28 Nervenkrankheiten hinübergeraten. Unter Nervenkrankheiten aber verstand Freud damals die greifbaren Zerstörungen im Zentralnervensystem, worin er sich so gut auskannte, daß er eine Zeitlang besondere Kurse improvisieren mußte für Ärzte, die aus Amerika extra nach Wien kamen, um sich von ihm instruieren zu lassen. Da zeigte sich, daß er nicht Phantast war, wie man ihm nachmals vorzuwerfen beliebte, einer, der willkürlich ins Blaue hinein kon- struiert, sondern ein ganz exakter Wissenschaftler, der von bestimmten Äu- ßeren Anzeichen unerbittlich zu den inneren Ursachen vorzudringen und einen Krankheitsherd im verlängerten Marke auf ein paar Millimeter genau zu lokalisieren wußte. Erst beim Altmeister der Neurologie in Paris, Charcot, sah er die Hysterie, die Hypnose und Suggestion, wenn auch in einer etwas eigentümlichen Beleuchtung. Seine neuen Kenntnisse wollte Freud nach der Rückkehr von Paris der Wiener Gesellschaft der Ärzte übermitteln, stieß aber nur auf Abweisung. Damals zum erstenmal sagte man ihm ins Gesicht, er schwatze Unsinn. Er erzählte nämlich davon, Hysterien bei Männern gese- hen zu haben, und weil das Wort Hysterie im Griechischen mit der Gebärmut- ter zu tun hat, durfte es für die Kollegen keine männliche Hysterie geben. So wurde der junge Privatdozent gezwungen, seine eigenen Wege zu gehen, und das tat er mit der Sicherheit des zukünftigen Bahnbrechers. Als Bernheim in Nancy endlich die zwanzig Jahre früher von Liébault genauer erforschte Hypnose in seiner Praxis benutzte und die Macht der Suggestion demonstrierte, ging Freud die Sache an der Quelle studieren. Und darauf begann er eine Praxis für Nervöse. Da vernahm er durch den angesehenen Arzt Breuer von einer merkwürdigen Kur bei einer hysterisch schwer Kran- ken, die in der Hypnose von Erlebnissen erzählen konnte, die mit dem Ur- sprung ihrer schweren Leiden zusammenhingen, von denen sie aber im Wa- chen nichts wußte, und die dann dadurch nach und nach von den verschie- denen Krankheitserscheinungen befreit wurde. Nun versuchte Freud die nämliche Methode mit unerwartetem Erfolg bei Ändern Kranken und stieß dabei in allen Fällen auf einen Zusammenhang der Krankheit mit sexuellen Schwierigkeiten der Patienten. Da nicht jeder Patient gleich zu hypnotisieren war, ließ Freud die Hypnose fallen und suchte andere Wege, dem Unbewuß- ten nahe zu kommen. So bildete er nach und nach seine bekannte psycho- analytische Technik aus. Erst in letzter Stunde auf die Bedeutung des Tages aufmerksam ge- macht, kann ich hier der Größe der Freudschen Leistung unmöglich gerecht werden; ich kann nur einiges vom Wesentlichen hervorheben, so die Her- ausarbeitung der unbewußten Mechanismen, aus denen die Nervenkrank- heiten hervorgehen und die bei vielen Geisteskranken das Äußere Bild ge- stalten, Mechanismen, die aber auch im Geistesleben des Gesunden unend-
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 29 lich wirksamer und zielbestimmender sind, als man geahnt hatte. In seiner »Psychopathologie des Alltagslebens« bringt Freud dafür eine Fülle unter- haltender Beispiele, in denen er beim Gesunden die tiefer liegenden Ursa- chen des Versehens, Versprechens und anderer oft so geringfügig scheinen- der Abweichungen vom Gewohnten aufzeigt. Wer das Unbewußte verwirft oder nicht versteht, ist unfähig zum Verständnis der Neurosen, es sei denn, daß er die unbewußten Vorgänge doch in Rechnung zieht, aber als »bewußt« bezeichnet, wie es Einzelnen beliebt. Am meisten griff man Freud an wegen seiner Stellung zur Sexualität, denn diese fand er nicht nur an der Wurzel seiner Nervenkrankheiten, son- dern er wies sie in voller Wirksamkeit nach schon beim kleinen Kinde, dessen erotische Einstellung bestimmend sei für die Nervenkrankheiten und das allgemeine Verhalten des späteren Erwachsenen. Die heiligsten Gefühle, hieß es, ziehe er in den Kot, taste sogar die beliebte »Reinheit und Unschuld« der Kinder an. Letztere scheint mir eine der dümmsten Vorstellungen, die es in der Psychologie gibt. Wissen denn diese Leute nicht, wie lebendig einst ihre sexuelle Neugierde und viele andere sexuellen Strebungen und Gefühle sich bemerkbar machten, wenigstens zu der Zeit, die sie in die Elementarschule gingen? Und blieben sie weiter so blind, da sie ihre eigenen Kinder erzogen? Und daß man hinter den gewöhnlichen Neurosen regelmäßig Zusammen- hänge mit der Sexualität findet, ist eben eine Tatsache, gerade so gut, wie diese bei vielen Geisteskrankheiten das Äußere Krankheitsbild gestaltet, wenn auch meines Erachtens nicht die Ursache derselben liefert. Und was für ent- artete Nichtsnutze müßten dann die Dichter sein, die uns immer wieder den Primat der Liebe, gerade auch der schon im Kindesalter auftauchenden, über alle andern Triebe vor Augen stellen? Und wie dumm wären erst noch die Leser, die diese durch Jahrtausende wiederholte Fiktion noch immer nicht ablehnen! Besonderes Entsetzen hat Freuds Entdeckung einer unserer bewuß- ten Erkenntnis bisher gänzlich fremden Tatsache erregt: des sogenannten »Ödipus-Komplexes«, d.h. einer Art bereits sexuell gefärbter Liebe des Klein- kindes zum andersgeschlechtigen Elter und entsprechender eifersüchtiger Regungen dem gleichgeschlechtigen Elter gegenüber. Wer aber Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, kann diese Erscheinung in Gesundheit und Krankheit an kleinen Kindern wie Erwachsenen beliebig oft konstatieren, ganz abgesehen von den sehr deutlichen Fingerzeigen in unzähligen Mär- chen und Sagen. Wir haben uns nur vor den Tatsachen zu beugen. Es kann ferner bei jedem Gesunden festgestellt werden, wie leicht gerade Vorstellungen und Strebungen sexueller Natur in Konflikt geraten mit Ändern Tendenzen, z. B. denen der Moral und Konvention. Häufig ist es
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 30 dann das sexuelle Streben, das zurücktreten muß. Es ist aber zu tief in der Natur verwurzelt, als daß es ganz unterdrückt werden könnte. So wird es nur »ins Unbewußte verdrängt«, und setzt sich von da aus oft in Krankheits- symptome um, ein Vorgang, den wir nicht nur bei den Neurosen, sondern ganz besonders klar auch bei vielen Formen von Geisteskrankheiten sehen. Dadurch, daß er den so wichtigen Begriff der Verdrängung herausarbeitete, hat Freud die Psychopathologie wesentlich bereichert. Die »Traumdeutung« ist zu bekannt, als daß hier viele Worte darüber zu verlieren wären. Es sei nur bemerkt, daß sie durchaus nicht das willkürlich phantastische Gebilde ist, als das sie auch jetzt noch oft bezeichnet wird. Viele der »Deutungen« lassen sich objektiv ganz sicher erhärten; man kann höchstens fragen, ob alle Traumerscheinungen bloß auf den Freudschen Mechanismen entstehen, oder ob noch andere Wege zu unseren Schlafvor- stellungen führen, wie ich zu glauben geneigt bin, obschon ich es nicht beweisen kann, während gerade das Vorkommen Freudscher Mechanismen bewiesen ist. Immerhin habe ich erlebt, daß ein Psychoanalytiker (nicht aber Freud selbst) aus meinen Träumen seine eigenen Komplexe statt der meini- gen heraus las. Freuds Bedeutung ist für den schwer zu ermessen, der es nicht vor Freud versucht hat, Psychologie, d. h. Wissenschaft von der ganzen Psyche zu treiben. Die Unmöglichkeit, in die Tiefe der Seele zu dringen, war so groß, daß die Meisten gar nicht bemerkten, wie unter der Oberfläche, die sie stu- dierten, erst die wichtigsten Triebkräfte verborgen lagen. Die Erforschung des Unbewußten in seiner ganzen Bedeutung, der Begriff der Verdrängung mit allen ihren Folgen in Gesundheit und Krankheit, die Art des Denkens im Unbewußten und im Traum mit seiner Symbolik, seiner Ersetzung logischer Konsequenzen durch affektive Bedürfnisse, die Herausstellung des elemen- taren Wirkens der Sexualität auf die übrige Psyche: all das sind Errungen- schaften, welche die wissenschaftliche Psychologie, soweit sie nicht psy- chologische Physiologie ist, auf neue Grundlagen stellen. Wir verstehen nun auf einmal eine Menge vorher dunkler Reaktionen des Gesunden in ihrem Wechsel, wie in ihrem Beharren, in ihren scheinbaren Widersprüchen, ihren kleinen und großen Verfehlungen; wir haben einen tiefen Einblick in die Ent- stehung der Nervenkrankheiten, in die Symptome der Geisteskrankheiten gewonnen, können auf beiden Gebieten viel leichter heilend und bessernd eingreifen; auch die Pädagogik fängt an, psychoanalytische Erkenntnisse in der Erziehung zu verwerten; auf einmal verstehen wir ganz große Abschnitte der Mythologien, der Denkart früherer Zeiten, des Aberglaubens und noch vieles andere.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 31 Freud hat in sein Lehrgebäude eine Menge geistreicher Konstruktio- nen eingeführt, die hier nicht erwähnt werden können und mir auch nicht so wichtig erscheinen. Der Meister selber aber legt auf alles Gewicht, ja er be- trachtet auch solche Einzelheiten als notwendige Bestandteile im Fundament seines Gebäudes, und er kann diejenigen, die ihm, wie ich, nicht überall hin folgen, gar nicht als seine Schüler ansehen. So drückt sich das Künstlerische seiner Anlage nicht bloß darin aus, daß eben die Psychoanalyse eine wirkli- che Kunst ist, sondern auch darin, daß er den Wert seines Werkes gefährdet sieht, wenn auch nur ein Steinchen davon herausgenommen wird, gerade wie einem Maler ein für uns unbedeutender Pinselstrich für den Gesamtein- druck unerläßlich erscheint. Aus all dem Angeführten, das ja nur das leichtest Faßbare in Freuds Schöpfungen herausgriff, sollte doch sichtbar werden, daß auch ich ihm so gut wie alle andern, denen die Kenntnis des Menschen und seiner Seele am Herzen liegt, den höchsten Dank schulde. Vor einem Vierteljahrhundert stand der Forscher noch allein der gan- zen gebildeten Welt gegenüber, und auch jetzt noch gibt es Leute, die ihn bekämpfen, herabsetzen und verhöhnen. Ihre Zahl wird aber von Jahr zu Jahr kleiner und nicht nur die schöne Literatur hat Freuds Ideen aufgegriffen, ihrem Einfluß kann sich kein Gebildeter mehr entziehen. In jener Wissen- schaft zumal, deren Literatur ich überschaue, der Psychiatrie und Neurolo- gie, macht sich sein. Wirken auf Schritt und Tritt bemerkbar. Es ist geradezu amüsant zu sehen, wie auch jene, die immer noch sich den Anschein geben, von Freud nichts wissen zu wollen, dennoch, offenbar ohne sich dessen bewußt zu sein, auf seine Gedanken bauen. Immer wieder müssen die Werke Freuds, auch die, welche nach seinem eigenen Urteil überholt sind, neu auf- gelegt werden. Ein Teil von ihnen ist in sieben Sprachen übersetzt. Als ein besonders deutliches Zeichen der Festigkeit des Freudschen Gebäudes be- trachte ich es, daß ihm nicht einmal die Scharen seiner Nachbeter etwas anzuhaben vermochten, der allzuvielen, die kritiklos seine Worte nachspre- chen, aber gar nicht fähig sind, die Größe des Ganzen zu übersehen, und deren Eifer nur dazu dient, die Freudschen Ideen ins Absurde zu führen - wenn das eben möglich wäre. Eine Zeit wird kommen, da man von einer Psychologie vor Freud und einer solchen nach Freud wird sprechen müssen. Das Wort »Seele«, abgelei- tet von »See«, erinnert uns immer noch an das Spiel auf- und abgehenden Wassers. Vor Freud segelten die Schiffe der Psychologen fröhlich darüber hinweg; er aber, der »Tiefseelforscher« tauchte hinab und begehrte zu schau- en, was sich da unten verhehle, dem Grauen trotzend, womit es bisher zuge- deckt worden war. Aus: Almanach 1927, S. 16-22.
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Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 33 Hanns Sachs Zum 70. Geburtstage Sigm. Freuds Über Freud als Forscher und Schöpfer, über seine Bedeutung für die Er- kenntnis des Seelenlebens, über seinen Einfluß auf das wissenschaftliche Denken überhaupt - über diese Dinge hier zu schreiben, verbieten der Anlaß und der Ort. Der Anlaß - weil man einen weltbewegenden Menschen nicht feiert, wie einen pflichttreuen Beamten oder Angestellten, in dessen Leben nur die Kalenderzahlen wesentliche Marksteine sind, während Freud uns durch seine noch im Flusse befindliche, ja fast gesteigerte Produktivität be- wiesen hat, daß wir uns an keiner Grenzscheide seines Wirkens befinden. Der Ort, weil in diesen Blättern jede Zeile von der Größe seines Werkes spricht, so daß eine besondere Hervorhebung eher eine Abschwächung als eine Erhöhung bedeuten würde. Statt dessen sei mir vergönnt, dem Gefühl nachzugeben, daß die Per- sönlichkeit Freuds für mich mit dem wesentlichen, ja fast dem einzig bedeut- samen Teil meiner eigenen Entwicklung unlösbar verknüpft ist. Ich glaube davon im Namen seiner ersten, ihm am nächsten stehenden Schüler ohne ungebührliche Betonung des Persönlichen sprechen zu dürfen, denn viele, und gewiß nicht die schlechtesten unserer Zeitgenossen, haben den Ab- glanz eines solchen Erlebnisses aus den Werken Freuds geschöpft, das uns ein seltenes Glück in den Schoß warf. Aus: Imago 12(1926), S. 115-116.
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Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 35 Sándor Ferenczi Zum 70. Geburtstage Sigm. Freuds. Eine Begrüßung Mir fiel die Aufgabe zu, Sigm. Freud aus Anlaß seines 70. Geburtstages fest- lich zu begrüßen und ihm die Glückwünsche unserer Zeitschrift darzubrin- gen. Es ist nicht leicht, dieser ehrenvollen Pflicht zu genügen. Seine Gestalt ist viel zu hervorragend, als daß ein ihm Nahestehender, einer seiner Anhän- ger und Mitarbeiter, es zustande bringen könnte, sie im Vergleich mit anderen Großen der Geistesgeschichte und im Verhältnis zu seinen Zeitgenossen darzustellen. Auch spricht sein Werk für sich selbst und bedarf keiner Kom- mentare, insbesondere keiner Lobpreisung. Es mißfiele gewiß dem Schöpfer einer unnachsichtig ehrlichen, aller Heuchelei feindlichen Wissenschaft, die Dithyramben zu hören, die bei solchen Anlässen den Führer einer großen Bewegung zu preisen pflegen. Die objektive Darstellung seines Lebenswer- kes aber, eine verlockende Aufgabe für einen eifrigen Schüler, erübrigt sich hier, da ja diesem Zwecke der Meister selbst mehrere Essays von unnach- ahmlicher Sachlichkeit gewidmet hat. Er hat der Öffentlichkeit nichts vorent- halten, was er über die Entstehung seiner Ideen weiß, er erzählte uns alles, was über die Schicksale seiner Lehre, über die Reaktionsweise der Mitwelt zu sagen war. Dem modernen Persönlichkeitsforscher gar, der mit Hilfe von Ein- zelheiten aus dem Privatleben neue Einblicke in die Entwicklungswege eines Forschers zu gewinnen trachtet, hat Freud, bezüglich seiner Person, den Wind aus den Segeln genommen. In seiner »Traumdeutung«, in der »Psy- chopathologie des Alltagslebens« besorgte er das selber in einer bisher nicht gekannten Art, die nicht nur dieser Forschungsweise neue Wege wies, son- dern für alle Zeiten ein Beispiel der auch gegen sich selber schonungslosen Aufrichtigkeit gibt. Auch die sonst so sorgsam gehüteten »Atelier- geheimnisse«, die unvermeidlichen Schwankungen und Unsicherheiten, gab er unbedenklich preis. Das Konsequenteste wäre wohl nach alledem, auf jede Art Manife- station zu verzichten. Ich weiß es bestimmt, daß es dem Meister am liebsten wäre, wenn wir uns um künstlich geschaffene Zäsuren, um eine runde Zahl, die an und für sich nichts bedeutet, nicht kümmerten und ruhig weiter arbei- teten. Wir, seine Schüler, wissen ja gerade von ihm, daß alle modernen Feste exaltierte Huldigungen sind, die die Gefühlsregungen einseitig zum Aus- druck bringen. Es war nicht immer so; es gab Zeiten, in denen man dem auf den Thron Erhobenen auch die feindseligen Absichten nicht verhehlte; Freud lehrte uns, daß dem Höchstgeehrten, wenn auch nur unbewußt, auch heute noch auch Haß, nicht nur Liebe entgegengebracht wird. Trotz alledem konnten wir der Versuchung nicht widerstehen, uns ausnahmsweise und gegen besseres Wissen vor der Konvention zu beugen
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 36 und den Geburtstag zum Anlaß zu nehmen, dieses Heft, sowie das am glei- chen Tage erscheinende Heft der Imago, ausdrücklich unserem Herausgeber zu widmen. Wer aber die zwölf Jahrgänge unserer Zeitschrift durchblättert, dem wird es sofort klar, daß eigentlich alle bisherigen Hefte ihm gewidmet waren; die Arbeiten, sofern sie nicht vom Meister selbst stammten, enthiel- ten nur die Fortsetzung, die Nachprüfung oder Würdigung seiner Lehren. Auch das heutige, feierlicher als sonst auftretende Heft ist also im Wesen nichts anderes als alle vorherigen Hefte, nur daß sich die Mitarbeiter in einer etwas stattlicheren Zahl präsentieren. Statt einer formellen Einleitung dersel- ben aber gestatte ich mir, in loser Folge, gleichsam als freie Assoziation, die Gefühle und Gedanken wiederzugeben, die in mir bei dieser Gelegenheit auf- tauchen. Ich darf voraussetzen, daß diese Einfälle auch vielen der Gleich- strebenden eignen. In einer Arbeit, in der ich Freuds Drei Abhandlungen zur Sexual- theorie zu würdigen versuchte, komme ich zum Schluß, daß diesem Werke eine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung zukommt: es riß die Grenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften nieder. In einer anderen Arbeit mußte ich die Entdeckung und Erforschung des Unbewußten durch Freud als einen Fortschritt in der Menschheitsgeschichte hinstellen, als das erst- malige Funktionieren eines neuen Sinnesorgans. Man mag diese Behaup- tungen als Übertretungen von vornherein abweisen und sie als unkritische Äußerungen eines enthusiastischen Jüngers hinstellen; Tatsache bleibt, daß sie nicht etwa einer Jubiläumsstimmung entsprangen, sondern als Konse- quenz aus einer langen Reihe neuer Erkenntnisse gezogen wurden. Ob und wann sich meine Voraussage, daß einstmals alle Welt von einer Vor- und einer Nach-Freudschen Epoche sprechen wird, in Erfüllung geht, kann ich natürlich nicht sagen; die zwanzig Jahre, die ich seinen Fußstapfen folge, haben an dieser Überzeugung nichts geändert. Zweifellos aber teilt sich das Leben eines Neurologen, der das große Glück hatte, als Zeitgenosse Freuds zu leben, und das größere, seine Bedeutung früh erkannt zuhaben, in eine Vor- und Nach-Freudsche Periode, Lebensabschnitte, die im schärfsten Gegensatze zueinander stehen. Mir wenigstens war vor Freud der Beruf des Neurologen eine ausnahmsweise zwar interessante Beschäftigung mit dem Nervenfaserverlauf, sonst aber eine schauspielerische Leistung, eine fort- währende Freundlichkeits- und Wissensheuchelei den Hunderten von Neu- rotikern gegenüber, von deren Symptomen wir nicht das mindeste verstan- den. Man schämte sich – ich wenigstens schämte mich – für diese Leistung sich auch noch belohnen zu lassen. Auch heute können wir nicht jedem helfen, doch sicher sehr vielen, und auch in den negativen Fällen bleibt uns das beruhigende Gefühl, uns redlich, mit wissenschaftlichen Mitteln um das Verständnis der Neurosen bemüht und die Ursachen der Unmöglichkeit des
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 37 Helfens durchschaut zu haben. Der peinlichen Aufgabe, mit der Miene des allwissenden Doktors Trost und Hilfe zu versprechen, sind wir enthoben, so daß wir diese Kunst schließlich ganz verlernten. Die Psychiatrie, früher ein Raritätenkabinett von Abnormitäten, die wir verständnislos anstaunten, wurde durch Freuds Entdeckungen ein fruchtbares, einheitlichem Verständnis zu- gängliches Wissensgebiet. Ist es da eine Übertreibung, zu behaupten, daß uns Freud den Beruf verschönt und veredelt hat? Und ist es nicht glaubhaft, daß wir von steter Dankbarkeit erfüllt sind gegen einen Mann, dessen Wir- ken dies ermöglichte? Den siebzigsten oder achtzigsten Geburtstag zu feiern, mag eine konventionelle Förmlichkeit sein, für Freuds Schüler ist ein solcher Tag sicherlich nur eine Gelegenheit, längst gehegten Gefühlen einmal Aus- druck zu geben. Hieße es nicht, dem in Gefühlssachen eher zu Schamhaftig- keit neigenden Zeitgeist eine Konzession machen, wenn wir diese Gefühle unausgesetzt unterdrückten? Folgen wir lieber dem Beispiele der Antike und schämen wir uns nicht, unserem Meister einmal offen und herzlich zu danken für alles, was er uns geschenkt hat. Es wird nicht lange dauern, bis der ganze ärztliche Stand zur Einsicht kommt, daß zu solchen, meinetwegen lyrischen, Gefühlsäußerungen nicht nur die Nervenärzte, sondern alle, die sich um die Heilung von Menschen bemühen, vollen Grund hätten. Die Erkenntnis der Rolle des psychischen Verhältnisses zum Arzte bei jeder Art von Therapie und die Möglichkeit ihrer methodischen Verwertung wird allmählich Gemeingut aller Ärzte Die von Spezialistentum zerklüftete ärztliche Wissenschaft wird, dank Freud, wieder zu einer Einheit integriert werden. Der Arzt wird aus einem trockenen Labora- toriums- und Seziersaaltechniker ein Kenner des gesunden und kranken Men- schen, der Ratgeber, an den sich jeder mit berechtigter Hoffnung auf Ver- ständnis und vielleicht auf Hilfe wenden kann. Es mehren sich aber die Zeichen, die dafür sprechen, daß die Ärzte der Zukunft auf viel mehr Achtung und Anerkennung nicht nur seitens der Kranken, sondern der ganzen Gesellschaft werden rechnen können. Der Eth- nologe und Soziologe, der Geschichtsschreiber und der Staatsmann, der Ästhetiker und der Philologe, der Pädagoge und der Kriminologe wendet sich schon jetzt an den Arzt als Kenner der menschlichen Seele um Auskunft, will er sein Spezialgebiet, das schließlich auf ein Stück Psychologie aufge- baut sein muß, vom schwankenden Boden willkürlicher Annahmen auf eine sichere Basis stellen. Es gab schon eine Zeit, in der der Arzt als der Mann der Wissenschaft geachtet war: er war der hochgelehrte Kenner aller Pflanzen und Tiere, aller Wirkungen der »Elemente«, so weit sie damals bekannt wa- ren. Das Kommen einer ähnlichen Zeitströmung wage ich vorauszusagen, eine Zeit der »Iatrophilosophie«, zu der Freuds Wirken den Grundstein ge-
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 38 legt hat. Freud wartete auch nicht, bis alle Gelehrten die Psychoanalyse ken- nen, er war gezwungen, Probleme der Grenzwissenschaften, auf die er bei der Beschäftigung mit Nervenkranken stieß, mit Hilfe der Psychoanalyse selber zu lösen. Er schrieb sein Totem und Tabu, ein Werk, das der Ethnologie neue Wege weist; um seine Massenpsychologie wird keine künftige Soziologie herumkommen; sein Buch vom Witz ist der erste Versuch zu einer psycholo- gisch begründeten Ästhetik und unzählig sind seine Hinweise auf neue Ar- beitsmöglichkeiten auf dem Gebiete der Erziehungswissenschaft. Brauche ich vor den Lesern dieser Zeitschrift viel Worte darüber zu verlieren, was die Psychologie der Psychoanalyse zu verdanken hat? Ist es nicht vielmehr wahr, daß vor Freud eigentlich alle wissenschaftliche Psycho- logie nur feinere Sinnesphysiologie gewesen ist, während die komplizierte- ren seelischen Erlebnisse das unbestrittene Gebiet der Belletristik waren? Und war es nicht Freud, der durch die Schaffung einer Trieblehre, der Anfän- ge einer Ich-psychologie, durch die Konstruktion eines brauchbaren meta- psychologischen Schemas die Psychologie erst auf das Niveau einer Wis- senschaft hob? Es genügt diese bei weitem nicht vollständige Aufzählung, um es auch dem größten Skeptiker glaubhaft zu machen, daß nicht nur seine Schü- ler und seine Berufsgenossen, sondern die ganze Gelehrtenwelt allen Grund hat, sich darüber zu freuen, daß der Meister dieses Alter in voller Schaffens- kraft erreicht hat, und zu wünschen, daß ihm noch viel Zeit zur Fortführung seines großen Werkes gegönnt sein möge. »Also doch nur Lobeserhebungen,« werden sich viele denken, »und wo bleibt die versprochene Aufrichtigkeit, die auch von den Schwierigkeiten und Kämpfen zwischen dem Meister und seinen Schülern etwas erzählt?« Auch hierüber soll ich also einige Worte sagen, obzwar es mir unbehaglich ist, mich gleichsam als Kronzeugen dieser nicht uninteressanten, aber für die Beteiligten recht peinlichen Ereignisse vorzudrängen. So sei es denn gesagt, daß es fast keinem von uns erspart geblieben ist, gelegentlich Winke und Mahnungen des Meisters zu hören, die manchmal prächtige Illusionen zer- rissen und im ersten Augenblick Gefühle der Verletzung und der Benachteili- gung aufkommen ließen. Doch muß ich bezeugen, daß Freud uns oft sehr lange gewähren, der individuellen Eigenart viel Spielraum offen läßt, bis er sich entschließt, mäßigend einzugreifen oder gar von den ihm zu Gebote stehenden Abwehrmitteln Gebrauch zu machen - das letztere nur, wenn er zur Überzeugung kommt, daß durch ein Nachgeben die Sache, ihm wichtiger als alles, gefährdet werden könnte. Da allerdings kennt er keine Kompromisse und opfert, wenn auch schweren Herzens, liebgewonnene persönliche Be- ziehungen und Zukunftshoffnungen. Da wird er hart gegen sich wie gegen
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 39 andere. Wohlwollend betrachtete er die Sonderentwicklung eines seiner be- gabtesten Schüler, bis er mit dem Anspruch auftrat, mit dem elan vital alles verstanden zu haben. Auch ich kam vor vielen Jahren einmal mit der Entdek- kung, der Todestrieb könne alles erklären. Das Zutrauen zu Freud ließ mich vor seinem ablehnenden Urteil mich beugen - bis eines Tages das Jenseits des Lustprinzips erschien, in dem Freud mit dem Wechselspiel des Todes und Lebenstriebes der Vielfältigkeit der psychologischen und biologischen Tatsachen um so viel mehr gerecht wurde, als es jene Einseitigkeiten ver- mochten. Die Idee der »Organminderwertigkeit« interessierte ihn als vielver- sprechender Anfang zur somatischen Fundierung der Psychoanalyse. Jahre- lang nahm er dafür die etwas eigenartige Denkweise ihres Autors mit in Kauf; doch als es ihm klar wurde, daß jener die Psychoanalyse nur als Sprungbrett zu einer teleologischen Philosophie benützt, löste er die Gemeinschaft der Arbeit. Sogar den wissenschaftlichen Bocksprüngen eines seiner Schüler sah er lange zu, da er seinen Spürsinn für Sexualsymbolik schätzte. Die große Mehrzahl seiner Schüler aber hat die unvermeidlichen Empfindlichkeiten überwunden und ist überzeugt, daß die Psychoanalyse Freuds allen berech- tigten Sonderbestrebungen früher oder später die ihnen zukommende Be- deutung einräumt. Unsere zünftige Abgeschlossenheit darf nicht so weit gehen, daß wir an diesem Tage nicht auch der Gefühle jener gedenken, die Freud persönlich nahestehen, vor allem seiner Familie, in der Freud nicht als mythische Ge- stalt, sondern als Mensch lebt und wirkt, und die für seine uns allen so teure Gesundheit Sorge trägt, der wir für diese Sorgfalt so viel Dank schulden. Doch auch der weite Kreis der in seinem Sinne behandelten Kranken, die durch ihn die Kraft zum Leben wiederfanden, wird an seinem Festtage mit uns feiern, nicht minder aber jener noch weitere Kreis von gesund Leiden- den, denen er durch seine Erkenntnisse viel sinnlos getragene Lebenslast abnahm. Die Psychoanalyse wirkt letzten Endes durch Vertiefung und Erweite- rung der Erkenntnis; die Erkenntnis aber (dies versuche ich gerade in einer auf den folgenden Blättern veröffentlichten Arbeit nachzuweisen) läßt sich nur durch Liebe erweitern und vertiefen. Und wäre es nur, weil es Freud gelungen ist, uns zum Ertragen von mehr Wahrheit zu erziehen, kann er ver- sichert sein, daß seiner am heutigen Tage ein großer und nicht wertloser Teil der Menschheit in Liebe gedenkt. Aus: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 12(1926), S. 235-240.
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Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 41 Der 75. Geburtstag
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 42 Freud 1931
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 43 Sigmund Freuds 75. Geburtstag in der Presse Am 6. Mai dieses Jahres vollendete Sigmund Freud sein 75. Lebensjahr. Sein Wunsch, daß Ehrungen und Veranstaltungen aus diesem Anlaß unterblei- ben sollen, vermochte manches, nicht alles zu verhindern. Für seine nächste Umgebung, seine Schüler war aber die Beachtung jenes Wunsches jeden- falls eine Pflicht. Die Internationale Psychoanalytische Vereinigung und fast alle ihr angeschlossenen Landesgruppen haben von der Veranstaltung öffent- licher Freud-Feiern abgesehen, und die psychoanalytischen Zeitschriften haben es unterlassen, Festschriften zu veröffentlichen. Diese Zeitschrift kann sich allerdings ihrer Verpflichtung, das »Echo der Psychoanalyse« zu regi- strieren, nicht entziehen und soll daher kurz berichten über die Äußerungen und Veranstaltungen, die anläßlich des 75. Geburtstages von Sigm. Freud in der Öffentlichkeit vorgefallen sind, und zwar in der Hauptsache außerhalb der psychoanalytischen Organisationen und eigentlich ohne Mitwirkung ihrer Angehörigen vorgefallen sind. Es muß auch nicht gesagt werden, daß einer solchen Übersicht der Anspruch auf Vollständigkeit versagt werden muß. Weder ist uns alles zur Kenntnis gelangt, was zum 6. Mai 1931 in der Öffentlichkeit gesprochen und geschrieben worden ist, noch vermag es un- sere Absicht zu sein, aus den uns bekannt gewordenen Äußerungen mehr als eine Auswahl zu referieren. Wir beginnen mit Wien und nennen zuerst die Festsitzung, die der »Akademische Verein für medizinische Psychologie« im großen Saale der »Gesellschaft der Ärzte« abhielt. Daß gerade diese Gesellschaft, die übri- gens Freud kurz vorher zum Ehrenmitglied gewählt hatte, ihren Saal zu die- sem Zweck zur Verfügung stellte, gab der Tagespresse zu manchen Glossen Anlaß, wobei auf die sarkastischen Stellen bei Freud hingewiesen wurde, in denen er die seinerzeitige zum Teil frostige, zum Teil höhnische Aufnahme der psychoanalytischen Entdeckungen durch die »Gesellschaft der Ärzte« schilderte. Die »Gesellschaft der Ärzte« ließ sich an dieser Festsitzung durch die Professoren Eiselsberg und Wagner-Jauregg vertreten. Die beiden Fest- reden hielten die Professoren Pötzl und Gomperz. Prof. Pötzl würdigte die Bedeutung der Psychoanalyse für die klinische Psychiatrie und versuchte zu erklären, warum die Wiener »Schulpsychiatrie« sich der Psychoanalyse nur allmählich und eigentlich recht spät zuwenden konnte. Prof. Heinrich Gomperz schilderte in einem formvollendeten Vortrag, was jede der einzelnen Geistes- wissenschaften (die Psychologie, die Pädagogik, die Kunstwissenschaft, die Religionswissenschaft, die Soziologie usw.) Sigmund Freud zu verdan- ken hat, und zwar nicht nur zufolge der unmittelbaren Beiträge Freuds und seiner Schule zu diesen Disziplinen, sondern durch die Neubefruchtung aller Geisteswissenschaften von Grund aus.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 44 Ein Teil der Wiener Tagespresse hat es nicht versäumt, am 6. Mai auf die Persönlichkeit Freuds und die Bedeutung seines Werkes hinzuweisen. Vor allem sei die »Wiener Allgemeine Zeitung« angeführt, die zweieinhalb Seiten dem 75. Geburtstag Freuds widmete. Der Leitartikel (von Paul Deutsch) schließt mit den Sätzen: »Sigmund Freud teilt das Schicksal aller großen Revolutionäre der Geistigkeit. Gegen ihn arbeitet das seelische und gedank- liche Trägheitsgesetz solange, bis jener Spannpunkt erreicht ist, an dem der Traditionalismus in Stücke zerreißt. Weit davon entfernt sind wir heute auch in Österreich nicht mehr. Wenn heute die Gesellschaft der Ärzte, in der Freud einst so grausam verhöhnt wurde, ihn auf den Würdestuhl eines Ehrenmit- gliedes erhebt; wenn die offiziellen Ehrenträger der Wissenschaft ihm Lor- beerkränze winden und, wie Wagner-Jauregg sehr fein bemerkt, sich als allergetreueste Opposition bekennen, dann wird die Wendung deutlich spür- bar. Die Befestigung des strengen Determinismus, von Spinoza ererbt, von der modernen Naturwissenschaft als Grundprinzip anerkannt; der begeister- te und begeisternde Antikonfessionalismus; die Sprengung der Barbaren- ketten des blinden Glaubens und der blöden Verantwortlichkeit das alles sind Errungenschaften, die die Menschheit um ein Stück über sich hinaus- wachsen lassen, und die wir diesem einzigen Manne verdanken. Wenn wir geistigen Österreicher sein Altersjubiläum am heutigen Tage feiern, dann tragen wir zu seiner Ehre nicht viel bei, wohl aber sehr viel zur Ehre unseres Landes.« Dem Leitartikel schließt sich die Wiedergabe eines Abschnittes aus Freuds Geschichte der psychoanalytischen Bewegung an. Es folgen dann zwei Zuschriften von Prof. Wagner-Jauregg und Prof. Karl Bühler. Prof. Wag- ner-Jauregg verteidigt die Schulpsychiatrie gegen den Vorwurf, sie habe die Psychoanalyse verkannt. Der Kern der Freudschen Errungenschaften sei anerkannt worden. »Der Kampf ging nur um den Umfang, in dem sie Geltung beanspruchten. Solch eine ›allergetreueste‹ Opposition ist nicht von Scha- den.« Prof. Bühler zieht eine Parallele zwischen Schopenhauer und Freud. In einem Punkte seien die beiden Denker sehr verschieden. Muten uns die späten Schriften des Einsiedlers in Frankfurt an, wie das Produkt eines Aus- ruhenden, einer gesättigten Muse, so wächst im Gegenteil die innere Span- nung, das Ringen mit neuen Problemen im Schaffen Freuds. Wer weiß, welch neue Überraschungen die nächste Schrift des nun 75jährigen den ihm Fer- ner- und den ihm Nahestehenden bringen wird? Es ist eine volle Bewunde- rung vor der rücksichtslosen Selbstkritik und dem ungebrochenen Fortschrittswillen im Werke Freuds in dem Glückwunsch enthalten, den ich ihm heute als einer seiner Kritiker darbringe.«
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 45 Des Ferneren veröffentlichte die »Wiener Allgemeine Zeitung« einen Aufsatz von Dr. Hitschmann, »Was ist Psychoanalyse?«, und einen von Dr. Friedjung, »Freud und das Kind«, ferner einen Artikel über Freud und die Gesellschaft der Ärzte, Reproduktionen von Freud-Bildnissen und Freud- Karikaturen und eine Abbildung der 11-bändigen Freud-Gesamtausgabe. . .In der »Arbeiter-Zeitung« (6. Mai) spricht Paul Szende die Befürch- tung aus, daß einzelne Elemente in dem neuen Entwicklungsabschnitt der Freudschen Theorie (besonders Das Unbehagen in der Kultur) der Reak- tion es eines Tages ermöglichen werden, die Psychoanalyse ihren Zwecken nutzbar zu machen. Es stecke auch hinter den Grundbegriffen Freuds das »metaphysische Teufelchen«. Die Triebzweiteilung Freuds entspringe zwar der Erfahrung, entwickle sich aber letzten Endes zu einem Werturteil, denn Eros werde als gutes und Destruktion als schädliches Prinzip betrachtet. Das Schlagwort über die Wertlosigkeit der Kulturentwicklung und über die Nutz- losigkeit sozialer Reformen wird am häufigsten von der Kirche und von den gegenrevolutionären Richtungen benützt. Es ist daher höchstwahrschein- lich, daß sie sich einmal der psychoanalytischen Metaphysik bemächtigen werden. Die Kirche bekämpfte bisher die Psychoanalyse, weil diese die herr- schende Rolle der sexuellen Triebe als naturwissenschaftliche Tatsache gel- ten ließ. Wird aber das Sexualleben nicht mehr als erfahrungsmäßige Naturer- scheinung, sondern als ein Kampf zwischen .dunklen und mystischen Mäch- ten, zwischen dem moralischen Ich und dem unmoralischen Es, zwischen Eros und Destruktionstrieb angesehen, dann ist der Übergang zu der kirchli- chen Lehre leichter zu bewerkstelligen. Die fleischlichen Gelüste sind Einflüsterungen des Teufels, die göttliche Gnade befähigt aber die Men- schen, sie »zu verdrängen oder zu vergeistigen, sublimieren. Moderne Beicht- väter wenden seit langem uneingestanden psycho-analytische Methoden an; sie haben entdeckt, daß diese ihnen über die Seele der von unerfüllten sexuellen Regungen gepeinigten Frauen eine viel größere Macht verleihen als ihre bisherigen Methoden.« Ein Artikel von W. F. J. im Neuen Wiener Journal (6. Mai) geht vom Motto der Traumdeutung aus. Das »Acheronta movebo« gilt auch für den Widerhall, den Freud hervorgerufen hat. Der Widerstand gegen die Psycho- analyse biete selbst ein typisches Beispiel der Äußerungen der seelischen Unterwelt. Alfred Winterstein in der »Neuen Freien Presse« (6. Mai): »Etwas von der Luft um den Türmer Lynkeus aus Faust II lebt in der geistigen Atmo- sphäre der beiden letzten Werke, der Blick bohrt sich nicht mehr so tief und ausschließlich in die Schächte und Schichten der gestörten Einzelzelle, son- dern schweift aus Turmeshöhe, betrachtend und verknüpfend, in die Ferne
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 46 der Vergangenheit und der Zukunft. Freilich ist es kein Preis- und Freuden- lied, das dieser Türmer anstimmt ...« In einer besonderen Glosse beschäftigt sich die »Neue Freie Presse« mit Freud als Wiener. »Sigmund Freud, der heute seinen fünfundsiebzigsten. Geburtstag feiert, ist ein Wahlwiener. So wenig wienerische Züge seiner starken Persönlichkeit auch anhaften mögen. Kein Mann der Konzessionen und Kompromisse. Keiner, der einem faulen Frieden zuliebe mit sich und seinen Überzeugungen handeln ließe. Er hat es auch zeitlebens nicht über sich gebracht, den .Gemütlichen’ zu spielen, der Neugier der großen Menge, sei es um den kleinsten Schritt, entgegenzukommen. Und doch ist es diesem Kenner der Höhen und der Tiefen der menschlichen Seele gewiß kein Ge- heimnis geblieben, daß der Mensch im allgemeinen, der Wiener im besonde- ren, von den Helden, denen er Verehrung entgegenbringen soll, auf alle Fälle verlangt, daß sie sich ihm gelegentlich im Schlafrock und in Pantoffeln zeigen mögen. Dafür freilich ist Sigmund Freud niemals zu haben gewesen. Es ist gewiß mehr als ein bloßer Zufall, daß nie und nimmer von ihm eine billige Anekdote erzählt oder irgend ein harmloses Scherzwort zitiert wurde. Er selbst hat gelegentlich sein Verhältnis zu Wien und den Wienern mit der ihm eige- nen Unbefangenheit, die sich über alle Konsequenzen hinwegsetzt, gekenn- zeichnet und bei dieser Gelegenheit den Wallenstein zitiert. Er hat sich eben- falls nicht wenig darauf zugute getan, daß er die Wiener um manchen Spekta- kel betrogen hat. Darum mischte und mischt sich in die Bewunderung, die man diesem Propheten im Vaterland entgegenbrachte, zu allen Zeiten eine leise Scheu.« »Der Tag« (6. Mai) veröffentlicht einen Aufsatz von Dr. J., der beson- ders Freuds Bedeutung in der Medizin erörtert, und druckt ein Bruchstück aus dem in dieser Zeitschrift erschienenen Essay von Fritz Wittels über »Goe- the und Freud« ab. In einer Glosse am 8. Mai schreibt ferner dieselbe Zei- tung: »Nur eine Gratulation hat man wieder vermißt: die des offiziellen Öster- reich. Das Unterrichtsministerium, seit Jahr und Tag einer reaktionären Partei als Domäne ihrer unbeschränkten Machtentfaltung zugewiesen, hat noch immer nicht eingesehen, daß es den Ruf unseres Landes schädigt, indem es sich blind und taub stellt, wo es seine Aufgabe wäre, das Ansehen der Repu- blik würdig zu wahren. Die Bedeutung des Forschers und Arztes Sigmund Freud könnte natürlich weder durch einen Orden noch durch ein Handschrei- ben erhöht werden, aber es bleibt eine Schande für die zuständige Stelle und für das ganze Land, daß ein großer Österreicher in der ganzen Welt aner- kannt, verehrt und gepriesen wird, nur nicht in Österreich. Die Cliquen, die, aus lauter Mittelmäßigkeiten, aus Gschaftlhubern und Adabeis zusammen- gesetzt, sich Tag für Tag wichtig machen, können es nicht ertragen, daß ein
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 47 Mann, der nur deshalb Großes schaffen konnte, weil er nicht einer der Ihren ist, weltberühmt wurde ... Der Name Sigmund Freud wird genannt werden, wenn die paar Dutzendpolitiker, die jetzt mit großem Aplomb lächerliche Jubi- läen feiern, längst vergessen sind, ja, man wird die Bücher des außerordent- lichen Professors Sigmund Freud hoch in Ehren halten, wenn von manchem ordentlichen Professor nicht mehr die Rede ist. Sigmund Freud, der Vater der Psychoanalyse, kann sich leicht über die Takt- und Geschmacklosigkeit der österreichischen Behörden hinwegtrösten. Er ist wahrhaftig nicht darauf angewiesen, von irgend einem Funktionär angestrudelt zu werden, aber die Republik ist darauf angewiesen, die großen Österreicher für sich zu reklamie- ren. Diese patriotische Pflicht ist im Fall Freud gröblich vernachlässigt wor- den.« »Die Stunde« (7. Mai) erörtert den Wert des Phänomens Freud für Österreich: »Das bloße Vorhandensein eines so einmaligen Menschen wie Freud wirkt beinahe wie ein Gesundheitsattest eines Landes, das ihn mit Ehrerbietung seinen Sohn nennen darf. Eine geistige Landschaft, die einen Freud hervorgebracht hat, kann nicht dem Untergang geweiht sein. In dem tollen Ziffernkankan, der ununterbrochen an uns vorüberwirbelt, fehlen meist die entscheidenden Aktivposten, die Persönlichkeiten, deren Art nur in ei- nem bestimmten Kulturklima reifen kann. Man wende gegen diese Feststel- lung nicht die Gleichgültigkeit ein, mit der die offizielle Gelehrtenwelt Freud begegnet. Der geniale Mensch, der neue Durchbrüche durch das Gewesene bohren will, ist überall von den Türhütern der Tradition befehdet worden, nicht nur in Wien. Börne sagte einmal sehr treffend, daß sich jedes Volk nur durch Undank gegen den übergroßen Einfluß seiner Gehirnriesen wehren kann. Freuds Schönstes und Bitterstes ist die Unerbittlichkeit seines Den- kens, das auch im Greisenalter nichts von seinem ursprünglichen spezifi- schen Gewicht verlor ... Entblößten Hauptes stehen wir vor einem Großen unseres Landes, vor einem Genie, für das das Goethesche Wort gilt: nach außen grenzenlos, nach innen begrenzt. Neue Hoffnungen empfinden wir auch für unsere Heimat, die nicht zukunftslos sein kann, solange sie unsterb- liche menschliche Werte hervorbringt. Gegen zu wenig Kohle haben wir ei- nen wichtigen Trumpf: Professor Freud ...« »Neues Wiener Tagblatt« (6. Mai): »Wie sehr die Psychoanalyse ge- lehrt hat, den Menschen neu zu sehen, wird am deutlichsten in der schönen Literatur: Thomas Mann, Schnitzler, Hofmannsthal, Leonhard Frank, Alfred Döblin, Arnold und Stefan Zweig, Werfel und zahlreiche andre haben ihre Kunst der Psychologie wesentlich bei Freud geschult ... Wunderbar hero- isch mutet seine Lebensgeschichte an, sein Mut, Illusionen auf den Grund zu gehen, Erkenntnisse zu verkünden, auch wenn sie den Menschen unan-
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 48 genehm sind, und sich tausendfach Feindschaft zuzuziehen und alle Einsam- keit auf sich zu nehmen«. Die in Wien erscheinende anarchistische Wochenschrift »Erkenntnis und Befreiung« (Organ des herrschaftslosen Sozialismus) reklamiert Freud für sich: »Obschon Freud sich dem Problem der Erringung voller Freiheit nur andeutungsweise nähere dafür aber sei ihm zu seinem 75. Geburtstag auch von uns Anarchisten gedankt und er entsprechend geehrt: er hat, indem er das durch Autorität, Gewalt und Knechtschaft bisher gezeitigte Leid und Unglück analysierte, indirekt der Lebenslehre des Anarchismus wertvolle Beiträge und Begründungen zu dessen Verneinung aller Machtinstitutionen geliefert. Dafür danken wir dem Anarchisten Freud ...« Die österreichische Presse außerhalb Wiens hat auch diesmal von dieser »Wiener Angelegenheit« kaum Notiz genommen. Einzig das sozialde- mokratische »Linzer Tagblatt« hat sich in zwei Artikeln (8. und 17. Mai) ein- gehend mit Freud und seiner Lehre beschäftigt. Auf Einladung der »Ravag« hielt im Wiener Rundfunk Dr. Paul Federn einen Vortrag über die Bedeutung Freuds. Der Vortrag ist im Juliheft der »Zeit- schrift für psychoanalytische Pädagogik« abgedruckt worden. In Leipzig hielt die dortige Psychoanalytikerin Dr. Therese Benedek für den Mitteldeutschen Rundfunk eine Ansprache am 6. Mai. Anschließend an ihren Vortrag wurden einige Absätze aus dem »Unbehagen in der Kultur« vorgelesen. In Berlin sprach Prof. J. H. Schu1tz im Rundfunk über Freud. In Berlin hat vor allem die »Vossische Zeitung« in würdiger Form des 75. Geburtstages Freuds gedacht. Unter der Überschrift »Ritter zwischen Tod und Teufel« veröffentlichte sie einen Brief von Thomas Mann an die »Vossische Zeitung«. »Die aufrichtigste Bewunderung für den großen For- scher im Menschlichen und sein Wahrheitsrittertum«, schreibt der Dichter unter anderem, »gehört längst zu meinem inneren Bestande ... Er hat Illusio- nen zerstört, die Menschheit mit Erkenntnissen skandalisiert, deren radikaler Naturalismus ihre ›Würde‹ zu bedrohen schien, und Widerstände hervorge- rufen, deren Gründe ihm offen lagen ... Freuds Werk, dies persönlichkeits- geborene und weltverändernde Werk eines tiefen Vorstoßes ins Menschli- che von der Seite der Krankheit her, ist heute schon eingegangen ins Leben und in unser aller Bewußtsein.« (Der Beitrag von Thomas Mann wird zur Gänze abgedruckt im »Almanach der Psychoanalyse 1932«, der im Herbst erscheinen wird.) Die »Vossische Zeitung« veröffentlichte ferner ein Essay von Karl Scheffler über den »Analytiker der Kunst« (besonders über »Freuds Studien an Werken der Dichtung und der Kunst«) und einen längeren Aufsatz von
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 49 Siegfried Bernfeld über »Psychoanalyse und Erziehung«. (»Es spricht nicht gegen die Psychoanalyse, wenn das Urteil der Pädagogen über sie so wider- spruchsvoll ist. Daran trägt Schuld die Pädagogik selbst, die auf einer wert- freien Wissenschaft Psychologie nur gelegentlich und nur zum Teil aufbau- en kann. Die Psychoanalyse darf auf ihren wissenschaftlichen Grund- charakter nicht verzichten und muß sich daher mit geringerer Anwendbarkeit in der Pädagogik bescheiden, welche immer eng verwoben bleibt mit Wertun- gen und Zielen, eingeengt in einen gesellschaftlichen Rahmen, den sie von sich kaum kritisieren, gewiß nicht ändern kann ... Wenn die gesellschaftli- chen Umstände so kompliziert und widrig wurden, daß die Menschen nicht mehr so leicht in sie eingefügt werden können, wie einst die Südseeinsulaner in ihre Gesellschaft, wenn Schule, Haus, Erziehung, Unterricht nicht mehr ausreichen dann ergänzt sich der Beeinflussungsapparat der Gesellschaft die Erziehung durch ein neues Instrument, die Psychoanalyse, die nur ihrem Ursprung nach ein Zweig der Medizin, ihrem Wesen und ihrer Funktion nach aber ein Teil der heutigen Erziehung ist.«) »Berliner Tageblatt« (6. Mai): »In der Tat ist Freud hinausgewachsen aus seinem Spezialgebiet, der Medizin.« »Berliner Börsen-Courier« (5. Mai): »Für die seelenkundliche Wis- senschaft ist das Bleibende an den Errungenschaften Freuds nichts Fremdes und Isoliertes mehr.« »Berliner Börsen-Zeitung« (5. Mai): »Freuds Lehre ist auch heute noch eine These, die morgen durch eine Antithese widerlegt werden kann. Immerhin ist der Mut, mit dem Freud das Paradoxe ausgesprochen hat, die Sorgfalt, mit der er sein vielfältiges Netz von Zusammenhängen schuf, die Tatkraft, mit der er aus dem Nichts eine Armee neuer Gedanken vom Leben der menschlichen Seele stampfte, hoch anzuerkennen. Über den letzten Wert seiner Schöpfung, über das endgültige Schicksal seiner Lehre wird die Zu- kunft richten. Oder es wird vielleicht niemals gelingen, die von Freud so ersehnte Aufklärung zu erlangen, und von dem Ursinn der Ödipusgeschichte wird nur das Antlitz der Sphinx übrig bleiben: das Geheimnis.« (Hanns Herr- land.) »Berlin am Morgen« (5. Mai): »Die Psychoanalyse hat sich durchge- setzt. Aber die Psychoanalyse ist nur eine halbe Wahrheit. Ihre Trieblehre ist die Nutzanwendung des Materialismus in der Psychologie. Aber da der Mensch nicht im luftleeren Raum lebt, sondern auf einer bestimmten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung, so ist jede Erklärung falsch, die nicht auch diese Abhängigkeit des Menschen von der Gesellschaft berücksich- tigt. Die materialistische Psychologie ist nichts ohne materialistische Sozio- logie. Und hier versagt Freud vollkommen. Seine letzten Bücher, in denen er
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 50 über die Kulturprobleme der Gegenwart spricht, zeigen seine Befangenheit in den gesellschaftlichen Vorurteilen der herrschenden Klasse ... Dabei gibt es für die Psychoanalyse so paradox dies auch klingen, mag keine andere Zu- kunft als den Sozialismus. Denn in der bürgerlichen Gesellschaft können die Bedingungen der Erziehung gar nicht erfüllt werden, die notwendig wären, um das Entstehen von neurotischen Erkrankungen zu verhindern.« »Deutsche Allgemeine Zeitung« (6. Mai): »Er ist schon beinahe eine historische Figur. Unter den hervorragenden Ärzten seiner Epoche wahr- scheinlich der einzige, den Ewigkeitsluft umwittert ... Unbeirrt bleiben die tiefen Blicke und die finster-wehmütigen Weisheiten des seit langem leiden- den alten Mannes, der den Anlaß zu all dem gegeben hat. Freud war ein Mann der Notwendigkeit, der schuf, was er mußte und wozu es Zeit war. Es umweht ihn theokratische Luft, im Mittelalter wäre er Reformator oder Groß- inquisitor geworden. Heutzutage muß er Theokrat ohne Gott werden.« (Dr. Richard Wolf.) »Der Reichsbote« (13. Mai): »Freud, der alle seelischen Untergründe aus dem Erbgeschlechtlichen, Triebneigung, Drang nach Lustgewinn und verdrängten Gefühlskomplexen herausdeutet, ist nicht die Persönlichkeit, deren Wirken man in christlichen Kreisen mit ehrlicher Freude würdigen kann.« »Vorwärts« (6. Mai): »In diesem Semester, spät genug, finden an der Berliner Universität zum ersten Male Vorlesungen über Psychoanalyse statt. Aber auch die sozialistischen Bildungsstätten sollten nicht länger zurück- stehen. Ihnen erwächst hier eine lohnende Aufgabe. In Kursen und Vor- tragsreihen muß die Arbeiterschaft mit dieser lebensnahen Wissenschaft vertraut gemacht werden, die sich als wirksame Waffe im Lebenskampf und in der politischen Arena erweisen kann.« (Dr. Willy Blumenthal.) In der Weltbühne schreibt Kurt Tucholsky anläßlich des 75. Geburts- tages Freuds über die elfbändige Gesamtausgabe seiner Schriften: »Elf Bän- de, die die Welt erschütterten«. (Wir drucken den kleinen Aufsatz von Tu- cholsky im »Almanach der Psychoanalyse 1932«, der im Herbst erscheint, ab.) In den »Monistischen Monatsheften« feiert Ulrich Vollrath Freud als einen Freidenker im wahrsten Sinne des Wortes. »Freud gehört der Welt an, aber er ist im Verstande und im Herzen einer der Unseren, und er hat sich nicht, wie andere in der Vorsicht des Alters, gescheut, offen für seine freiden- kerische Überzeugung einzutreten.« In der sozialistischen Zeitschrift »Kulturwille« (Leipzig), schreibt Ri- chard Lehmann: »Freuds Forderung, die »Erziehung zur Realität – ohne das bittersüße Gift der Religion, ist auch die unsere; und der Altmeister, der immer auf der Seite jener zu finden war, die für Verständigung und Befriedung der
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 51 Welt eintreten, und der es für durchaus in der Ordnung findet, daß bisher alle Kulturen an ihrem Herrschaftsgefüge (wenige Nutznießer, unzählige Ausge- beutete) zugrunde gehen; dieser Freud ist einer der unseren. Auch in den Reihen der sozialistischen Theoretiker wächst die Einsichtnahme und Ver- wertung der Ergebnisse psychoanalytischer Forschung, trotz gelegentlicher Widerstände, die sich noch hie und da, zum Beispiel beim alten Kautsky, finden. Die Psychologie und Erziehungswissenschaft der Zukunft wird ihre wesentlichen Grundlagen bei Freud finden.« Die Frankfurter Wochenschrift »Die Umschau« veröffentlichte am 2. Mai auf ihrem Umschlag eine Reproduktion der Schmutzerschen Freud- Radierung und einen Leitaufsatz von Heinrich Meng. Er schließt mit den Worten: »Wenn das Werk eines Menschen so stark die Aufmerksamkeit der Wissenschaft und des Volkes auf sich zieht, wie das Werk Freuds, so ist das nur möglich, wenn hier ein Anstoß gegeben ist, Verhältnisse von grundle- gender Bedeutung zu klären. Freud war zuerst interessiert daran, das krank- hafte Seelenleben zu erforschen, entdeckt aber mit naturwissenschaftlichen Methoden und intuitiver Einfühlung eine neue Psychologie des kranken und gesunden Menschen. Er überschreitet die Grenzen, die ihm als Arzt gesetzt schienen, er schließt von den seelischen Leistungen menschlicher Gemein- schaften auf die der Völker. Er taucht tief in das Meer des Unbewußten, in dem alle Menschen mütterlich verwurzelt sind. Er zeigt die Erdgebundenheit aller Sehnsucht nach Vervollkommnung, Schönheit und Licht und gleichzei- tig die Quelle schöpferischer Kraft im Halbdunkel, Dunkel und in der Nacht, in Wildheit und Tierheit.« Der Dortmunder »Generalanzeiger« bringt am 3. Mai eine Reihe von Beiträgen über Freud, die mit folgender Gesamtüberschrift versehen sind: »Zum Geburtstage eines Mannes, dessen Lehren unseren Lebensstil beein- flußt und gewandelt haben, wie die Arbeiten keines anderen Menschen der Gegenwart«. Unter anderem veröffentlicht der »Generalanzeiger« eine »Nach- denkliche Gratulation« von Theodor Reik. (»Es entspricht sicherlich mehr der Tradition, einem Geburtstagkinde zu versichern, daß man ihm Zufrieden- heit, Glück und Erfolg wünscht. Wir aber, die wir nicht mehr an die Allmacht der Gedanken glauben, ziehen es vor, heute zu sagen, daß das Leben Freuds, welches die Mitte des achten Jahrzehnts erreicht hat, ein Segen war, sein Wirken für so viele Bewältigung und Beschwichtigung von Leid, für andere das Glück ungeahnter Klarheit bedeutete. In diesem Sinne wollen wir, statt die üblichen Glückwünsche herzuleiern, mit analytischer Aufrichtigkeit sa- gen: wir gratulieren uns herzlich zu Freuds 75. Geburtstag.«) Unter der Überschrift »Freud in allen Gassen« erteilt das Dortmunder Blatt ferner einem Kriminalisten, einem Graphologen, einem Filmregisseur
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 52 und einem Astrologen das Wort. Prof. Dr. Müller-Hess, Direktor des Instituts für gerichtliche Medizin in Berlin führt aus, man könne nicht verkennen, daß trotz der Kritik, die an Freuds Werk geübt wird, seine Gedankengänge, Be- griffe und Deutungen im Gerichtssaal bereits Eingang gefunden haben. Ro- bert Saudek (London) betont die Fruchtbarkeit der Psychoanalyse für die Graphologie. Walter Ruttmann schreibt u. a.: »Man darf ohne Übertreibung sagen: Freud ist der Vater der filmischen Überblendung, durch Freud wird die Über- blendung erst gerechtfertigt. Das Eindringen seiner psychologischen Erlebnislehre in den Film beweist weniger die Produktion bewußt ›nach Freud‹ gedrehter surrealistischer Streifen (wie z. B. des französischen chien andalou, in dem sich eine menschliche Achselhöhle in einen Haufen wimmelnder Amei- sen verwandelt), sondern nebensächliche stilistische Kleinigkeiten, die völ- lig organisch wirken und in nahezu jedem, auch dem künstlerisch wertlose- sten Film zu finden sind. Ohne sie würde ein moderner Film simpel, würdelos, geistleer wirken.. In der ,Melodie der Welt’ ist fast jede Reportage mit der nächsten durch irgend eine optische oder akustische Assoziations-Über- blendung verbunden .. . Ich sprach mit dem in Paris lebenden irischen Schrift- steller James Joyce, dessen merkwürdiges und erschütterndes Buch . Ulysses’ großes Aufsehen erregt hat. Es schildert den Alltag eines einfachen Bürgers, aber mit allen subtilen Regungen des Unterbewußtseins ein Buch, das ohne Berührung mit Freuds Gedankenwelt niemals konzipiert worden wäre. Wir unterhielten uns über die filmische Realisation eines solchen Stiles, die mir sehr am Herzen liegt. Denn ich glaube, daß der Tonfilm nur Daseinsberech- tigung hat, wenn das Bild die äußere Erscheinung, der Ton aber das .Unter- bewußte’ ausdrückt; nur dann kann plastische Wirkung entstehen, wenn Ton und Bild nicht das gleiche Motiv darstellen, sondern einen Vorgang kontrapunktlich von zwei Seiten her anpacken, der physischen und der psy- chischen. Diese Möglichkeit hat der Film Freud zu verdanken; es wäre unver- antwortlich, wollte man sie ungenutzt lassen.« Der Nervenarzt und Astrologe Dr. Heimsoth meint, »daß Psychoanalyse und Astrologie sich ergänzen können, ohne daß jemals die Psychoanalyse oder die Astrologie sich gegenseitig ausschalten, ersetzen oder gar überflüssig machen werden.« Von den Beiträgen des Dortmunder »Generalanzeiger« sei noch einer erwähnt. Die Schriftleitung hat, wie sie mitteilt, Prof. Freud um einen persön- lichen Beitrag gebeten. Sie erhielt darauf eine handschriftliche Karte Freuds folgenden Inhaltes:
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 53 Geehrte Schriftleitung, Ich bin kein Dichter und bin nicht versucht, die Öffentlichkeit für meine Privata zu interessieren. Hochachtend Freud Die Zeitung gibt nun diese Karte im Faksimile wieder und veröffentlicht dazu ein ausführliches graphologisches Gutachten über die Handschrift. Für das Gutachten zeichnet Dr. Herbert Frenzel, doch die Schriftleitung fügt hinzu, daß sich hinter dem Pseudonym ein Philosoph verbirgt, der Wert darauf legt, daß von seinen charakterologischen Arbeiten in Verbindung mit seinem ei- gentlichen Namen vorerst nicht gesprochen werde. Aus dieser Schriftanalyse zitieren wir einige Stellen: »Eine Verbindung von Geradheit und Kultiviertheit, die man nicht oft antrifft. Vornehmheit der Gesinnung spricht aus den im einzelnen klaren Typen aller Buchstaben und aus den herben Anfangs- schwüngen der Groß- und Langbuchstaben, deren Hochgerecktheit zudem nicht wenig Stolz verrät ... Innere Reserve ... Besondere Nähe zur Trieb- sphäre ... Eine seelisch-geistige Feinspürigkeit, wie sie nur aus der fast ab- standslosen Nähe zum Gegenstand oder einem sich immer wieder wiederho- lenden Hineintauchen in wirre, unbekannte, dunkle Tiefen sich ergibt ... Über- all geht Freud auf das Einzelne, auch seine Gedankengänge beruhen auf psychologischer Einzelkombination ... Kritisch aggressive Tendenzen. Die ersteren wirken sich aus in der Form einer schonungslosen Selbstanalyse und sind Zeugnis einer disharmonischen, überall wund sich fühlenden, un- ausgeglichenen Natur. Seine Analysen sind also keine interessanten Liebha- bereien, sondern entspringen einer inneren Tapferkeit, die gerade angesichts der zugrundeliegenden fast animalischen Weichheit bemerkenswert ist ... Empfindlichkeit und Schärfe in persönlichen Dingen.« Diese Analyse der Freudschen Persönlichkeit und die obengenannte »Nachdenkliche Gratulation« von Reik sind auch in der Königsberger »Hartungschen Zeitung« (6. Mai) abgedruckt. Im »Westfälischen Volksblatt«, Paderborn, im »Münsterischen An- zeiger« und in anderen katholischen Tageszeitungen versucht Dr. C. A. Roos, Halle a. S., die Psychoanalyse in eine Heilmethode und eine Weltanschau- ung zu zerlegen. Letztere wird abgelehnt, »da die weltanschaulichen Grund- lehren der Psychoanalyse sachlich in der längst widerlegten Lehre Schopen- hauers vom allmächtigen aber blinden Weltwillen wurzeln.« »Weser-Zeitung« (Bremen): »Tatsächlich ist die heutige Kunst, Lite- ratur, Publizistik, Völkerbund, Pädagogik und unsere Sexualmoral ganz ohne
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 54 Psychoanalyse kaum zu denken und auch die katholische Kirche beginnt durch einzelne geschulte Geistliche die Methoden der Psychoanalyse in ihr Gebäude einzufügen.« (Dr. Viktor Fendrich.) In den »Dresdener Neuesten Nachrichten« (5. Mai) und im »Darmstädter Tagblatt« (5. Mai) würdigt Dr. Georg Kaufmann den »Begründer der Psycho- analyse«. Ein Aufsatz von Prof. Dr. C. Fries (Berlin) im »Aachener Anzeiger« (6. Mai) schließt: »Er hat unendlichen Segen gestiftet und zahllose Seelenleiden geheilt.« In der »Leipziger Volkszeitung« (6. Mai) und in der »Breslauer Volks- wacht« (8. Mai) schreibt Richard Lehmann mit Hinweis auf Freuds zwei jüng- ste kulturpsychologische Schriften: »Wer bis dahin noch versuchen konnte, die Methoden und Befunde psychoanalytischer Forschungsarbeit im Dienst kleinbürgerlicher Ideologien zu verniedlichen und so zur Aufrechterhaltung des Burgfriedens zwischen den Klassen zu mißbrauchen, dem hatte hier der Altmeister selbst die Waffen aus der Hand geschlagen ... Statt im Alter ver- söhnlicher, kompromißlicher zu werden, wird Freud womöglich noch schär- fer, klarer, härter.« Als ein Mitstreiter Nietzsches wird Freud im »Hamburger Fremden- blatt« von Georg Meyer charakterisiert: »Das Lebenswerk Sigmund Freuds, des wohl genialsten Psychologen, dessen unsere Zeit sich rühmen kann, strahlt wenig wärmende Sonne aus. Und man erinnert sich bei einer sichten- den, ordnenden Überschau jenes merkwürdigen Hegel-Wortes: von der Eule der Minerva, die erst in der Dämmerung ihren Flug beginnt eine Gestalt des Lebens, so heißt es da, ist abgestorben, und mit Philosophie kann man sie nicht verjüngen, sondern nur erkennen. Das heißt, auf Freuds Leistung be- zogen: man mißversteht ihn gründlich, wenn man aus ihm einen Propheten macht. Sein Werk spiegelt die sich zersetzende abklingende Epoche in einer Schärfe und Oberbelichtung, wie das Werk kaum eines zweiten Mannes, wenigstens aus dem engeren Kreise der Gelehrten. Denn und das ist das Großartige an Freud : er verschmäht es, sich den Träumen hinzugeben und aus einer Stimmung heraus etwas auszusprechen, was seinem unbestechlich kritischen Verstand gegenüber sich nicht als gesicherte, unerschütterliche Tatsache auszuweisen vermag. Dieser auch sich selbst gegenüber unheim- lich mißtrauische Seelendetektiv liegt jeden Moment auf der Lauer, um Hoff- nungen und Sehnsüchte, die sich den Mantel der Echtheit oder Wissen- schaftlichkeit umgehängt haben, ohne Erbarmen als trügerischen Schein zu entlarven darin Nietzsche zu vergleichen, dessen (scheinbaren) Nihilismus er weitertreibt und mit den Mitteln exakter Methoden radikal zu Ende führt.«
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 55 Das »Prager Tagblatt« druckte am 6. Mai einen Teil des Essays ab, den Alfred Döblin anläßlich des 70. Geburtstages Freuds geschrieben hatte (siehe »Almanach der Psychoanalyse 1927«). In Olmütz (Mähren) veranstaltete die »Gesellschaft für zeitgenössi- sche Kultur« eine Freud-Feier im Deutschen Kasino. Die Festrede hielt Ober- sanitätsrat Dr. A. Kofranyi. (Ausführliche Berichte darüber in der »Deut- schen Zeitung«, Olmütz und im »Mährischen Tagblatt«). Im mährischen Städtchen Freiberg wurde beschlossen, Freuds Ge- burtshaus mit einer Gedenktafel zu versehen. Ein Bildhauer wurde mit der Modellierung- einer Porträtplakette betraut. Von Äußerungen in der jüdischen Presse seien erwähnt: »Jüdisch- Liberale Zeitung«, Berlin, 13. Mai (»Das Judentum dürfe auf diesen Mann stolz sein ... er habe aber viel Irrtümer und Übertreibungen im Gefolge ... habe über Religion leicht widerlegliche Ansichten entwickelt«). »Der jüdische Ar- beiter«, Wien, 18. Mai (»ein ihm geistesverwandter großer Jude der Gegen- wart, Karl Kraus« ... mißverstehe leider Freud. Für die Fruchtbarkeit des Freudschen Erklärungsprinzips ist das Werk Karl Kraus’ selbst ein großarti- ger Beweis«). »Ilustratiunea Evreasca«, Bukarest, 5. Juni (ein größerer Artikel von Doz. Dr. Radovici). Im »Tidevarvet« (Stockholm, 2. Mai) und in Göteborgs »Handels- och Sjöfartstidning« (5. Mai) würdigt Alfhild Tamm Freuds Bedeutung in größeren Aufsätzen. Von den norwegischen Pressestimmen führen wir ein Feuilleton von Sigurd Hoel in »Arbeiderbladet« (Oslo, 6. Mai) an. Aus Holland liegt uns ein eingehender Aufsatz von H. G. Cannegieter im »Haarlemsche Courant« (2. Mai) vor. Aus der Schweiz führen wir an einen Geburtstagartikel von Philipp Sarasin in den »Basler Nachrichten« (5. Mai) und zwei Artikel von Hans Zulliger in den Berner Zeitungen »Bund« und »Tagwacht« (beide am 6. Mai). In »L’Europe Nouvelle« (16. Mai) erörtert Marie Bonaparte die Be- deutung Freuds und seines Werkes für die Menschheit. In New York fand anläßlich des 75. Geburtstages Freuds ein Bankett im Ritz-Carlton-Hotel statt, über das wir nach New Yorker Zeitungen berich- ten. Zweihundert Personen nahmen am Dinner unter dem Vorsitze von Dr. W. A. White, Direktor der Staatsirrenanstalt in Washington und Professor an der Georgetown-Universität, teil. White verglich Freud in seiner Festrede mit Kopernikus, Newton und Pasteur. Es sei ein Glück, daß wir nicht im Mittelal- ter leben. Sonst hätte man Freud verbrannt. So mußte man gegen ihn mit anderen Mitteln kämpfen, die ihn nicht verhindern können, seine Entdeckun-
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 56 gen zu Ende zu führen. Dr. Alvin Johnson, der Leiter der »New School for Social Research«, hebt hervor, daß die Menschheit es Freud verdankt, daß sie sich erkennen und verstehen und danach richten kann. Clarence Darrow schildert in seiner Ansprache Freuds Bedeutung für die Strafjustiz, Rechts- anwalt Jerome Frank die für das Rechtsleben im Allgemeinen. Dr. A. A. Brill spricht über Freuds Bedeutung für die Psychiatrie (wobei er Freud mit Spino- za vergleicht). Mrs. Jessica Cosgrave, die Leiterin der Finch and Lennox Schulen, über die für die Erziehung. Weitere Ansprachen hielten Dr. B. Glück, Dr. Smith Ely Jelliffe, Dr. Fritz Wittels, Prof. Miles, Dr. Frankwood Williams und Prof. Jastrow. Der Dichter Theodor Dreiser, der verhindert war, an der Feier teilzunehmen, sandte ein Zuschrift, die von Brill vorgelesen wurde. (In deutscher Übersetzung wird dieser Brief Dreisers im »Almanach der Psycho- analyse 1932« abgedruckt werden.) Die auf dem New Yorker Bankett gehaltenen Reden von W. A. White, A. A. Brill, Jerome Frank und die Zuschrift von Dreiser sind im Juliheft der von White und Jelliffe herausgegebenen »Psychoanalytic Review« (Wa- shington) veröffentlicht. Die »Deutsche Medizinische Gesellschaft der Stadt New York« hielt am 4. Mai anläßlich des Geburtstages Freuds eine Sitzung ab, in der Dr. Dorian Feigenbaum unter dem Titel »Die Psychoanalyse und der praktische Arzt« einen mit viel Interesse und Beifall aufgenommenen Vortrag hielt. Aus: Die Psychoanalytische Bewegung 3(1931), S. 368-381.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 57 Stefan Zweig Bildnis Sigmund Freuds »Aufrichtigkeit ist die Quelle aller Genialität«. Boerne Die strenge Tür eines Wiener Miethauses verschließt seit einem halben Jahr- hundert Sigmund Freuds Privatleben: beinahe wäre man versucht zu sagen, er habe überhaupt keines gehabt, so bescheiden hintergründig verläuft sei- ne Existenz. Eine beinahe vollkommene Unsichtbarkeit der öffentlichen Er- scheinung, ein beinahe philiströs regelmäßiger Daseinsgang ohne scharfe Veränderungen und ohne Verwandlungen (die steilen Kurven liegen innen auf der geistigen Fläche), niemals eine Lebensäußerung, die Anlaß zum Auf- horchen oder zu einer Anekdote gibt. Siebzig Jahre in der gleichen Stadt, mehr als vierzig. Jahre im gleichen Hause. Dort wieder die Ordination im selben Räume, die Lektüre auf demselben Sessel, die literarische Arbeit vor demselben Schreibtisch. Pater familias von sechs Kindern, persönlich völlig bedürfnis- los, ohne andere Passionen als die des Berufs und der Berufung. Kein Gran seiner gleichzeitig sparsamen und verschwenderisch ausgewerteten Zeit je- mals vertan an ekle Repräsentation, an Ämter und Würden, niemals ein agi- tatorisches Vortreten des schöpferischen Menschen vor das geschaffene Werk: bei diesem Manne unterwirft sich der Lebensrhythmus völlig und einzig dem pausenlosen, gleichmäßig und geduldig strömenden Rhythmus der Arbeit. Jede Woche der tausend und abertausend seiner fünfundsiebzig Jahre umschreibt den gleichen runden Kreis geschlossener Tätigkeit, jeder Tag verläuft Zwillingshaft ähnlich dem ändern: in seiner akademischen Zeit einmal in der Woche Vorlesung in der Universität, immer einmal am Mittwoch abends nach sokratischer Methode ein geistiges Symposion in der Runde der Schüler, einmal am Samstag nachmittag eine Kartenpartie – sonst immer von morgens bis abends oder vielmehr bis spät in die Mitternacht, jede Minute bis zur letzten Sekunde ausgenützt für den fugenlos ineinanderpas- senden Ablauf von Analyse, Behandlung, Studium, Lektüre und gelehrter Gestaltung. Dieser unerbittliche Arbeitskalender kennt kein leeres Blatt, der weitgespannte Tag Freuds innerhalb eines halben Jahrhunderts keine ungei- stig verbrachte Stunde. Ständiges Tätigsein ist diesem immer motorischen Hirn so selbstverständlich, wie dem Herzen der blutumschaltende Schlag; Arbeit erscheint bei ihm nicht als willensunterworfenes Tun, sondern durch- aus als natürliche, als ständige und strömende Funktion. Eben aber diese Pausenlosigkeit der Wachheit und Wachsamkeit ist zugleich das Erstaun-
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 58 lichste seiner geistigen Erscheinung: hier wird Normalität zum Phänomen. Seit vierzig Jahren nimmt Freud täglich acht, neun, zehn, manchmal sogar elf Analysen vor, das will sagen: neun-, zehn-, elf mal konzentriert er je eine ganze Stunde lang sich mit äußerster, mit einer beinahe bebenden Spannung in einen Fremden hinein, behorcht und wägt jedes Wort, während gleichzei- tig sein nie versagendes Gedächtnis die Aussage dieser Psychoanalyse mit jener aller früheren Sitzungen vergleicht. Er lebt also ganz innen in dieser fremden Persönlichkeit, während er sie gleichzeitig von außen seelen- diagnostisch betrachtet. Und mit einem Ruck muß er sich sofort am Ende der Stunde aus diesem einen in einen ändern Menschen, den nächsten Patien- ten, umschalten und mit der gleichen Zusammengefaßtheit, und eine andere Schicht des Gedächtnisses aufschließend, auf einen gänzlich andersartigen Fall, achtmal, neunmal in einem Tag umstellen, hundert und aberhundert Schicksale also ohne Notizen und Erinnerungshilfen in sich gesondert be- wahrend und bis in die feinsten Verästelungen überschauend. Eine so stän- dig sich umschaltende Arbeitskontinuität erfordert eine geistige Wachheit, eine seelische Bereitschaft und Nervenspannung, der ein anderer nach zwei oder drei Stunden nicht mehr gewachsen wäre. Aber die erstaunliche Vitalität Freuds, diese seine Überkraft innerhalb der geistigen Kraft kennt kein Er- schlaffen und Ermüden. Ist spät abends die analytische Tätigkeit, der Neun- oder Zehnstundendienst am Menschen beendet, dann erst beginnt seine eigene schöpferische Arbeit, die denkerische Ausgestaltung der Resultate, jene Arbeit also, welche die Welt als seine einzige oder eigentliche vermeint. Und all diese riesenhafte, diese pausenlose, an tausenden Menschen prak- tisch wirkende und zu Millionen Menschen fortwirkende Leistung geschieht ein halbes Jahrhundert lang ohne Helfer, ohne Sekretär, ohne Assistenten; jeder Brief ist mit der eigenen Hand geschrieben, jede Untersuchung allein zu Ende geführt, jedes Werk allein zur Form gestaltet. Nur diese grandiose Kon- tinuität der schöpferischen Kraft verrät hinter der banalen Außenfläche sei- nes Daseins die wahrhafte Dämonie. Erst aus der Sphäre des Geschaffenen enthüllt sich dieses anscheinend normalen Lebens Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit. Ein solches nie versagendes, innerhalb von Jahrzehnten nie ausset- zendes und abweichendes Präzisionsinstrument der Arbeit ist nur denkbar bei vollendetstem stofflichen Material. Wie bei Händel, bei Rubens und Bal- zac, den gleichfalls strömend Schaffenden, stammt bei Freud das geistige Übermaß aus einem vollkommenen Gleichgewicht des Körpers, aus einer urgesunden Natur. Dieser große Arzt war bis zu seinem achtundsechzigsten Jahre niemals ernstlich krank, dieser feinste Beobachter des Nervenspiels niemals nervös, dieser hellsichtige Durchforscher aller Seelenabnormitäten,
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 59 dieser vielverschrieene Sexualist in allen seinen persönlichen Lebens- äußerungen ein Leben lang unheimlich einlinig und gesund. Auch sein psycho-physischer Habitus stellt wie seine Lebensform äußerlich einen Schulfall der Normalität dar, und nichts von den Krisen, Verstrickungen, Stau- ungen und Hemmungen der Menschenseele, die er so meisterlich geschil- dert und erklärt, hatte er je Gelegenheit an sich selber zu erlernen, denn von eigener Erfahrung her kennt dieser Körper nicht einmal die gewöhnlichsten, die alltäglichsten Störungen geistiger Arbeit, fast nie Kopfschmerzen und Müdigkeit. Jahrzehntelang hat Freud nie einen ärztlichen Kollegen zu Rate ziehen, nie eine einzige Stunde wegen Unpäßlichkeit absagen müssen – erst im patriarchalischen Alter versucht eine tückische Krankheit diese geradezu polykratische Gesundheit zu brechen. Aber vergebens. Sofort und völlig unvermindert setzt, mit kaum vernarbter Wunde, die alte Tatkraft wieder ein, Gesundsein ist für ihn identisch mit Atmen, Wachsein mit Arbeiten, Schaffen mit Leben. Und genau so intensiv und dicht wie seine Spannung bei Tag, so vollkommen ist bei diesem eisern gehämmerten Körper die Entspannung in der Nacht. Ein kurzer, aber fest in sich geschlossener Schlaf erneuert von Morgen zu Morgen diese großartig normale und gleichzeitig großartig über- normale Spannkraft des Geistes. Freud schläft sehr tief, wenn er schläft, und er ist unerhört wach in seinem Wachsein. Diesem völligen Ausgewogensein der innern Kräfte widerspricht auch nicht das äußerliche Wesenbild. Auch hier eine vollkommene Proportion in jedem Zuge, ein durchaus harmonischer Habitus. Nicht zu groß, nicht zu klein die Figur, nicht zu schwer, nicht zu locker der Körper: immer und überall zwischen Extremen geradezu vorbildliche Mitte. Jahre und Jahre verzweifeln vor sei- nem Antlitz alle Karikaturisten, denn nirgends finden sie in diesem völlig ebenmäßig ausgeformten Oval rechten Ansatz für die zeichnerische Über- treibung, eine scharf vorspringende und attakierbare Charakterlinie. Verge- bens legt man sich die Bilder seiner jüngeren Jahre nebeneinander, ihnen irgend einen prominenten Zug, etwas charakterologisch Wichtiges abzu- spähen. Aber die Züge des Dreißigjährigen, Vierzig- und Fünfzigjährigen sind so verschlossen wie sein äußeres Leben. Sie sagen nicht mehr als: ein schöner Mann, ein männlicher Mann, ein Herr mit regelmäßigen, beinahe allzuregelmäßigen Zügen. Wohl deutet das dunkle, gesammelte Auge den geistigen Menschen an, aber nicht viel mehr. Ratlos blickt man in die Photo- graphien hinein und findet immer eben nur eines jener von gepflegtem Bart umrahmten Arztantlitze idealisch männlicher Art, wie sie Lenbach und Makart zu malen liebten, dunkel, weich und ernst, aber im Letzten nicht aufschluß- reich. Auch vor seinem Antlitz steht ablehnend jene verschlossene Tür und schon meint man, von Photographie zu Photographie blätternd, jeden cha-
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 60 rakterologischen Versuch vor diesem in seine eigene Harmonie eingeschlos- senen Antlitz aufgeben zu müssen. Da beginnen plötzlich die letzten Bilder zu sprechen. Erst das Alter, das sonst bei den meisten Menschen die indivi- duellen Wesenszüge auflöst und zu grauem Lehm zerbröckelt, erst die patri- archalische Zeit setzt bei Freud den bildnerischen Meißel an. Erst die Krank- heit und Greisenjahre meißeln unwidersprechlich eine Physiognomie aus ei- nem bloßen Gesicht. Seit das Haar ergraut, der Bart nicht mehr so voll das harte Kinn und nicht mehr so tief den scharfen Mund verschattet, seit sein knochig plastischer Unterbau seines Antlitzes zutage tritt, enthüllt sich et- was Hartes, unbedingt Offensives; der unerbittlich und fast verbissen vor- dringende Wille seiner Natur. Und tiefer her, dringlicher, schraubender bohrt sich jetzt der früher bloß betrachtende Blick entgegen, eine bittere Mißtrauens- falte schneidet wie eine Wunde scharf die freigelegte und gefurchte Stirn hinab. Hart gespannt wie über einem »Nein« oder »Das ist nicht wahr« schlie- ßen sich die schmalen Lippen. Zum erstenmal spürt man die Vehemenz und die Strenge des freudischen Wesens in seinem Antlitz und spürt auch: nein, dies ist kein good grey old man, sanft und umgänglich geworden im Alter, sondern ein harter unerbittlicher Prüfer, der sich von nichts täuschen läßt und über nichts täuschen lassen will. Ein Mensch, vor dem man Furcht hätte zu lügen, weil er mit diesem argwohnumschatteten, gleichsam aus dem Dun- kel treffenden Pfeilschützenblick jede ausweichende Wendung verfolgt und jeden Schlupfwinkel im voraus sichtet, - ein bedrückendes Antlitz vielleicht mehr als ein befreiendes, aber prachtvoll belebt von erkennerischer Intensi- tät, Antlitz nicht eines bloßen Betrachters, sondern eines unbarmherzigen Durchdringers. Und so wie an geistiger Weitgespanntheit die düstern, des- illusionistischen aber welthaltigen Alterswerke den Einzelerkenntnissen sei- ner Jugend überlegen sind, so spricht auch das Antlitz des Siebzigjährigen charakterologisch den letzten Sinn seines Wesens, die freudische Unbe- dingtheit, plastischer aus als alle der Frühzeit. Aus: Almanach der Psychoanalyse 1931, S. 9-15.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 61 Theodore Dreiser Bemerkungen am 6. Mai Tischrede Th. Dreisers anläßlich des Festessens zu Ehren des 75. Geburts- tages von Prof. Sigm. Freud. In Abwesenheit des verhinderten Autors vorgelesen von Dr. A. A. Brill, New York, am 6. Mai 1931. Ich habe Freud als Kopernikus der Psychologie begrüßen hören. Also als eine Art von Gegenstück zu Darwin in der Welt revolutionärer Gedankenar- beit. Mir erscheint er eher als ein Napoleon oder Hannibal des Geistes, der mit der unerhört durchdringenden Schärfe und Strategie seines Verstandes alles vor sich hergefegt hat. Nie werde ich die erste Begegnung mit seinen »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, seinem »Totem und Tabu«, seiner »Traumdeutung« ver- gessen. Damals und auch heute noch wurde mir jeder Abschnitt zur Erleuch- tung - ein helles, klärendes Licht in den dunkelsten Fragen, die mich und mein Werk bedrängten und verstörten. Die Lektüre Freuds hat mir bei meinen Studien über Leben und Menschen geholfen. Ich sagte damals, und wieder- hole es heute, daß er mich an den Eroberer gemahnte, der eine Stadt erstürmt hat, der die uralten, grauen Gefängnisse dieser Stadt edelmütig öffnete und aus düsteren, verrosteten Kerkern die Gefangenen jener Formeln, Vorurteile und Irrmeinungen freiließ, die den Menschen hunderte und tausende von Jahren gequält und erschöpft haben. Ich denke heute noch so. Das Licht, das er dem Menschengeist gebracht hat! Die mächtige Hilfe gegen Trug und verblendetes Vorurteil! Ein ungeheures, ein herrliches Ereignis! Aber es befinden sich unter Ihnen so viele, die seine erstaunlichen Beiträge zum menschlichen Geistesleben aus intimer Kenntnis und in glän- zender Form zu würdigen vermögen mein Freund Dr. Brill zum Beispiel - daß ich lieber verstumme und lausche. Aber ich betrachte es als ein ehrenvolles Vorrecht, gleich vielen Andern hierher berufen zu sein, um auszusprechen, was ich Freuds unschätzbarem Werk zu danken habe. Auch, ihm Gesundheit, Kraft und eine glückliche Zukunft zu wünschen. Immense wisdom he has. Aus: Almanach 1931, S. 11-12.
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Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 63 Thomas Mann Ritter zwischen Tod und Teufel Ein Brief von Thomas Mann an die Redaktion der »Vossischen Zeitung« am 6. Mai 1931 Sie haben recht, einen Gruß und Glückwunsch an Sigmund Freud zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag von mir zu verlangen. Die aufrichtigste Be- wunderung für den großen Forscher im Menschlichen und sein Wahrheits- rittertum gehört längst zu meinem inneren Bestände. Ja, er hat viel von Dürers Ritter zwischen Tod und Teufel, auf den Nietzsche anzuspielen scheint, wenn er von einem anderen Verwandten Freuds, von Schopenhauer, sagt: »Ein Mann und Ritter mit erzenem Blick, der den Mut zu sich selber hat, der allein zu stehen weiß und nicht erst auf Vordermänner und höhere Winke wartet.« Er hat nie Rücksicht darauf genommen, daß der Mensch nur vernimmt, was ihm schmeichelt, hat nicht mit dem Frommen von der Tugend Lohn gespro- chen, mit Ixion von der Wolke, mit Königen vom Ansehen der Person und von Freiheit und Gleichheit mit dem Volke. Er hat Illusionen zerstört, die Menschheit mit Erkenntnissen skandalisiert, deren radikaler Naturalismus ihre »Würde« zu bedrohen schien, und Widerstände hervorgerufen, deren Gründe ihm offen lagen. Aber alle Kritik an seinem Werk – ich meine natürlich jene Kritik, die nicht über die Analyse hinaus, sondern hinter sie zurückwill – hat etwas unendlich Müßiges und Steriles, auch da noch, wo sie recht hat, und es ist schwer zu verstehen, daß diejenigen, die sich spottend und schel- tend damit abmühen, der Nutzlosigkeit ihres Tuns nicht inne werden. Freuds Werk, dies persönlichkeitsgeborene und weltverändernde Werk eines tiefen Vorstoßes ins Menschliche von der Seite der Krankheit her, ist heute schon eingegangen ins Leben und in unser aller Bewußtsein, und ich sagte gewiß nicht zuviel, als ich es, am Ende einer ausführlicheren essayisti- schen Ehrerweisung, einen der wichtigsten Bausteine nannte, die beigetra- gen worden sind zum Fundament der Zukunft der Wohnung einer freieren und wissenderen Menschheit. Ich bin froh, daß ich doch einmal, wenn auch zu spät, als daß noch irgendwelches Verdienst damit hätte verbunden sein können, ein solches Bekenntnis zu ihm abgelegt habe –, froh namentlich deshalb, weil es den großen alten Mann gefreut hat. Seine Erkenntlichkeit dafür, daß ich ihn »in den Zusammenhang des deutschen Geisteslebens eingereiht hätte«, ihn, »der für diese Nation ein Fremdkörper zu sein vermeinte«, hat mich tief ergrif- fen. Ich wäre sehr versucht, aus dem großartigen Briefe, den er mir damals schrieb, mehreres Charakteristische und Aufschlußreiche mitzuteilen, darf es aber nicht ohne seine Erlaubnis. Nur einen Satz noch daraus anzuführen, will
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 64 ich mir die Freiheit nehmen, weil doch den Lesern ein unbekanntes Wort Freuds willkommener sein muß, als jedes Wort über ihn: »Ich habe immer Dichter bewundert und – beneidet, besonders, wenn sie wie das Ideal meiner Jugend, Lessing, ihre Kunst dem Denken unterwarfen und sie in dessen Dienst stellten.« Aus: Almanach der Psychoanalyse 1932, S. 9-11
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 65 Kurt Tucholsky Elf Bände, die die Welt erschütterten Die Gesamtausgabe der Freudschen Schriften ist da. Elf Bände, die die Welt erschütterten. Einer der wenigen Männer, die diesen Mann richtig sehn, scheint Freud zu sein. Mit dem Lorbeergemüse seines Ruhmes kann er die faulen Äpfel seiner Tadler garnieren, und wenn er weise ist, sieht er die Schar seiner Schüler an und denkt sich sein Teil. Lassen wir die schlechten Schüler, halten wir uns an die guten und halten wir uns an ihn. Es ist das Schicksal der Wahrheiten, hat Schopenhauer gesagt, daß sie erst paradox erscheinen und dann trivial. An Freud ist das genau zu studieren. Die Gesamtausgabe seiner Schriften zeigt aber noch etwas ande- res. Langsam beginnt sich das Fleisch von diesem Werk zu lösen, das Zufällige, das Alltägliche - und es bleibt das Skelett. Wir können nicht sehen, was davon noch im Jahre 1995 erhalten sein wird, und ob überhaupt noch etwas erhalten sein wird, nämlich in der Form, die er ihm gegeben hat. Fort- wirken wird es, das kann man sagen. Er hat eine Tür aufgemacht, die bis dahin verschlossen war. Es gibt Partien in diesen elf Bänden, besonders in den ersten, die muten an wie ein spannender Kriminalroman. Wie da die Theorien langsam keimen und aus den platzenden Hüllen kriechen, wie sie sich scheu ans Licht wagen, ins Helle sehen und plötzlich sehr bestimmt und fest auftreten: nun sind sie da und leben und wirken. Die Darstellungskunst Freuds ist fast überall die gleiche: in den grundlegenden Schriften, in den kleinen Aufsät- zen, so in dem wunderschönen Gedächtnisartikel für Charcot – überall ist ein klarer, methodisch ordnender Geist am Werk? Das Modische an diesen Schrif- ten wird vergehen; die kindische Freude der Amerikaner und sonstiger puri- tanisch verbildeter Völker, nun einmal öffentlich über Sexualität sprechen zu können ... das hat mit Freud nicht viel zu tun. Bleiben wird der große Erneue- rer alter, verschütteter Wahrheiten – dieser Wahrheit: der Wille des Men- schen ist nicht frei. Das schön gedruckte und gut gebundene Werk ist im Internationalen Psychoanalytischen Verlag zu Wien erschienen. Es finden sich darin auch die jüngsten Schriften Freuds, auf die immer wieder hingewiesen werden muß, als letzte die »Zukunft einer Illusion«. Es fehlt noch das »Unbehagen in der Kultur«; ein zwölfter Band wird erscheinen. Die Grenzen Freuds werden in seinem Gesamtwerk erkenntlich. Er ist nicht der liebe Gott, doch hat er uns gelehrt, wie viel Krankheitsgeschichte in den gereizten Kritiken über ihn zu
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 66 finden ist. Für halbgebildete Katholiken sei gesagt: es ist die Bibel der Gott- losen. (Josef Wirth darf das falsch zitieren.) Man versteht die Welt nicht, wenn man diese Bände nicht kennt. Sigmund Freud wird am sechsten Mai fünfundsiebzig Jahre alt. Wir grüßen ihn voller Liebe und Respekt. Aus: Almanach der Psychoanalyse 1932, S. 13-14. Zuerst erschienen in: »Die Weltbühne«; Mai 1931 - anläßlich des 75. Ge- burtstags Freuds.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 67 Der 80. Geburtstag
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 68 Glückwunschadresse mit den Unterschriften von Virginia Woolf, Jules Romain, Romain Rolland, Thomas Mann, Stefan Zweig und H.G.. Wells
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 69 Glückwunschadresse zum 80. Geburtstag Sigmund Freuds Stefan Zweigs hatte folgendes Schreiben an namhafte Persönlichkeiten ge- richtet: »Das Comité für die Glückwunschadresse an Prof. Dr. Sigmund Freud zum 6. Mai 1936 legt Schriftstellern und Künstlern den Text des Glückwunsches vor. Es wird gebeten, im Fall der Zustimmung dem Comité eine Mitteilung zu machen. Der Glückwunsch wird – im Namen aller, die unterzeichnet haben – Prof. Freud zum 6. Mai 1936 vom Comité übersandt und auch zu diesem Tag der Presse übergeben. Die Angelegenheit soll vertraulich behandelt werden, damit Prof. Freud vor dem Geburtstag von der Ehrung nichts erfährt.« Die Glückwunschadresse selbst wurde von Thomas Mann verfaßt und hat folgenden Wortlaut: »Der 80. Geburtstag Sigmund Freuds sei uns willkommener Anlaß, um dem Initiator eines neuen und tieferen Wissens vorn Menschen unseren Glück- wunsch und unsere Ehrfurcht auszusprechen. In jeder Sphäre seines Wir- kens bedeutend, als Arzt und Psychologe, als Philosoph und Künstler, ist dieser mutige Erkenner und Heiler ein Wegweiser für zwei Generationen ge- wesen in bisher ungeahnte Welten der menschlichen Seele. Ein ganz auf sich selbst gestellter Geist, ein »Mann und Ritter mit erzenem Blick«, wie Nietz- sche von Schopenhauer sagt, ein Denker und Forscher, der allein zu stehen wußte und dann freilich viele an sich und mit sich zog, ist er seinen Weg gegangen und zu Wahrheiten vorgestoßen, die deshalb gefährlich erschie- nen, weil sie ängstlich Verdecktes enthüllen und Dunkelheiten erleuchteten. Allerorts legte er neue Probleme frei und änderte die alten Maße; er hat im Suchen und Finden den Raum der geistigen Forschung vervielfacht und auch seine Gegner sich verpflichtet durch den schöpferischen Denkantrieb, den sie von ihm erfuhren. Mögen künftige Zeiten dieses oder jenes Ergebnis seiner Forschung modeln und einschränken, nie mehr sind die Fragen, die Sigmund Freud der Menschheit gestellt hat, zum Schweigen zu bringen, sei- ne Erkenntnisse können nicht dauernd verneint oder getrübt werden. Die Begriffe, die er gestaltet, die Worte, die er für sie wählt, sind schon als selbst- verständlich eingegangen in die lebendige Sprache; auf allen bieten der Gei- steswissenschaft, in Literatur- und Kunstforschung, Religionsgeschichte und Prähistorie, Mythologie, Volkskunde und Pädagogik, nicht zuletzt in der Dichtung selbst, ist die tiefe Spur seines Wirkens zu sehen, und wenn eine Tat unseres Geschlechtes, so wird, wir sind dessen gewiß, seine Erkenntnis- tat der Seelenkunde unvergeßlich bleiben.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 70 Wir, die wir sein kühnes Lebenswerk aus unserer geistigen Welt nicht wegzu- denken vermögen, sind glücklich, diesen großen Unermüdlichen unter uns zu wissen und mit ungebrochener Kraft am Werke zu sehen. Möge unser dankbares Empfinden den verehrten Mann noch lange begleiten dürfen.« Die Glückwunschadresse haben unterzeichnet: Alf Ahlberg Erik Ahlmann Uno Åhren Alberto Albertini Manuel Altolaguira Jo van Ammers Küller Eva Andén Cäsar von Arx Ernst von Aster Raoul Auernheimer Claude Aveline Azorin (José Martinez Ruiz) Oskar Baum Edmund Philipp Beck Richard Beer-Hofmann Robert Berény Elisabeth Bergner Hugo Bieber Erik Blomberg Björn Bjoernson Henri Bonnet Svend Borberg Jacques Boulanger Karin Boye Menno ter Braak Charles Braibant Henry Noel Brailsford Bernard von Brentano Hermann Broch Max Brod Jakob Bührer Otto Buek Adolf Busch Fritz Busch Hermann Busch Américo Castro André Chamson Richard Coudenhove-Kalergi Salvador Dali E. Deleuran L. Denoël Bonamy Dobrée Alfred Döblin Slatan Dudow Edouard Dujardin Lenah Elgström Havelock Ellis Robert Faesi Guglielmo Ferrero Lion Feuchtwanger Ottokar Fischer Mihél Földi Emilia Fogelklou-Norlind
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 71 Bruno Frank Leonhard Frank Alexander Moritz Frey Milán Füst Eduard Fuchs Roger Martin du Gard David Garnett Oszkar Gellert André Gide Paul Gjesdahl Louis Golding Claire Goll Ivan Goll Oskar Maria Graf Yvette Guilbert A. Gyergay Charlotte Haldane Janos Hammerschlag Knut Hamsun Walter Hasenclever Konrad Heiden Max Herrmann-Neisse Wilhelm Herzog Hermann Hesse Kurt Hiller Kai Hoffmann Arthur Holitscher Josef Hora R. J. Humm Lord Allan of Hurtwood Aldous Huxley Hugo Ignotus Jo Jacobsen Heinrich Jacoby G.A. Jaederholm Edmond Jaloux Pierre Jean Jouve James Joyce Hanns H. Kamm Marta Karlweis-Wassermann Ludwig Kassar Karoly Kernstock Hermann Kesten Egon Erwin Kisch Konrad Karel Paul Klee Franz Körmendi Janusz Korezak Isidor Kosztolánji Helge Krog Rudolf Jeremias Kreutz Selma Lagerlöf John Landquist Frantisek Langer Wolfgang Langhoff Else Lasker-Schüler Emanuel Lessner Anna Lesznai L. Levy-Bruhl L. Levy-Dhurmer André Lhote Peter Lipman-Wulf Cécile Ines Loos
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 72 Rose Macaulay Miles Malleson Golo Mann Heinrich Mann, Klaus Mann Thomas Mann Sándor Márai Ludwig Marcuse Sven Markelius Frans Masereel Boh. Mathesius William Somerset Maugham André Maurois Walter Mehring Karin Michaëlis Jean-Richard Moch Edouard Monod-Herzen Frau Monod-Herzen Tamás Moly Paul Morand Robert Musil Gunnar Myrdal Lajos Nagy Hans Natonek Ebbe Neergard Oscar Némon Alfred Neumann Robert Neumann C.R.W. Nevinson Rudolf Olden Karl Olivecrona Arnulf Øverland Pál Pátzay Pablo Picasso Gustave Pittaluga Willliam Plomer Alfred Polgar Guy de Pourtalès Llewelyn Powys Léon Pierre Quint Herbert Read Ludwig Renn Révész Béla Hans Richter Romain Rolland Jules Romains Jean Rostand Elisabeth Rotten Felix Salten René Schickele Leon Schiller Max Schiller Jean Schlumberger Georg Schmidt Erwin Schrödinger Herbert Schlesinger S. Carvallo Schülein J. W. Schülein Baron Ernest Seillière Sten Selander Ramón de la Serna Ramón Gomez de la Serna Rudolf Serkin, Nils Silfverskioeld
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 73 Ignazio Silone Frans Eemil Sillanpää Sacheverell Sitwell Zoltán Solmyó Fred Stauffer Frida Steenhoff Adrian Stephen Karin Stephen Géza Szilágyi Einar Tegen Elisabeth Thommen Ernst Toller Guillermo de Torre R.C. Trevelyan Jan Tschichold Karl Tschuppik Adrien Turel Emil Utitz Joseph Vágó Georges Vantongerloo für die Gruppe Abstraction/Creation (Pais) S. Vestdijk J. Moreno Villa Lydia Wahlström Bruno Walter Ernst Weiß G. P. Wells H. G. Wells Felix Weltsch Franz Werfel Paul Westheim Thornton Wilder Ludwig Winder Leonard Woolf Virgina Woolf Hermynia von Zur Mühlen Arnold Zweig Stefan Zweig Folgende Schriftsteller haben sich der Glückwunschadresse später ange- schlossen: Nils Antoni Tudor Arghesi József Attila Wystan Auden Beauchant Johannes R. Becher Edouard van Beinum Göb Bergsten Tristan Bernard Georg Bernhard Ernst Bieri Jacob Billstrom Edouard Bourdet Bertolt Brecht R. Bredius
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 74 Elise Menagé Challa Ed. Claparéde Le Corbusier L. Dinkin Sem Dresden Paul Dubi Luc Durtain Victor Eftimiu Hanns Eisler Julius Epstein Max Ernst B.J. van Eyk Gabriel Gaál Louis van Gasteren J. Geers Goldenholm E.J. Gumbel Willy Haak Lilly Heber Wolfgang Heinz Ferdinand Helman Alexandré Hérenger T. Hernando Nic Hoel Gunnar Holmgren Israel Holmgren Josué Jéhouda Hans A. Joachim Emerich Kádar Erwin Kalser Alfred Kantorowcz Wilhelm Keilhau T.M. Keynes Nell Knoop Lotte Koch Herman Kruyt Yrjö Kulovesi Guillaume Landré Raphael Lanes Ernst Leonard Rudolf Leonard Henri Lichtenberger Bertus van Lier Leopold Lindtberg F. London Salvador de Madariaga Erika Mann-Auden Hans Marchwitza René Maublanc George Richards Minot Karl Molter Sigurd Näsgaard Ada Nilsson Felix de Nobel J.Nicolas Joep Nicolas Suzanne Nicolas Willem van Otterloo
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 75 Erwin Parker Fritz Pauli Willem Pijper Heinz Pol Ola Raknes Liviu Rebreanu Gustav Regler Hubert Ripka Betsy Rijkens-Culp Anni Roland-Holst Andries Roodenburg Joseph Roth Hans Sahl Joh. Scharffenberg Fritz Schiff Carl Schioetz Harald Schjelderup Kristian Schjelderup Rob Schürch Schutzverband Deutscher Schrift steller (Paris) Anna Seghers Haakon Sethre J. Slauerhoff J.J. Slauerhoff Rosa Spier Georg Steenhoff Lucié Steffens Emil Stöhr Helene Stöcker Alma Sundqu Aron Tamasi J.J.Vosknil Viktor E.van Vriesland Louis Zimmermann Thomas Mann übergab die Glückwünschadresse am 8. Mai 1936 in Wien an Sigmund Freud. Am selben Tag hielt er seinen Festvortrag »Freud und die Zukunft« vor dem »Akademischen Verein für medizinische Psycholo- gie«. Abgedruckt nach den Dokumnenten im Freud Museum London.
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Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 77 Thomas Mann Freud und die Zukunft Festvortrag im Wiener Akademischen Verein für medizinische Psychologie zu Sigm. Freuds 80. Geburtstag Meine Damen und Herren! Was legitimiert einen Dichter, den Festredner zu Ehren eines großen For- schers zu machen? Oder, wenn er die Gewissensfrage auf andere abwälzen darf, die glaubten, ihm diese Rolle übertragen zu sollen: wie rechtfertigt es sich, daß eine gelehrte Gesellschaft, in unserem Fall eine akademische Verei- nigung für medizinische Psychologie, nicht einen ihres Zeichens, einen Mann der Wissenschaft bestellt, damit er den hohen Tag ihres Meisters im Worte begehe, sondern einen Dichter, das heißt also doch einen Menschengeist, der wesentlich nicht auf Wissen, Scheidung, Einsicht, Erkenntnis, sondern auf Spontaneität, Synthese, aufs naive Tun und Machen und Hervorbringen gestellt ist und so allenfalls zum Objekt förderlicher Erkenntnis werden kann, ohne seiner Natur und Bestimmung nach zu ihrem Subjekt zu taugen? Ge- schieht es vielleicht in der Erwägung, daß der Dichter als Künstler, und zwar als geistiger Künstler, zum Begehen geistiger Feste, zum Festefeiern über- haupt berufener, daß er von Natur ein festlicherer Mensch sei als der Erken- nende, der Wissenschaftler? Ich will dieser Meinung nicht widersprechen. Es ist wahr, der Dichter versteht sich auf Lebensfeste; er versteht sich sogar auf das Leben als Fest, womit ein Motiv zum erstenmal leise und vorläufig berührt wird, dem es bestimmt sein mag, in der geistigen Huldigungsmusik dieses Abends eine thematische Rolle zu spielen. Aber der festliche Sinn dieser Veranstaltung liegt nach der Absicht ihrer Veranstalter wohl eher in der Sache selbst, das heißt: in der solennen und neuartigen Begegnung von Objekt und Subjekt, des Gegenstandes der Erkenntnis mit dem Erkennenden, einer saturnalischen Umkehrung der Dinge, in welcher der Erkennende und Traumdeuter zum festlichen Objekt träumerischer Erkenntnis wird, und auch gegen diesen Gedanken habe ich nichts einzuwenden: schon darum nicht, weil auch in ihm bereits ein Motiv aufklingt, das eine bedeutende symphoni- sche Zukunft hat. Voller instrumentiert und verständlicher wird es wieder- kehren, denn ich müßte mich sehr täuschen oder gerade die Vereinigung von Subjekt und Objekt, ihr Ineinanderfließen, ihre Identität, die Einsicht in die geheimnisvolle Einheit von Welt und Ich, Schicksal und Charakter, Gesche- hen und Machen, in das Geheimnis also der Wirklichkeit als eines Werkes der Seele oder, sage ich, gerade dies wäre das A und O aller psychoanalytischen Initiation ...
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 78 Auf jeden Fall: Entschließt man sich, einen Dichter zum Lobredner eines genialen Forschers zu ernennen, so sagt das etwas aus über den einen wie den anderen; es ist kennzeichnend für beide. Ein besonderes Verhältnis des zu Feiernden zur Welt der Dichtung, der Literatur geht ebenso daraus hervor wie eine eigentümliche Beziehung des Dichters, des Schriftstellers zu der Erkenntnissphäre, als deren Schöpfer und Meister jener vor der Welt steht; und das wiederum Besondere und Merkwürdige bei diesem Wechsel- verhältnis, diesem Einandernahesein ist, daß es beiderseits lange Zeit ungewußt, im »Unbewußten« blieb: in jenem Bereich der Seele also, dessen Erkundung und Erhellung, dessen Eroberung für die Humanität die eigentlichste Sendung gerade dieses erkennenden Geistes ist. Die nahen Beziehungen zwischen Literatur und Psychoanalyse sind beiden Teilen seit längerem bewußt geworden. Das Festliche dieser Stunde aber liegt, wenig- stens in meinen Augen und für mein Gefühl, in der wohl zum ersten Male sich ereignenden öffentlichen Begegnung der beiden Sphären, in der Manifesta- tion jenes Bewußtseins, dem demonstrativen Bekenntnis zu ihm. Ich sagte, die Zusammenhänge, die tiefreichenden Sympathien seien beiden Teilen lange Zeit unbekannt geblieben. Und wirklich weiß man ja, daß der Geist, den zu ehren uns angelegen ist, Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse als Therapeutik und allgemeiner Forschungsmethode, den harten Weg seiner Erkenntnisse ganz allein, ganz selbständig, ganz nur als Arzt und Naturforscher gegangen ist, ohne der Trost- und Stärkungsmittel kundig zu sein, die die große Literatur für ihn bereit gehalten hätte. Er hat Nietzsche nicht gekannt, bei dem man überall Freudsche Einsichten blitzhaft vorweggenommen findet; nicht Novalis, dessen romantisch-biologische Träu- mereien und Eingebungen sich analytischen Ideen oft so erstaunlich annä- hern; nicht Kierkegaard, dessen christlicher Mut zum psychologisch Äußer- sten ihn tief und förderlich hätte ansprechen müssen; und gewiß auch Scho- penhauer nicht, den schwermütigen Symphoniker einer nach Umkehr und Erlösung trachtenden Triebphilosophie... Es mußte wohl so sein. Auf eigenste Hand, ohne die Kenntnis intuitiver Vorwegnahmen mußte er wohl seine Ein- sichten methodisch erobern: die Stoßkraft seiner Erkenntnis ist durch solche Gunstlosigkeit wahrscheinlich gesteigert worden, und überhaupt ist Einsam- keit von seinem ernsten Bilde nicht wegzudenken, jene Einsamkeit, von der Nietzsche spricht, wenn er in seinem hinreißenden Essay »Was bedeuten asketische Ideale?« Schopenhauer einen »wirklichen Philosophen« heißt, einen »wirklich auf sich gestellten Geist, einen Mann und Ritter mit erzenem Blick, der den Mut zu sich selber hat, der allein zu stehn weiß und nicht erst auf Vordermänner und höhere Winke wartet«. Im Bilde dieses »Mannes und Ritters«, eines Ritters zwischen Tod und Teufel, habe ich den Psychologen
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 79 des Unbewußten zu sehen mich gewöhnt, seit seine geistige Figur in meinen Gesichtskreis rückte. Es geschah spät; viel später, als man bei der Verwandtschaft des dichterisch-schriftstellerischen Impulses überhaupt und meiner Natur im besonderen mit dieser Wissenschaft hätte erwarten sollen. Zwei Tendenzen sind es vor allem, die diese Verwandtschaft ausmachen: Die Liebe zur Wahr- heit erstens, ein Wahrheitssinn, eine Empfindlichkeit und Empfänglichkeit für die Reize und Bitterkeiten der Wahrheit, welche sich hauptsächlich als psychologische Reizbarkeit und Klarsicht äußert, bis zu dem Grade, daß der Begriff der Wahrheit fast in dem der psychologischen Wahrnehmung und Erkenntnis aufgeht; und zweitens der Sinn für die Krankheit, eine gewisse durch Gesundheit ausgewogene Affinität zu ihr und das Erlebnis ihrer pro- duktiven Bedeutung. Was die Wahrheitsliebe betrifft, die leidend-moralistisch gestimmte Liebe zur Wahrheit als Psychologie, so stammt sie aus der hohen Schule Nietzsches, bei dem in der Tat das Zusammenfallen von Wahrheit und psy- chologischer Wahrheit, des Erkennenden mit dem Psychologen in die Augen springt: sein Wahrheitsstolz, sein Begriff selbst von Ehrlichkeit und intellek- tueller Reinlichkeit, sein Wissensmut und seine Wissensmelancholie, sein Selbstkennertum, Selbsthenkertum all dies ist psychologisch gemeint, hat psychologischen Charakter, und ich vergesse nie die erzieherische Bekräfti- gung und Vertiefung, die eigene Anlagen durch das Erlebnis von Nietzsches psychologischer Passion erfuhren. Das Wort »Erkenntnisekel« steht im »Tonio Kröger«. Es hat gut Nietzschesches Gepräge, und seine Jünglings- schwermut deutet auf das Hamlethafte in Nietzsches Natur, in der die eigene sich spiegelte, einer Natur, zum Wissen berufen, ohne eigentlich dazu gebo- ren zu sein. Es sind jugendliche Schmerzen und Traurigkeiten, von denen ich da spreche, und die von den reifenden Jahren ins Heiterere, Ruhigere über- führt worden sind. Aber die Neigung, Wahrheit und Wissen psychologisch zu verstehen, sie mit Psychologie gleichzusetzen, psychologischen Wahrheitswillen als den Willen zur Wahrheit überhaupt und Psychologie als Wahrheit im eigentlichsten und tapfersten Sinn des Wortes zu empfinden diese Neigung, die man wohl naturalistisch nennen und der Erziehung durch den literarischen Naturalismus zuschreiben muß, ist mir geblieben, und sie bildet eine Vorbedingung der Aufgeschlossenheit für die seelische Natur- wissenschaft, die den Namen »Psychoanalyse« trägt. Die zweite, sagte ich, ist der Sinn für die Krankheit, genauer: für die Krankheit als Erkenntnismittel; und auch ihn könnte man von Nietzsche her- leiten, der wohl wußte, was er seiner Krankheit verdankte, und auf jeder Seite zu lehren scheint, daß es kein tieferes Wissen ohne Krankheitserfahrung gibt
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 80 und alle höhere Gesundheit durch die Krankheit hindurchgegangen sein muß. Auch diesen Sinn also könnte man auf das Erlebnis Nietzsches zurück- führen, wenn er nicht mit dem Wesen des geistigen Menschen überhaupt und des dichterischen zumal, ja mit dem Wesen aller Menschheit und Mensch- lichkeit, von der der Dichter ja nur ein auf die Spitze getriebener Ausdruck ist, eng verschwistert wäre. »L’humanite« hat Victor Hugo gesagt, »s’affirme par l’infirmite« ein Wort, das die zarte Verfassung aller höheren Menschlichkeit und Kultur, ihre Kennerschaft auf dem Gebiet der Krankheit mit stolzer Offen- heit eingestellt. Der Mensch ist das »kranke Tier« genannt worden um der belastenden Spannungen und auszeichnenden Schwierigkeiten willen, die seine Stellung zwischen Natur und Geist, zwischen Tier und Engel ihm aufer- legt. Was Wunder, daß von der Seite der Krankheit her der Forschung die tiefsten Vorstöße ins Dunkel der menschlichen Natur gelungen sind, daß sich die Krankheit, nämlich die Neurose, als ein anthropologisches Erkenntnis- mittel ersten Ranges erwiesen hat? Der Dichter dürfte der letzte sein, sich darüber zu wundern. Es dürfte ihn eher erstaunen, daß er, bei so starker allgemeiner und persönlicher Disponiertheit, so spät der sympathischen Beziehungen seiner Existenz zur psychoanalytischen Forschung und dem Lebenswerke Freuds gewahr wur- de: zu einer Zeit erst, als es sich bei dieser Lehre längst nicht mehr bloß um eine anerkannte oder umstrittene Heilmethode handelte, als sie vielmehr dem bloß medizinischen Bezirk längst entwachsen und zu einer Weltbewegung geworden war, von der alle möglichen Gebiete des Geistes und der Wissen- schaft sich ergriffen zeigten: Literatur- und Kunstforschung, Religionsge- schichte und Prähistorie, Mythologie, Volkskunde, Pädagogik und was nicht alles, nämlich dank dem ausbauenden und anwendenden Eifer von Adepten, die um ihren psychiatrisch-medizinischen Kern diese Aura allgemeinerer Wirkungen gelegt hatten. Sogar wäre es zuviel gesagt, daß ich zur Psycho- analyse gekommen wäre: sie kam zu mir. Durch das freundliche Interesse, das sie durch einzelne ihrer Jünger und Vertreter immer wieder, vom »Kleinen Herrn Friedemann« bis zum »Tod in Venedig«, zum »Zauberberg« und zum Josephsroman, meiner Arbeit erwies, gab sie mir zu verstehen, daß ich etwas mit ihr zu tun hätte, auf meine Art gewissermaßen »vom Bau« sei, machte mir, wie es ihr denn wohl zukam, die latent vorhandenen, die »vorbewußten« Sympathien bewußt; und die Beschäftigung mit der analytischen Literatur ließ mich im Denk- und Sprachgewande naturwissenschaftlicher Exaktheit vieles Urvertraute aus meinem früheren geistigen Erleben wiedererkennen. Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, in diesem autobiographi- schen Stil ein wenig fortzufahren, und verargen Sie mir nicht, wenn ich, statt von Freud zu reden, scheinbar von mir rede! Über ihn zu sprechen, getraue
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 81 ich mich kaum. Was sollte ich über ihn der Welt Neues zu sagen hoffen können? Ich spreche zu seinen Ehren, auch und gerade, wenn ich von mir spreche und Ihnen erzähle, wie tief und eigentümlich vorbereitet ich durch entscheidende Bildungseindrücke meiner Jugend auf die von Freud kom- menden Erkenntnisse war. Mehr als einmal, in Erinnerungen und Geständnis- sen, habe ich von dem erschütternden, in merkwürdigster Mischung zu- gleich berauschenden und erziehlichen Erlebnis berichtet, das die Bekannt- schaft mit der Philosophie Arthur Schopenhauers dem Jüngling bedeutete, der ihm in seinem Roman von den Buddenbrooks ein Denkmal gesetzt hat. Der unerschrockene Wahrheitsmut, der die Sittlichkeit der analytischen Tie- fenpsychologie ausmacht, war mir in dem Pessimismus einer naturwissen- schaftlich bereits stark gewappneten Metaphysik zuerst entgegengetreten. Diese Metaphysik lehrte in dunkler Revolution gegen den Glauben von Jahr- tausenden den Primat des Triebes vor Geist und Vernunft, sie erkannte den Willen als Kern und Wesensgrund der Welt, des Menschen so gut wie aller übrigen Schöpfung, und den Intellekt als sekundär und akzidentell, als des Willens Diener und schwache Leuchte. Nicht aus antihumaner Bosheit tat sie das, die das schlechte Motiv geistfeindlicher Lehren von heute ist, son- dern aus der strengen Wahrheitsliebe eines Jahrhunderts, das den Idealis- mus aus Idealismus bekämpfte. Es war so wahrhaftig, dieses 19. Jahrhundert, daß es durch Ibsen sogar die Lüge, die »Lebenslüge«, als unentbehrlich anerkennen wollte, und man sieht wohl: es ist ein großer Unterschied, ob man aus schmerzlichem Pessimismus und bitterer Ironie, von Geistes wegen, die Lüge bejaht oder aus Haß auf den Geist und die Wahrheit. Dieser Unter- schied ist heute nicht jedermann deutlich. Der Psycholog des Unbewußten nun, Freud, ist ein echter Sohn des Jahrhunderts der Schopenhauer und Ibsen, aus dessen Mitte er entsprang. Wie nahe verwandt ist seine Revolution nach ihren Inhalten, aber auch nach ihrer moralischen Gesinnung der Schopen-hauerschen! Seine Entdeckung der ungeheueren Rolle, die das Unbewußte, das »Es« im Seelenleben des Menschen spielt, besaß und besitzt für die klassische Psychologie, der Be- wußtheit und Seelenleben ein und dasselbe ist, die gleiche Anstößigkeit, die Schopenhauers Willenslehre für alle philosophische Vernunft- und Geist- gläubigkeit besaß. Wahrhaftig, der frühe Liebhaber der »Welt als Wille und Vorstellung« ist bei sich zu Hause in der bewunderungswürdigen Abhand- lung, die zu Freuds Neuen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse gehört und »Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit« heißt. Da ist das Seelenreich des Unbewußten, das »Es« mit Worten beschrieben, die ebenso gut, so vehement und zugleich mit demselben Akzent intellektuellen und ärztlich kühlen Interesses Schopenhauer für sein finsteres Willensreich
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 82 hätte gebrauchen können. Das Gebiet des Es, sagt er, »ist der dunkle, unzu- gängliche Teil unserer Persönlichkeit; das wenige, was wir von ihm wissen, haben wir durch das Studium der Traumarbeit und der neurotischen Symptom- bildung erfahren«. Er schildert es als ein Chaos, einen Kessel brodelnder Erregungen. Das »Es«, meint er, sei sozusagen »am Ende gegen das Somati- sche offen und nehme da die Triebbedürfnisse in sich auf, die in ihm ihren psychischen Ausdruck finden unbekannt, in welchem Substrat. Von den Trie- ben her erfülle es sich mit Energie; aber es habe keine Organisation, bringe keinen Gesamtwillen auf, nur das Bestreben, den Triebbedürfnissen unter Einhaltung des Lustprinzips Befriedigung zu schaffen. Da gelten keine logi- schen Denkgesetze, vor allem nicht der Satz des Widerspruchs. Gegensätzli- che Regungen bestehen nebeneinander, ohne einander aufzuheben oder sich von einander abzuziehen, höchstens, daß sie unter dem herrschenden öko- nomischen Zwang zur Abfuhr der Energie zu Kompromißbildungen zusam- mentreten...« Sie sehen, meine Damen und Herren, das sind Zustände, die nach unserer zeitgeschichtlichen Erfahrung sehr wohl auf das Ich selbst, ein ganzes Massen-Ich, übergreifen können, nämlich dank einer moralischen Erkrankung, die durch die Anbetung des Unbewußten, die Verherrlichung seiner allein »lebenfördernden Dynamik«, die systematische Verherrlichung des Primitiven und Irrationellen erzeugt wird. Denn das Unbewußte, das Es, ist primitiv und irrational, es ist rein dynamisch. Wertungen kennt es nicht, kein Gut und Böse, keine Moral. Es kennt sogar nicht die Zeit, keinen zeitli- chen Ablauf, keine Veränderung des seelischen Vorgangs durch ihn. »Wunsch- regungen«, sagt Freud, »die das Es nie überschritten haben, aber auch Ein- drücke, die durch Verdrängung ins Es versenkt worden sind, sind virtuell unsterblich, verhalten sich nach Dezennien, als ob sie neu vorgefallen wä- ren. Als Vergangenheit erkannt, entwertet und ihrer Energiebesetzung be- raubt können sie erst werden, wenn sie durch die analytische Arbeit bewußt geworden sind.« Und darauf, fügt er hinzu, beruhe vornehmlich die Heilwir- kung der analytischen Behandlung. Wir verstehen danach, wie antipathisch die analytische Tiefenpsychologie einem Ich sein muß, das, berauscht von einer Religiosität des Unbewußten, selbst in den Zustand unterweltlicher Dynamik geraten ist. Es ist nur allzu klar, daß und warum ein solches Ich von Analyse nichts wissen will und der Name Freud vor ihm nicht genannt wer- den darf. Was nun das Ich selbst und überhaupt betrifft, so steht es fast rüh- rend, recht eigentlich besorgniserregend damit. Es ist ein kleiner, vorgescho- bener, erleuchteter und wachsamer Teil des »Es« – ungefähr wie Europa eine kleine, aufgeweckte Provinz des weiten Asien ist. Das Ich ist jener Teil des Es, »der durch die Nähe und den Einfluß der Außenwelt modifiziert wurde, zu
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 83 Reizaufnahme und Reizschutz eingerichtet, vergleichbar der Rindenschicht, mit der sich ein Klümpchen lebender Substanz umgibt«. Ein anschauliches biologisches Bild. Freud schreibt überhaupt eine höchst anschauliche Pro- sa, er ist ein Künstler des Gedankens wie Schopenhauer und wie er ein euro- päischer Schriftsteller. Die Beziehung zur Außenwelt ist nach ihm für das Ich entscheidend geworden, es hat die Aufgabe, sie beim Es zu vertreten zu dessen Heil! Denn ohne Rücksicht auf diese übergewaltige Außenmacht würde das Es in seinem blinden Streben nach Triebbefriedigung der Vernich- tung nicht entgehen. Das Ich beobachtet die Außenwelt, es erinnert sich, es versucht redlich, das objektiv Wirkliche von dem zu unterscheiden, was Zu- tat aus inneren Erregungsquellen ist. Es beherrscht im Auftrage des Es die Hebel der Motilität, der Aktion, hat aber zwischen Bedürfnis und Handlung den Aufschub der Denkarbeit eingeschaltet, während dessen es die Erfah- rung zu Rate zieht, und besitzt eine gewisse regulative Überlegenheit gegen- über dem im Unbewußten schrankenlos herrschenden Lustprinzip, das es durch das Realitätsprinzip korrigiert. Aber wie schwach ist es bei alldem! Eingeengt zwischen Unbewußtem, Außenwelt und dem was Freud das »Über- Ich« nennt, dem Gewissen, führt es ein ziemlich nervöses und geängstigtes Dasein. Mit seiner Eigen-Dynamik steht es nur matt. Seine Energien entlehnt es dem Es und muß im ganzen dessen Absichten durchführen. Es möchte sich wohl als den Reiter betrachten und das Unbewußte als das Pferd. Aber so manches Mal wird es vom Unbewußten geritten, und wir wollen nur lieber hinzufügen, was Freud aus rationaler Moralität hinzuzufügen unterläßt, daß es auf diese etwas illegitime Weise unter Umständen am weitesten kommt. Freuds Beschreibung aber des Es und Ich ist sie nicht aufs Haar die Beschreibung von Schopenhauers »Wille« und »Intellekt«, eine Überset- zung seiner Metaphysik ins Psychologische? Und wer nun ohnedies schon, nachdem er von Schopenhauer die metaphysischen Weihen empfangen, bei Nietzsche die schmerzlichen Reize der Psychologie gekostet hatte, wie hät- ten den nicht Gefühle der Vertrautheit und des Wiedererkennens erfüllen sollen, als er sich, von Ansässigen ermutigt, erstmals umsah im psychoana- lytischen Reich? Er machte auch die Erfahrung, daß die Bekanntschaft damit aufs stärkste und eigentümlichste zurückwirkt auf jene früheren Eindrücke, wenn man sie nach solcher Umschau erneuert. Wie anders, nachdem man bei Freud geweilt, wie anders liest man im Licht seiner Erkundungen eine Be- trachtung wieder wie Schopenhauers großen Aufsatz »Über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksal des Einzelnen«! Und hier, meine Damen und Herren, bin ich im Begriff, auf den innigsten und geheimsten Berührungs- punkt zwischen Freuds naturwissenschaftlicher und Schopenhauers philo- sophischer Welt hinzuweisen der genannte Essay, ein Wunder an Tiefsinn
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 84 und Scharfsinn, bildet diesen Berührungspunkt. Der geheimnisvolle Gedan- ke, den Schopenhauer darin entwickelte, ist, kurz gesagt, der, daß genau wie im Traume unser eigener Wille, ohne es zu ahnen, als unerbittlich-objektives Schicksal auftritt, alles darin aus uns selber kommt und jeder der heimliche Theaterdirektor seiner Träume ist, so auch in der Wirklichkeit, diesem großen Traum, den ein einziges Wesen, der Wille selbst, mit uns allen träumt, unsere Schicksale das Produkt unseres Innersten, unseres Willens sein möchten und wir also das, was uns zu geschehen scheint, eigentlich selbst veranstal- teten. Ich fasse sehr dürftig zusammen, meine Herrschaften, in Wahrheit sind das Ausführungen von stärkster Suggestivkraft und mächtiger Schwingen- breite. Nicht nur aber, daß die Traumpsychologie, die Schopenhauer zu Hilfe nimmt, ausgesprochen analytischen Charakter trägt sogar das sexuelle Ar- gument und Paradigma fehlt nicht; so ist der ganze Gedankenkomplex in dem Grade eine Vordeutung auf tiefenpsychologische Konzeptionen, in dem Gra- de eine philosophische Vorwegnahme davon, daß man erstaunt! Denn um zu wiederholen, was ich anfangs sagte: in dem Geheimnis der Einheit von Ich und Welt, Sein und Geschehen, in der Durchschauung des scheinbar Objek- tiven und Akzidentellen als Veranstaltung der Seele glaube ich den innersten Kern der analytischen Lehre zu erkennen. Es kommt mir da ein Satz in den Sinn, den ein kluger, aber etwas undankbarer Sprößling dieser Lehre, C. G. Jung, in seiner bedeutenden Einlei- tung zum Tibetanischen Totenbuch formuliert. Es ist so viel »unmittelbarer, auffallender, eindrücklicher und darum überzeugender«, sagt er, »zu sehen, wie es mir zustößt, als zu beobachten, wie ich es mache.« Ein kecker, ja toller Satz, der recht deutlich zeigt, mit welcher Gelassenheit heute in einer be- stimmten psychologischen Schule Dinge angeschaut werden, die noch Scho- penhauer als ungeheuere Zumutung und »exorbitantes« Gedankenwagnis empfand. Wäre dieser Satz, der das »Zustoßen« als ein »Machen« entlarvt, ohne Freud denkbar? Nie und nimmer! Er schuldet ihm alles. Beladen mit Voraussetzungen, ist er nicht zu verstehen und hätte gar nicht hingesetzt werden können ohne all das, was die Analyse über Versprechen und Ver- schreiben, das ganze Gebiet der Fehlleistungen, die Flucht in die Krankheit, den Selbstbestrafungstrieb, die Psychologie der Unglücksfälle, kurz über die Magie des Unbewußten ausgemacht und zutage gefördert hat. Ebensowe- nig aber wäre jener gedrängte Satz, einschließlich seiner psychologischen Voraussetzungen, möglich geworden ohne Schopenhauer und seine noch unexakte, aber traumkühne und wegbereitende Spekulation. Vielleicht ist dies der Augenblick, meine Damen und Herren, festlicherweise ein wenig gegen Freud zu polemisieren. Er achtet nämlich die Philosophie nicht sonderlich hoch. Der Exaktheitssinn des Naturwissenschaftlers gestattet ihm kaum, eine
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 85 Wissenschaft in ihr zu sehen. Er macht ihr zum Vorwurf, daß sie ein lückenlos zusammenhängendes Weltbild liefern zu können sich einrede, den Erkennt- niswert logischer Operationen überschätze, wohl gar an die Intuition als Wissensquelle glaube und geradezu animistischen Neigungen fröne, indem sie an Wortzauber und an die Beeinflussung der Wirklichkeit durch das Den- ken glaube. Aber wäre dies wirklich eine Selbstüberschätzung der Philoso- phie? Ist je die Welt durch etwas anderes geändert worden als durch den Gedanken und seinen magischen Träger, das Wort? Ich glaube, daß tatsäch- lich die Philosophie den Naturwissenschaften vor- und übergeordnet ist und daß alle Methodik und Exaktheit im Dienst ihres geistesgeschichtlichen Wil- lens steht. Zuletzt handelt es sich immer um das Quod erat demonstrandum. Die Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft ist ein moralisches Faktum oder sollte es sein. Geistig gesehen, ist sie wahrscheinlich das, was Freud eine Illusion nennt. Die Sache auf die Spitze zu stellen, könnte man sagen, die Wissenschaft habe nie eine Entdeckung gemacht, zu der sie nicht von der Philosophie autorisiert und angewiesen gewesen wäre. Dies nebenbei. Lassen Sie uns zweckmäßig noch einen Augenblick bei dem Gedanken Jungs verweilen, der mit Vorliebe und so auch in jener Vorrede analytische Ergebnisse zur Herstellung einer Verständigungsbrücke zwischen abendländischem Denken und östlicher Esoterik benutzt. Niemand hat so scharf wie er die Schopenhauer-Freudsche Erkenntnis formuliert, daß der Geber aller Gegebenheiten in uns selber wohnt eine Wahrheit, die trotz aller Evidenz in den größten sowohl wie in den kleinsten Dingen nie gewußt wird, wo es doch nur zu oft so nötig, ja unerläßlich wäre, »es zu wissen«. Eine große und opferreiche Umkehr, meinte er, sei wohl nötig, um zu sehen, »wie die Welt aus dem Wesen der Seele gegeben« wird; denn das animalische Wesen des Menschen sträube sich dagegen, sich als den Macher seiner Gegebenheiten zu empfinden. Es ist wahr, daß sich der Osten in der Überwin- dung des Animalischen von jeher stärker erwiesen hat als das Abendland, und wir brauchen uns daher nicht zu wundern, wenn wir hören, daß seiner Weisheit zufolge auch die Götter zu den »Gegebenheiten« gehören, die der Seele entstammen und mit ihr eins sind Schein und Licht der Menschenseele. Dies Wissen, das man nach dem Totenbuch dem Verstorbenen mit auf den Weg gibt, ist für den abendländischen Geist ein Paradoxon, das seiner Logik widerstreitet; denn diese unterscheidet zwischen Subjekt und Objekt und sträubt sich, dieses in jenes hineinzuverlegen oder aus ihm hervorgehen zu lassen. Zwar kannte die europäische Mystik solche Anwandlungen, und Angelus Silesius hat gesagt: »Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben; Werd’ ich zunicht, er muß vor Not den Geist aufgeben.«
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 86 Im ganzen aber wäre eine psychologische Auffassung Gottes, die Idee einer Gottheit, die nicht reine Gegebenheit, absolute Realität, sondern mit der See- le eins und an sie gebunden wäre, abendländischer Religiosität unerträglich, sie würde Gott dabei einbüßen. Und doch heißt Religiosität gerade Gebun- denheit, und in der Genesis ist von einem »Bunde« zwischen Gott und Mensch die Rede, dessen Psychologie ich in dem mythischen Roman »Jo- seph und seine Brüder« zu geben versucht habe. Ja, lassen Sie mich hier auf dieses mein eigen Werk zu sprechen kommen vielleicht hat es ein Recht, genannt zu werden in einer Stunde festlicher Begegnung zwischen dichten- der Literatur und der psycho-analytischen Sphäre. Merkwürdig genug und vielleicht nicht nur für mich, daß darin eben jene psychologische Theologie herrschend ist, die der Gelehrte der östlichen Eingeweihtheit zuschreibt: Die- ser Abram ist gewissermaßen Gottes Vater. Er hat ihn erschaut und hervor- gedacht; die mächtigen Eigenschaften, die er ihm zuschreibt, sind wohl Got- tes ursprüngliches Eigentum, Abram ist nicht ihr Erzeuger, aber in gewissem Sinn ist er es dennoch, da er sie erkennt und denkend verwirklicht. Gottes gewaltige Eigenschaften und damit Gott selbst sind zwar etwas sachlich Gegebenes außer Abram, zugleich aber sind sie auch in ihm und von ihm; die Macht seiner eigenen Seele ist in gewissen Augenblicken kaum von ihnen zu unterscheiden, verschränkt sich und verschmilzt erkennend in eins mit ih- nen, und das ist der Ursprung des Bundes, den der Herr dann mit Abram schließt und der nur die ausdrückliche Bestätigung einer inneren Tatsache ist. Er wird als im beiderseitigen Interesse geschlossen charakterisiert, dieser Bund, zum Endzwecke beiderseitiger Heiligung. Menschliche und göttliche Bedürftigkeit verschränken sich derart darin, daß kaum zu sagen ist, von welcher Seite, der göttlichen oder der menschlichen, die erste Anregung zu solchem Zusammenwirken ausgegangen sei. Auf jeden Fall aber spricht sich in seiner Errichtung aus, daß Gottes Heiligwerden und das des Menschen einen Doppelprozeß darstellen und auf das innigste aneinander »gebun- den« sind. Wozu, lautet die Frage, wohl sonst ein Bund? Die Seele als Geberin des Gegebenen ich weiß wohl, meine Damen und Herren, daß dieser Gedanke im Roman auf eine ironische Stufe getreten ist, die er weder als östliche Weisheit noch als analytische Einsicht kennt. Aber die unwillkürliche und erst nachträglich entdeckte Obereinstimmung hat etwas Erregendes. Muß ich sie Beeinflussung nennen? Sie ist eher Sym- pathie, eine gewisse geistige Nähe, die der Psychoanalyse, wie billig, früher bewußt war, als mir, und aus der eben jene literarischen Aufmerksamkeiten hervorgingen, die ich ihr von früh an zu danken hatte. Die letzte davon war die Übersendung eines Sonderdrucks/ aus der Zeitschrift »Imago«, die Ar- beit eines Wiener Gelehrten aus der Schule Freuds, betitelt »Zur Psychologie
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 87 älterer Biographik«, eine recht trockene Überschrift, in der sich die Merkwür- digkeiten kaum ankündigen, denen sie als Etikett dient. Der Verfasser zeigt da, wie die ältere, naive, von der Legende und vom Volkstümlichen her ge- speiste und bestimmte Lebensbeschreibung, namentlich die Künstler- biographie, feststehende, schematisch-typische Züge und Vorgänge, bio- graphisches Formelgut sozusagen konventioneller Art in die Geschichte ih- res Helden aufnimmt, gleichsam um sie sich dadurch legitimieren, sich als echt, als richtig ausweisen zu lassen als richtig im Sinne des »Wie es immer war« und »Wie es geschrieben steht«. Denn dem Menschen ist am Wieder- erkennen gelegen; er möchte das Alte im Neuen wiederfinden und das Typi- sche im Individuellen. Darauf beruht alle Traulichkeit des Lebens, welches als vollkommen neu, einmalig und individuell sich darstellend, ohne daß es die Möglichkeit böte, Altvertrautes darin wiederzufinden, nur erschrecken und verwirren könnte. Die Frage jener Schrift geht nun aber dahin, ob sich denn die Grenze zwischen dem, was Formelgut legendärer Biographik, und dem, was Lebenseigentum des Künstlers ist, zwischen dem Typischen und dem Individuellen also, scharf und unzweideutig ziehen lasse, eine Frage, verneint wie gestellt. Das Leben ist tatsächlich eine Mischung von formel- haften und individuellen Elementen, ein Ineinander, bei dem das Individuelle gleichsam nur über das Formelhaft-Unpersönliche hinausragt. Vieles Außer- persönliche, viel unbewußte Identifikation, viel Konventionell-Schematisches ist bestimmend für das Erleben nicht nur des Künstlers, sondern des Men- schen überhaupt. »Viele von uns«, sagt der Verfasser, »leben auch heute einen biographischen Typus, das Schicksal eines Standes, einer Klasse, ei- nes Berufes ... Die Freiheit in der Lebensgestaltung des Menschen ist offen- bar enge mit jener Bindung zu verknüpfen, die wir als »gelebte Vita bezeich- nen.« Und pünktlich, zu meiner Freude nur, kaum auch zu meiner Überra- schung, beginnt er, auf den Josephsroman zu exemplifizieren, dessen Grund- motiv geradezu diese Idee der gelebten »Vita« sei, das Leben als Nachfolge, als ein In-Spuren-Gehen, als Identifikation, wie besonders Josephs Lehrer Eliezer sie in humoristischer Feierlichkeit praktiziert: Denn durch Zeitauf- hebung rücken in ihm sämtliche Eliezers der Vergangenheit zum gegenwärti- gen Ich zusammen, so daß er von Eliezer, Abrahams ältestem Knecht, ob- gleich er realiter dieser bei weitem nicht ist, in der ersten Person spricht. Ich muß zugeben: Die Gedankenverbindung ist außerordentlich legi- tim. Der Aufsatz bezeichnet haargenau den Punkt, wo das psychologische Interesse ins mythische Interesse übergeht. Er macht deutlich, daß das Typi- sche auch schon das Mythische ist und daß man für gelebte »Vita« auch gelebter »Mythos« sagen kann. Der gelebte Mythos aber ist die epische Idee meines Romans, und ich sehe wohl, daß, seit ich als Erzähler den Schritt
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 88 vom Bürgerlich-Individuellen zum Mythisch-Typischen getan habe, mein heimliches Verhältnis zur analytischen Sphäre sozusagen in sein akutes Sta- dium getreten ist. Das mythische Interesse ist der Psychoanalyse genau so eingeboren, wie allem Dichtertum das psychologische Interesse eingeboren ist. Ihr Zurückdringen in die Kindheit der Einzelseele ist zugleich auch schon das Zurückdringen in die Kindheit des Menschen, ins Primitive und in die Mythik. Freud selbst hat bekannt, daß alle Naturwissenschaft, Medizin und Psychotherapie für ihn ein lebenslanger Um- und Rückweg gewesen sei zu der primären Leidenschaft seiner Jugend fürs Menschheitsgeschichtliche, für die Ursprünge von Religion und Sittlichkeit, diesem Interesse, das auf der Höhe seines Lebens in »Totem und Tabu« zu einem so großartigen Aus- bruch kommt. In der Wortverbindung »Tiefenpsychologie« hat »Tiefe« auch zeitlichen Sinn: Die Urgründe der Menschenseele sind zugleich auch Urzeit, jene Brunnentiefe der Zeiten, wo der Mythos zu Hause ist und die Urnormen, Urformen des Lebens gründet. Denn Mythos ist Lebensgründung; er ist das zeitlose Schema, die fromme Formel, in die das Leben eingeht, indem es aus dem Unbewußten seine Züge reproduziert. Kein Zweifel, die Gewinnung der mythisch-typischen Anschauungsweise macht Epoche im Leben des Erzäh- lers, sie bedeutet eine eigentümliche Erhöhung seiner künstlerischen Stim- mung, eine neue Heiterkeit des Erkennens und Gestaltens, welche späten Lebensjahren vorbehalten zu sein pflegt; denn im Leben der Menschheit stellt das Mythische zwar eine frühe und primitive Stufe dar, im Leben des einzelnen aber eine späte und reife. Was damit gewonnen wird, ist der Blick für die höhere Wahrheit, die sich im Wirklichen darstellt, das lächelnde Wis- sen vom Ewigen, Immerseienden, Gültigen, vom Schema, in dem und nach dem das vermeintlich ganz Individuelle lebt, nicht ahnend in dem naiven Dünkel seiner Erst- und Einmaligkeit, wie sehr sein Leben Formel und Wie- derholung, ein Wandeln in tief ausgetretenen Spuren ist. Der Charakter ist eine mythische Rolle, die in der Einfalt illusionärer Einmaligkeit und Origina- lität gespielt wird, gleichsam nach eigenster Erfindung und auf eigenste Hand, dabei aber mit einer Würde und Sicherheit, die dem gerade obenauf gekom- menen und im Lichte agierenden Spieler nicht seine vermeintliche Erst- und Einmaligkeit verleiht, sondern die er im Gegenteil aus dem tieferen Bewußt- sein schöpft, etwas Gegründet-Rechtmäßiges wieder vorzustellen und sich, ob nun gut oder böse, edel oder widerwärtig, jedenfalls in seiner Art muster- haft zu benehmen. Tatsächlich wüßte er sich, wenn seine Realität im Einma- lig-Gegenwärtigen läge, überhaupt nicht zu benehmen, wäre haltlos, ratlos, verlegen und verwirrt im Verhältnis zu sich selbst, wüßte nicht, mit welchem Fuße antreten und was für ein Gesicht machen. Seine Würde und Spiel- sicherheit aber liegt unbewußt gerade darin, daß etwas Zeitloses mit ihm
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 89 wieder am Lichte ist und Gegenwart wird; sie ist mythische Würde, welche auch dem elenden und nichtswürdigen Charakter noch zukommt, ist natürli- che Würde, weil sie dem Unbewußten entstammt. Dies ist der Blick, den der mythisch orientierte Erzähler auf die Er- scheinungen richtet, und Sie sehen wohl: es ist ein ironisch überlegener Blick; denn die mythische Erkenntnis hat hier ihren Ort nur im Anschauen- den, nicht auch im Angeschauten. Wie aber nun, wenn der mythische Aspekt sich subjektivierte, ins agierende Ich selber einginge und darin wach wäre, so daß es mit freudigem oder düsterem Stolze sich seiner »Wiederkehr«, seiner Typik bewußt wäre, seine Rolle auf Erden zelebrierte und seine Würde ausschließlich in dem Wissen fände, das Gegründete im Fleisch wieder vor- zustellen, es wieder zu verkörpern? Erst das, kann man sagen, wäre »gelebter Mythos«; und man glaube nicht, daß es etwas Neues und Unerprobtes ist: das Leben im Mythos, das Leben als weihevolle Wiederholung ist eine histo- rische Lebensform, die Antike hat so gelebt. Ein Beispiel ist die Gestalt der ägyptischen Kleopatra, die ganz und gar eine Ischtar-Astarte-Gestalt, Aphro- dite in Person ist, wie denn Bachofen in seiner Charakteristik des bacchi- schen Kultes, der dionysischen Kultur in der Königin das vollendete Bild einer dionysischen Stimula sieht, die, nach Plutarch, weit mehr noch durch erotische Geisteskultur als durch körperliche Reize das zu Aphrodites irdi- scher Verkörperung entwickelte Weib repräsentiert habe. Dieses ihr Aphroditentum, ihre Rolle als Hathor-Isis ist aber nicht nur etwas Kritisch- Objektives, das erst von Plutarch und Bachofen über sie ausgesprochen worden wäre, sondern es war der Inhalt ihrer subjektiven Existenz, sie lebte in dieser Rolle. Ihre Todesart deutet darauf hin: Sie soll sich ja getötet haben, indem sie sich eine Giftnatter an den Busen legte. Die Schlange aber war das Tier der Ischtar, der ägyptischen Isis, die auch wohl in einem schuppigen Schlangenkleid dargestellt wird, und man kennt eine Statuette der Ischtar, wie sie eine Schlange am Busen hält. War also Kleopatras Todesart diejenige der Legende, so wäre sie eine Demonstration ihres mythischen Ichgefühls gewesen. Trug sie nicht auch den Kopfputz der Isis, die Geierhaube, und schmückte sie sich nicht mit den Insignien der Hathor, den Kuhhörnern mit der Sonnenscheibe dazwischen? Es war eine bedeutende Anspielung, daß sie ihre Antonius-Kinder Helios und Selene nannte. Kein Zweifel, sie war eine bedeutende Frau im antiken Sinn »bedeutend«, die wußte, wer sie war und in welchen Fußstapfen sie ging! Das antike Ich und sein Bewußtsein von sich war ein anderes als das unsere, weniger ausschließlich, weniger scharf umgrenzt. Es stand gleich- sam nach hinten offen und nahm vom Gewesenen vieles mit auf, was es gegenwärtig wiederholte, und was mit ihm wieder »da« war. Der spanische
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 90 Kulturphilosoph Ortega y Gasset drückt das so aus, daß der antike Mensch, ehe er etwas tue, einen Schritt zurücktrete, gleich dem Torero, der zum Todes- stoß aushole. Er suche in der Vergangenheit ein Vorbild, in das er wie in eine Taucherglocke schlüpfe, um sich so, zugleich geschützt und entstellt, in das gegenwärtige Problem hineinzustürzen. Darum sei sein Leben in gewisser Weise ein Beleben, ein archaisierendes Verhalten. Aber eben dies Leben als Beleben, Wiederbeleben ist das Leben im Mythos. Alexander ging in den Spuren des Miltiades, und von Caesar waren seine antiken Biographen mit Recht oder Unrecht überzeugt, er wolle den Alexander nachahmen. Dies »Nachahmen« aber ist weit mehr, als heut in dem Worte liegt; es ist die mythische Identifikation, die der Antike besonders vertraut war, aber weit in die neue Zeit hineinspielt und seelisch jederzeit möglich bleibt. Das antike Gepräge der Gestalt Napoleons ist oft betont worden. Er bedauerte, daß die moderne Bewußtseinslage ihm nicht gestatte, sich für den Sohn Jupiter- Amons auszugeben, wie Alexander. Aber daß er sich, zur Zeit seines orienta- lischen Unternehmens, wenigstens mit Alexander mythisch verwechselt hat, braucht man nicht zu bezweifeln, und später, als er sich fürs Abendland entschieden hatte, erklärte er: »Ich bin Karl der Große.« Wohl gemerkt – nicht etwa: »Ich erinnere an ihn«; nicht: »Meine Stellung ist der seinen ähnlich«. Auch nicht: »Ich bin wie er«; sondern einfach: »Ich bin’s«. Das ist die Formel des Mythos. Das Leben, jedenfalls das bedeutende Leben, war also in antiken Zeiten die Wiederherstellung des Mythos in Fleisch und Blut; es bezog und berief sich auf ihn; durch ihn erst, durch die Bezugnahme aufs Vergangene wies es sich als echtes und bedeutendes Leben aus. Der Mythos ist die Legitimation des Lebens; erst durch ihn und in ihm findet es sein Selbstbe- wußtsein, seine Rechtfertigung und Weihe. Bis in den Tod führte Kleopatra ihre aphroditische Charakterrolle weihevoll durch, und kann man bedeuten- der, kann man würdiger leben und sterben, als indem man den Mythos zele- briert? Denken Sie doch auch an Jesus und an sein Leben, das ein Leben war, damit erfüllet werde, was »geschrieben steht«. Es ist nicht leicht, bei dem Erfüllungscharakter von Jesu Leben zwischen den Stilisierungen der Evan- gelisten und seinem Eigenbewußtsein zu unterscheiden; aber sein Kreuzes- wort um die neunte Stunde, dies »Eli, Eli, lama asabthani?« war ja, gegen den Anschein, durchaus kein Ausbruch der Verzweiflung und Enttäuschung, sondern im Gegenteil ein solcher höchsten messianischen Selbstgefühls. Denn dieses Wort ist nicht »originell«, kein spontaner Schrei. Es bildet den Anfang des 22. Psalms, der vom Anfang bis zum Ende Verkündigung des Messias ist. Jesus zitierte, und das Zitat bedeutete: »Ja, ich bin’s!« So zitierte auch Kleopatra, wenn sie, um zu sterben, die Schlange an ihren Busen nahm, und wieder bedeutete das Zitat: »Ich bin’s!«
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 91 Sehen Sie mir, meine Damen und Herren, das Wort »zelebrieren« nach, das ich in diesem Zusammenhang brauchte. Es ist entschuldbar und selbst geboten. Das zitathafte Leben, das Leben im Mythos, ist eine Art von Zelebration; insofern es Vergegenwärtigung ist, wird es zur feierlichen Hand- lung, zum Vollzuge eines Vorgeschriebenen durch einen Zelebranten, zum Begängnis, zum Feste. Ist nicht der Sinn des Festes Wiederkehr als Verge- genwärtigung? Jede Weihnacht wieder wird das welterrettende Wiegenkind zur Erde geboren, das bestimmt ist, zu leiden, zu sterben und aufzufahren: Das Fest ist die Aufhebung der Zeit, ein Vorgang, eine feierliche Handlung, die sich abspielt nach geprägtem Urbild; was darin geschieht, geschieht nicht zum ersten Male, sondern zeremoniellerweise und nach dem Muster; es gewinnt Gegenwart und kehrt wieder, wie eben Feste wiederkehren in der Zeit und wie ihre Phasen und Stunden einander folgen in der Zeit nach dem Urgeschehen. Im Altertum war jedes Fest wesentlich eine theatralische An- gelegenheit, ein Maskenspiel, die von Priestern vollzogene szenische Dar- stellung von Göttergeschichten, zum Beispiel der Lebens- und Leidensge- schichte des Osiris. Das christliche Mittelalter hatte dafür das Mysterien- spiel mit Himmel, Erde und greulichem Höllenrachen, wie es noch in Goethes »Faust« wiederkehrt; es hatte die Fastnachtfarce, den populären Mimus. Es gibt eine mythische Kunstoptik auf das Leben, unter der dieses als farcenhaftes Spiel, als theatralischer Vollzug von etwas festlich Vorgeschrie- benem, als Kasperliade erscheint, worin mythische Charaktermarionetten eine oft dagewesene, feststehende und spaßhaft wieder Gegenwart werdende »Handlung« abhaspeln und vollziehen. Und es fehlt nur, daß diese Optik in die Subjektivität der handelnden Personagen selbst eingeht, in ihnen selbst als Spielbewußtsein, festlich-mythisches Bewußtsein vorgestellt wird, damit eine Epik gezeitigt werde, wie sie sich in den »Geschichten Jaakobs« wun- derlich genug ergibt, besonders in dem Kapitel »Der große Jokus«, worin zwischen Personen, die alle wohl wissen, was sie sind und in welchen Spuren sie gehen, zwischen Isaak, Esau und Jaakob, die bitter-komische Geschichte, wie Esau, der Bote, der genasführte Teufel, geprellt wird um seines Vaters Segen zum Gaudium des Hofvolks als mythische Festfarce jokos und tra- gisch sich abspielt. Und ist nicht vor allem der Held dieses Romans ein solcher Zelebrant des Lebens: Joseph selbst, der mit einer anmutigen Art von religiöser Hochstapelei den Tammuz-Osiris-Mythos in seiner Person vergegenwärtigt, sich das Leben des Zerrissenen, Begrabenen und Aufer- stehenden »geschehen läßt« und sein festliches Spiel treibt mit dem, was gemeinhin nur aus der Tiefe heimlich das Leben bestimmt und formt: dem Unbewußten? Das Geheimnis des Metaphysikers und des Psychologen, daß die Geberin alles Gegebenen die Seele ist, dies Geheimnis wird leicht, spiel-
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 92 haft, künstlerisch, heiter, ja spiegelfechterisch und eulenspiegelhaft in Jo- seph; es offenbart in ihm seine infantile Natur... Und dieses Wort läßt uns zu unserer Beruhigung gewahr werden, wie wenig wir uns bei scheinbar so großen Ausbeugungen von unserem Gegenstande, dem Gegenstande unse- rer festlichen Huldigung entfernt wie wenig wir aufgehört haben, zu seinen Ehren zu reden. Infantilismus, auf deutsch: rückständige Kinderei welch eine Rolle spielt dies echt psycho-analytische Element im Leben von uns allen, einen wie starken Anteil hat es an der Lebensgestaltung der Menschen, und zwar gerade und vornehmlich in der Form der mythischen Identifikation, des Nach- lebens, des In-Spu-ren-Gehens! Die Vaterbindung, Vaternachahmung, das Vaterspiel und seine Übertragungen auf Vaterersatzbilder höherer und geisti- ger Art wie bestimmend, wie prägend und bildend wirken diese Infantilismen auf das individuelle Leben ein! Ich sage: »bildend«; denn die lustigste, freu- digste Bestimmung dessen, was man Bildung nennt, ist mir allen Ernstes diese Formung und Prägung durch das Bewunderte und Geliebte, durch die kindliche Identifikation mit einem aus innerster Sympathie gewählten Vater- bilde. Der Künstler zumal, dieser eigentlich verspielte und leidenschaftlich kindische Mensch, weiß ein Lied zu singen von den geheimen und doch auch offenen Einflüssen solcher infantilen Nachahmung auf seine Biogra- phie, seine produktive Lebensführung, welche oft nichts anderes ist als die Neubelebung der Heroenvita unter sehr anderen zeitlichen und persönlichen Bedingungen und mit sehr anderen, sagen wir: kindlichen Mitteln. So kann die imitatio Goethes mit ihren Erinnerungen an die Werther-, die Meister- Stufe und an die Altersphase von Faust und Diwan noch heute aus dem Unbewußten ein Schriftstellerleben führen und mythisch bestimmen, ich sage: aus dem Unbewußten, obgleich im Künstler das Unbewußte jeden Augen- blick ins lächelnd Bewußte und kindlich-tief Aufmerksame hinüberspielt. Der Joseph des Romans ist ein Künstler insofern er spielt, nämlich mit seiner imitatio Gottes auf dem Unbewußten spielt, und ich weiß nicht, wel- ches Gefühl von Zukunftsahnung, Zukunftsfreude mich ergreift, wenn ich dieser Erheiterung des Unbewußten zum Spiel, dieser seiner Fruchtbarmachung für eine feierliche Lebensproduktion, dieser erzählerischen Begegnung von Psychologie und Mythos nachhänge, die zugleich eine fest- liche Begegnung von Dichtung und Psychoanalyse ist. »Zukunft« ich habe das Wort in den Titel meines Vertrages aufgenommen, einfach, weil der Be- griff der Zukunft derjenige ist, den ich am liebsten und unwillkürlichsten mit dem Namen Freuds verbinde. Aber während ich zu Ihnen sprach, mußte ich mich fragen, ob ich mich nicht mit meiner Ankündigung einer Irreführung schuldig gemacht: »Freud und der Mythus«, das wäre nach dem, was ich bis
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 93 jetzt zum Schluß gesagt, etwa der richtige Titel gewesen. Und dennoch hängt mein Gefühl an der Verbindung von Name und Wort und möchte einen Zu- sammenhang dieser Formel wahrhaben mit dem, was ich sagte. Ja, so wahr ich mich zu glauben erkühne, daß in dem Spiel der Psychologie auf dem Mythos, worin jener der Freudschen Welt befreundete Roman sich übt, Kei- me und Elemente eines neuen Menschheitsgefühls, einer kommenden Hu- manität beschlossen liegen, so vollkommen bin ich überzeugt, daß man in Freuds Lebenswerk einmal einen der wichtigsten Bausteine erkennen wird, die beigetragen worden sind zu einer heute auf vielfache Weise sich bilden- den neuen Anthropologie und damit zum Fundament der Zukunft, dem Hau- se einer klügeren und freieren Menschheit. Dieser ärztliche Psycholog wird geehrt werden, so glaube ich, als Wegbereiter eines künftigen Humanismus, den wir ahnen, und der durch vieles hindurchgegangen sein wird, von dem frühere Humanismen nichts wußten, eines Humanismus, der zu den Mächten der Unterwelt, des Unbewußten, des »Es« in einem keckeren, freieren und heitereren, einem kunstreiferen Verhältnis stehen wird, als es einem in neuro- tischer Angst und zugehörigem Haß sich mühenden Menschentum von heu- te vergönnt ist. Freud hat zwar gemeint, die Zukunft werde wahrscheinlich urteilen, daß die Bedeutung der Psychoanalyse als Wissenschaft des Unbe- wußten ihren Wert als Heilmethode weit übertreffe. Aber auch als Wissen- schaft des Unbewußten ist sie Heilmethode, überindividuelle Heilmethode, Heilmethode großen Stils. Nehmen Sie es als Dichterutopie, aber alles in allem ist der Gedanke nicht unsinnig, daß die Auflösung der großen Angst und des großen Hasses, ihre Überwindung durch Herstellung eines ironisch- künstlerischen und dabei nicht notwendigerweise unfrommen Verhältnisses zum Unbewußten einst als der menschheitliche Heileffekt dieser Wissen- schaft angesprochen werden könnte. Die analytische Einsicht ist weltverändernd; ein heiterer Argwohn ist mit ihr in die Welt gesetzt, ein entlarvender Verdacht die Verstecktheiten und Machenschaften der Seele betreffend, welcher, einmal geweckt, nie wieder daraus verschwinden kann. Er infiltriert das Leben, untergräbt seine rohe Naivität, nimmt ihm das Pathos der Unwissenheit, betreibt seine Entpathe- tisierung, indem er zum Geschmack am »understatement« erzieht, wie die Engländer sagen, zum lieber untertreibenden als übertreibenden Ausdruck, zur Kultur des mittleren, unaufgeblasenen Wortes, das seine Kraft im Mäßi- gen sucht ... Bescheidenheit vergessen wir nicht, daß sie von Bescheid wis- sen kommt, daß ursprünglich das Wort diesen Sinn führte und erst über ihn den zweiten von modestia, moderatio angenommen hat. Bescheidenheit aus Bescheid wissen nehmen wir an, daß das die Grundstimmung der heiter er- nüchterten Friedenswelt sein wird, die mit herbeizuführen die Wissenschaft vom Unbewußten berufen sein mag.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 94 Die Mischung, die in ihr das Pionierhafte mit dem Ärztlichen eingeht, rechtfertigt solche Hoffnungen. Freud hat seine Traumlehre einmal ein Stück »wissenschaftlichen Neulandes« genannt, dem Volksglauben und der My- stik »abgewonnen«. In diesem »abgewonnen« liegt der kolonisatorische Geist und Sinn seines Forschertums. »Wo Es war, soll Ich werden«, sagt er epigrammatisch. Und selber nennt er die psychoanalytische Arbeit ein Kultur- werk, vergleichbar der Trockenlegung der Zuidersee. So fließen uns zum Schluß die Züge des ehrwürdigen Mannes, den wir feiern, hinüber in die des greisen Faust, den es drängt, »das herrische Meer vom Ufer auszuschließen, der feuchten Breite Grenze zu verengen«. »Eröffn’ ich Räume vielen Millionen, Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen. Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn, Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.« Es ist das Volk einer angst- und haßbefreiten, zum Frieden gereifte» Zukunft. Aus: Almanach der Psychoanalyse 1937, S. 22-53.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 95 Robert Wälder Die Bedeutung des Werkes Sigm. Freuds für die Sozial- und Rechtswissenschaften Zu Sigm. Freuds 80. Geburtstag, 6. Mai 1936 Sigmund Freud ist der Begründer der Psychoanalyse. Seine Beiträge zu die- sem Wissensgebiet liegen in bisher zwölf Bänden Gesammelter Schriften vor1). Wir wollen in folgendem mit einigen Bemerkungen über das Wesen der Psychoanalyse beginnen, um sodann ihre möglichen Anwendungen in Sozi- alwissenschaften und Rechtswissenschaften zu skizzieren. I. Vom Wesen der Psychoanalyse Die Psychoanalyse wurde ursprünglich als ein Verfahren zur Behandlung hysterisch Erkrankter entdeckt. Sehr bald verstand man unter dem Wort zwei- erlei: die Methode und die mit ihr gewonnenen Resultate; unter der Methode verstand man sowohl eine Untersuchungsmethode als auch ein Heilverfah- ren. Es liegt im Wesen der Psychoanalyse, daß diese beiden Dinge, Untersu- chungsverfahren und Heilverfahren, weitgehend zusammenfallen. Von diesem ihrem Ausgangspunkt aus, der Behandlung von Hysteri- en, ist die Psychoanalyse zu einem System der normalen und pathologischen Psychologie überhaupt geworden. Es wäre gewiß auch denkbar, daß sie bei der Beschäftigung mit normal-psychologischen Problemen gefunden wor- den wäre. Es gilt hier etwas ähnliches wie für die Entdeckung der Elektrizität durch die Froschschenkelexperimente Galvanis; für die Elektrizitätslehre ist es nicht wesentlich, daß sie im Verlauf biologischer Versuche geboren wurde. Die Methode. Die Psychoanalyse verfolgt in der Untersuchung des menschlichen Seelenlebens eine bestimmte Methode. Diese Methode klingt einfach und beinahe selbstverständlich. Es wird mit der Versuchsperson, wie man in der Sprache der Experimentalpsychologie sagen würde, oder mit dem Analysanden, wie man in der Psychoanalyse zu sagen pflegt, ein Überein- kommen geschlossen: er wird darauf verpflichtet, während der Analyse, der in der Regel eine Stunde täglich gewidmet wird, den ganzen Inhalt seines Erlebnisstromes auszusprechen, gleichsam laut zu denken. Er verpflichtet sich damit zur Befolgung einer Regel, alles, was in ihm vorgeht, Gedanken und Einfälle, Impulse und Affekte, unterschiedslos in der Form auszuspre- chen, wie es ihm einfällt, d. h. alle bewußten Auswahlprinzipien des Denkens (z. B. Zugehörigkeit zu einem bestimmten Thema, ästhetische oder ethische Prinzipien, Relevanzkriterien aller Art) auszuschalten. Dem Impuls zur Unter- drückung eines Gedankens soll der Analysand dementsprechend nicht nach-
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 96 geben, diesen Impuls aber, als einen seelischen Vorgang wie jeden anderen, aussprechen. In der Analysestunde soll so das Ganze des Erlebnisstromes ausgebreitet werden und dann mit Hilfe des Analytikers untersucht werden. Dazu gehören selbstverständlich auch die Erzählungen über gegenwärtiges und vergangenes Leben. Somit unterscheidet sich die Psychoanalyse schon in ihrem Ansatz sehr wesentlich von anderen Methoden der Psychologie. Auch bei anderen psychologischen Methoden werden Versuchspersonen aufgefordert, Erlebnisse zu Protokoll zu geben, allein es handelt sich stets um Ausschnitte aus dem Erlebnis, die von der Versuchsperson selbst unter ge- wissen, ihr mitgeteilten oder von selbst wirkenden Ziel Vorstellungen ausge- wählt werden. Der Analytiker dagegen ist bestrebt, die Gesamtheit der seeli- schen Vorgänge kennenzulernen. Es ist selbstverständlich, daß er dem Be- nehmen des Analysanden, soweit er es entweder direkt beobachten kann oder aus den Mitteilungen des Analysanden erfährt, die gleiche Aufmerk- samkeit widmet. Dieses Verfahren scheint schon durch die wissenschaftliche Exaktheit gerechtfertigt und geboten; solange man nur einen Ausschnitt des seelischen Lebens kennenlernt, vermag man nicht zu entscheiden, wieviel Relevantes dabei draußen bleibt. Die Grundforderung der Analyse ist daher einfach ein Gebot wissenschaftlicher Vollständigkeit. Dabei erweist sich sehr bald, daß sich der Analysand zwar, unter Einsicht der Notwendigkeit, auf diese Regel verpflichtet hat, aber doch nur sehr angenähert nach ihr handelt. Das ganz bewußte Verschweigen von man- chen Dingen kommt im Anfang der Analyse vor, aber auch später zeigt es sich, daß die Befolgung der sogenannten »psychoanalytischen Grundre- gel« gleichsam nur eine unendliche Idee ist und daß in praxi immer wieder Gedanken übersprungen, als unwichtig nicht ausgesprochen werden, daß gewisse Dinge, die den Analysanden sehr beschäftigen, ihm gerade in der Analysenstunde nicht einfallen, u. dgl. m. Es ist nun Aufgabe des Analyti- kers, gleichsam zu erraten, an welchen Stellen die Regel der Analyse nicht befolgt ist, um die Kräfte zu verstehen, die hier dem Vorsatz des Analysanden entgegenwirken. Durch den Versuch, jeweils diese Gegenkräfte zu erfassen, sich über ihre Motive klar zu werden, schreitet die Analyse allmählich vor- wärts und begegnet dabei sehr bald den Konflikten des Menschen und den Lösungsversuchen, die er sich in diesen Konflikten aufgebaut hat. Das Un- bewußte. Der wichtigste Grundgedanke der Psychoanalyse ist dabei der, daß gleichsam nur ein Teil der seelischen Vorgänge normalerweise ins Bewußt- sein ragt, daß ein großer Teil unbewußt abläuft und daß die bewußten Vor- gänge jeweils Fragmente, oder richtiger gesagt, Ellipsen mit ausgefallenen Zwischengliedern sind. Es gilt, den vollständigen Gedankengang herzustel- len, der zu einem System von Tendenzen und Gegentendenzen, von innerer Rede und Gegenrede führt.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 97 Das Modell der psychischen Persönlichkeit. Aus außerordentlich zahl- reichen Einzeluntersuchungen hat sich dabei ein Modell der seelischen Vor- gänge ergeben, gleichsam ein Rahmen, in den dann die zahlreichen Einzel- vorgänge eingetragen werden können. Die Psychoanalyse hat zu einem drei- teiligen Modell des menschlichen Verhaltens geführt. Wir unterscheiden drei Systeme oder Schichten der menschlichen Persönlichkeit, die als Es, Ich und Über-Ich bezeichnet werden. Wir verstehen unter dem Es das menschliche Triebleben. Trieb wird von Freud definiert als ein »Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somali- schem, ... als ein Maß der Arbeitsanforderung, die dem Seelischen zufolge seines Zusammenhanges mit dem Körperlichen auferlegtist.«2 Mit den Trie- ben taucht der Mensch gleichsam ins Biologische ein. Das Ich bezeichnet die zentrale Steuerung des Organismus. Es ist sozusagen das Zentrum der Persönlichkeit, das, was wir eigentlich meinen, wenn wir »ich« sagen. Es ist jener Teil der Persönlichkeit, der Kontakt mit der Außenwelt hat und die Funktion der Realitätsprüfung entwickelt (der Prü- fung, ob etwas real ist oder nicht). Dem Ich kommt weiters die Funktion der »Antizipation« des Zukünftigen zu: die Folgen einer jetzigen Handlungswei- se in der Zukunft werden in schwächeren Dosen antizipiert und beeinflussen damit mein jetziges Handeln. Auf diese Weise wird das für die Triebe gelten- de Lustprinzip zum Realitätsprinzip modifiziert3. Zu dieser Antizipation ge- hört die Angst, die in der Gefahr auftritt, als Vorwegnahme der zu gewärtigen- den Katastrophe in minimaler Dosis; hiedurch wird eine biologische Funkti- on erfüllt, da das Handeln des Menschen durch diese Antizipation so modi- fiziert wird, daß er das Eintreten der Katastrophe zu vermeiden vermag. Die Angst wirkt somit nach Art einer Impfung, in der auch eine abgeschwächte Dosis der Krankheit gegen die Krankheit immunisieren soll. Durchaus ähn- lich ist auch der Vorgang beim Denken, das von Freud als eine Art von Probehandeln mit mikroskopisch kleinen Dosen beschrieben wird; »ähnlich wie die Verschiebung kleiner Figuren auf der Landkarte, ehe der Feldherr seine Truppenmassen in Bewegung setzt«.4 Außer dem Kontakt mit der Realität und der Funktion der Antizipation kommt dem Ich die Funktion der Verarbeitung zu, alles, was Methode ist. Wir werden später darauf zurückkommen. Die dritte Instanz ist schließlich das Über-Ich. Es umfaßt die inneren Normen des Menschen. Allgemein gesprochen, handelt es sich um eine Art Stufenbildung im Ich, um eine Stelle, in der der Mensch sich selbst zum Gegenstand nimmt: kritisch-strafend (etwa im Gewissen) oder tröstend (wie etwa beim wahrhaften Humoristen) oder emotionell-neutral (in der Selbst- beobachtung, in der Ausschaltung des eigenen Standortes; hierher gehört,
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 98 was die Philosophen transcendentales ego nennen). Somit fließt das Über- Ich zusammen mit dem, was die philosophische Anthropologie als Wesen des Menschen gegenüber dem Tierreich abgrenzt. Das Ich des Menschen steht nun jeweils vor einer Anzahl von Aufga- ben. Einerseits werden ihm Aufgaben von den Trieben gestellt, die Befriedi- gung erheischen. Sodann trägt die Realität in jedem Augenblick Anforderun- gen an den Menschen heran. Ebenso meldet sich das Über-Ich mit seinen Anforderungen, die für das Ich gleichfalls den Charakter der Aufgabe haben. Schließlich, viertens, stellt das Ich sich selbst Aufgaben; es ist nicht bloß der Diener dieser Nicht-Ich-Instanzen (Es, Über-Ich, Außenwelt), sondern stellt sich selbst die Aufgabe, diese Welten allmählich in seine Gewalt zu bekom- men, von sich aus zu steuern. Diese Aufgaben sind in sich widersprechend. Es scheint nun ein Ge- setz zu sein, daß das menschliche Ich bestrebt ist, in jedem Augenblick einen Lösungsversuch zu finden, der mehr oder weniger, schlecht oder recht, die- sen vielfältigen Aufgaben gerecht wird. In idealer Weise ist das natürlich unmöglich; es werden stets in einem Akt einige Aufgaben besser gelöst sein als andere. Dies scheint die Grundlage für die Unrast des menschlichen Da- seins zu sein, für ein Stück Leiden also, aber auch ein Motor für das ewige menschliche Streben. In dieser seiner Tätigkeit, Lösungen für die vielfältigen und widerspruchs- vollen Aufgaben zu finden, entwickelt nun das Ich eine große Zahl von Lösungsversuchen oder Lösungsmethoden. Wir schließen damit an den zu- vor fallen gelassenen Gedanken an, daß alles, was Verarbeitung oder Metho- de im Seelenleben ist, zum Ich gehört. Das Ich macht nun einen ungeheuren Entwicklungsweg durch, und zwar mit jeder seiner Funktionen. Der Kontakt mit der Außenwelt entwickelt sich von den ersten Tagen immer weiter und geht durch Phasen mythischen und magischen Denkens zu dem Maße von Realbeziehung, das schließlich erreicht wird. Die Antizipation des Künftigen entwickelt sich, das gereifte Ich spannt immer weitere Bogen in die Zukunft hinein. Die Verarbeitungs- methoden schließlich machen eine Entwicklung durch von den primitiven Methoden des unreifen Ichs zu den aufgabeadäquaten des gereiften5 Ichs. Zu den primitiven Lösungsmethoden des unreifen Ichs gehören verschiede- ne Verhaltungsweisen; eines der einfachsten Beispiele ist das Verhalten ge- genüber der Gefahr. Es wäre ein Verfahren des zur vollen Reife gelangten Ichs, die Gefahr in ihrem richtigen Ausmaß einzuschätzen, sie weder zu über- schätzen noch zu unterschätzen und die zweckmäßigen Mittel anzuwenden, um ihr zu begegnen. Diesen Zustand der Reifung scheinen nicht allzuviele Menschen zu erreichen; die Reaktion des primitiven Ichs, wie sie jedenfalls
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 99 in der Kindheit vorherrschend ist, ist nicht so. Die Gefahr wird entweder grotesk überschätzt und es werden übertriebene Maßnahmen zu ihrer Ver- meidung getroffen oder die Gefahr wird verleugnet oder die Mittel, die zu ihrer Vermeidung gewählt werden, sind inadäquat. Hierher gehören alle magi- schen Mittel, sich vor der Gefahr zu schützen; gehören die Einschränkungen menschlicher Möglichkeiten, die in der Regel der Kaufpreis sind für die An- passung an die Realität, die die Erziehung dem Kind gegenüber vertritt. Der Reichtum dieser primitiven Methoden ist geradezu ungeheuer. Wir haben also im Ich die primitiven Verfahrensweisen und Lösungs- methoden des primitiven Ichs und die sachadäquaten des gereiften Ichs zu unterscheiden. Der Terminus »reifes Ich« enthält an und für sich noch keine Wertung. Er entspricht nur dem Sachverhalt, daß in der Entwicklung des Individuums das Ich in der Kindheit gewisse Stufen, z. B. der Magie, durch- läuft und daß diese Reaktionen mit der Erreichung des Erwachsenenalters zum großen Teil abgebaut und insoweit durch andere ersetzt werden. Es steht natürlich frei, die kindlichen Strukturen höher und die Reife als Verfall zu werten. Freilich steht eine solche Wertung in Widerspruch zu der Wertung »Leben soll sein«, da, wie sich leicht zeigen läßt, eine Gesellschaft, in der sich alle Menschen nur auf Grund der primitiven Methoden des Ichs verhalten, unrettbar zugrundegehen müßte. Im übrigen darf man wünschen, daß eine solche Weltanschauung auf terminologische Tarnung verzichte und konse- quent Erwachsensein mit negativem Wertakzent versehe. Es gibt nun ver- schiedene Motivationen des menschlichen Handelns, je nachdem, welche Aufgaben von den Trieben, von der Außenwelt, vom Über-Ich und vom Ich her gestellt sind, je nach den Lösungsmethoden und je nachdem, wieweit diese einzelnen Aufgaben in jedem Akt gelöst werden, sonach je nach Inhalt und Struktur von Es, Ich und Über-Ich und nach dem relativen Anteil, den diese Instanzen an dem psychischen Akt nehmen. Je nachdem, wieweit in einem Lösungsversuch in der vielfältigen Aufgabesituation die vierte Aufgabe, die das Ich sich selbst stellt, gelöst erscheint, sprechen wir von Stärke oder Schwäche des Ichs im seelischen Haushalt. All das ist freilich nur ein Rahmen. Hier setzt nun die Einzelforschung an: das Studium der Triebe, ihre Ziele und Objekte und ihrer Intensität bei jedem Menschen, ihrer Entwicklung und Schicksale, die besondere Art des Über-Ichs, seine Inhalte, seine Strenge, den Grad seiner Festigkeit, oder Ab- hängigkeit von Objekten der Außenwelt, seine Bestechlichkeit oder Unbe- stechlichkeit, die Lösungsmethoden des Ichs, die Stärke oder Schwäche des Ichs gegenüber den anderen Instanzen usw. Alle diese Elemente weisen je nach Konstitution und Umwelteinflüssen eine kaum übersehbare Mannig- faltigkeit auf.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 100 Die Psychoanalyse zerfällt in zwei Hauptgebiete: in die Trieb- psychologie, die sich mit der Natur der menschlichen Triebe und mit ihrer Entwicklung im Lauf des Lebens befaßt, und in die Ichpsychologie, die das Ich und das Über-Ich erforscht. Es ist dabei, wesentlich, daß es die Psychoanalyse niemals mit dem isolierten Individuum zu tun hat. In der vorfreudschen Psychologie wurde im Grunde immer die Abstraktion des isolierten Individuums studiert; sei es die frei, schwebende Intelligenz oder das frei schwebende Netzwerk des Geistes wie in der alten Schulpsychologie; seien es Affekte, die im Laboratorium künstlich erzeugt werden, mit geringem Bezug zu dem, was die Person eigent- lich berührt, wie in der neueren Affektpsychologie; sei es das einsam medi- tierende Individuum wie bei Kierkegaard. Die Psychoanalyse hat es hinge- gen stets mit dem Menschen in allen seinen sozialen Bezügen zu tun; es sei nur als Beispiel auf die Wichtigkeit der Familiensituation des Kindes für die Ausbildung von Verhaltungsstrukturen hingewiesen. Wertprobleme. Wie aus dieser Skizze zu entnehmen ist, befaßt sich die Psychoanalyse sonach nur mit den Tatsachen des Seelenlebens; sie nimmt, als solche, nicht wertend zu ihnen Stellung. Die Psychoanalyse ist bestrebt, dem Postulat der Ideologiefreiheit in ihrer Wissenschaft Genüge zu leisten. Ein Stück der Gegnerschaft, die sie gefunden hat, ist darauf zurückzuführen, daß manche psychoanalytische Erkenntnisse gewisse Ideologien zu bedro- hen schienen; teils darum, weil diese Ideologien selbst eine Aussage über Tatsächliches enthalten, teils weil sie eine Erkenntnis gewisser Tatsachen unerwünscht erscheinen lassen, teils schließlich, weil man, in Mißverständ- nis der wissenschaftlichen Intentionen der Psychoanalyse, vermutete, die Psychoanalyse wolle ein Sein für ein Sollen setzen und ihre wissenschaftli- chen Sätze würden entweder an und für sich oder unter einseitiger und aus- schließlicher Berufung auf hygienische Zielsetzungen als Weltanschauung auftreten wollen. Der Psychoanalytiker freilich, der den Kranken behandelt, steht dabei unter der Norm einer Berufsethik, doch ist diese Norm nicht der Psychoanalyse entnommen. Freilich scheint eine gewisse Weltanschauung der praktischen Ausübung der Psychoanalyse besonders nahe zu liegen: es ist die, die Freud in dem klassischen Satz formuliert hat: »Wo Es war, soll Ich werden«.6 Es ist die Zielsetzung der Stärke des Ichs innerhalb der psychi- schen Systeme, die Vorstellung, der Mensch solle mehr leben als gelebt wer- den und die Notwendigkeiten aus freiem Entschluß auf sich nehmen, d. h. das Handeln solle wesentlich vom reifen Ich her gesteuert sein und weniger von den Nicht-Ich-Instanzen oder den Schichten des primitiven Ichs.7
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 101 II. Die Bedeutung der Psychoanalyse für die soziologischen Wissenschaf- ten Freud vertritt den Standpunkt, daß die Soziologie angewandte Psychologie sei. Er sagt darüber: »Auch die Soziologie, die vom Verhalten der Menschen in der Gesellschaft handelt, kann nichts anderes sein als angewandte Psy- chologie. Streng genommen, gibt es nur zwei Wissenschaften, Psychologie, reine und angewandte, und Naturkunde«.8 Freuds sozialwissenschaftliche Schriften. Freud hat sich mit sozial- wissenschaftlichen Fragen zuerst im Jahr 1912 ausführlich auseinanderge- setzt9, und zwar mit ethnologischen und urgeschichtlichen Problemen. »To- tem und Tabu« enthält zwei Theorien, eine Theorie der Tabuvorschriften ein der Psychoanalyse zugängliches Material, die Zwangsneurose, weist gleich- sam private Tabus auf und einen Erklärungsversuch des Totemismus, eine urgeschichtliche Hypothese. Während des Krieges erschien ein Beitrag, der den Problemen des Sterbens und Tötens gewidmet war10, mit vielen Ausblik- ken auf Kulturprobleme. Das Jahr 1921 brachte das Werk über Massen- psychologie.11 Die Kulturprobleme traten nunmehr in Freuds Schaffen im- mer wieder in den Vordergrund. Eine Schrift befaßt sich mit den psychologi- schen Grundlagen des religiösen Glaubens12 . Eine spätere Schrift erörtert das Problem der kulturellen Schicksale des menschlichen Aggressionstriebes und den wachsenden inneren Druck, der eine Folge der kulturellen Absper- rung seiner Befriedigungsmöglichkeiten nach außen ist13 . Schließlich hat Freud auch zum Problem der Psychologie von Krieg und Frieden in einem Briefwechsel mit Albert Einstein Stellung genommen, der über Veranlassung des Institut International de Cooperation Intellectuelle zustandegekommen ist14 .Die Psychologie in der Soziologie. Die Frage des Verhältnisses von Soziologie und Psychologie kann im Rahmen dieser Arbeit nicht in voller Ausführlichkeit erörtert werden; wir müssen uns auf einige Hinweise be- schränken. Die Psychoanalyse ist eine empirische Wissenschaft vom mensch- lichen Verhalten; die Soziologie hat es in ultima analyst mit diesem Verhalten zu tun15 . Das ist Grundlage für die Forderung Freuds, die Soziologie auf diese Psychologie zu begründen. Das steht in Widerspruch zu den meisten landläufigen Abgrenzungen der Wissenschaftsgebiete, die der Psychologie allenfalls einen gewissen Einfluß auf die Behandlung soziologischer Frage- stellungen einräumen wollen, im übrigen aber am autonomen Charakter der soziologischen Wissenschaft gegenüber der Psychologie festhalten. Man weist darauf hin, daß man es in der Soziologie durchgängig mit Gruppen und nicht mit Individuen zu tun hat. Die scharfe Scheidung zwischen der Wissen-
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 102 schaft von der Gruppe und der Wissenschaft vom Individuum geht nun auf eine Zeit zurück, da sich die Psychologie mit dem isolierten Individuum be- schäftigte. Von diesem Abstraktionsgebilde führt nun freilich kein Weg zu Gruppenphänomenen, weder durch Summation noch durch Integration. Im Hinblick auf diese Psychologie ihrer Zeit hat z. B. die Durckheimsche Schule alle Gruppenerscheinungen in den Bereich der Soziologie gewiesen. Die Lage der Psychoanalyse ist grundsätzlich verschieden: sie beschäftigt sich nicht mit der Abstraktion des isolierten Individuums, sondern mit dem konkreten Menschen in all seinen sozialen Bezügen. Der Unterschied zwischen Psy- chologie und Soziologie erscheint im psychoanalytischen Studium des Indi- viduums aufgehoben. Man könnte auch von der Soziologie des Individuums sprechen. Die so gewonnenen Einsichten über das Individuum in seinem sozialen Feld sind dann auch für das Verständnis von Gruppenphänomenen brauchbar. Ähnliches gilt von einer anderen Erwägung, die finden autonomen Charakter der Soziologie ins Treffen geführt wird: daß die Soziologie mit gewissen Kategorien die Psychologie transzendiere, wie z. B. der Kategorie der Institu- tion, der Beziehung zu Wertproblemen u. dgl. m. Aber diese Problematik ist auch in der Psychoanalyse des Individuums voll gegenwärtig. Schließlich beschränkt sich die Psychoanalyse auch keineswegs auf intramentale Er- scheinungen. Eine Teilung des menschlichen Verhaltens in der Weise, daß die intramentale Seite einer Wissenschaft und die soziale einer anderen zuge- wiesen wird, ist eine durchaus künstliche und müßte die Entstehung einer wirklichen Wissenschaft vom menschlichen Verhalten geradezu verhindern. Gesetze in der Soziologie. Als Beispiel für ein Problem, das, wie es scheint, von der Psychoanalyse her gefördert werden kann, sei das der Gesetzesbildung in der Soziologie genannt. Wenn die Psychologie im Sinn des früher Gesagten als Grundwissenschaft der Soziologie anerkannt wird, so ist das für die Gesetzmäßigkeit in der Psychoanalyse Geltende auch für die Frage der Gesetzesbildung in der Soziologie anwendbar. Wir wissen, daß es in der Psychologie nicht so ist wie in der Physik; es gibt nur selten einen Fall, in dem wir sagen können, daß in einer bestimm- ten Situation eine und nur diese Reaktion eintreten müsse. Zumeist muß man sich bescheiden sagen, daß in einer gegebenen Situation eine von mehreren Möglichkeiten eintreten werde, die größere oder geringere Wahrscheinlich- keit haben. Dementsprechend sind auch im allgemeinen Gesetze von der Art der physikalischen, nach denen einem Zustand in der Zeit t ein Zustand in der Zeit t-f eindeutig zugeordnet wird, auf dem Gebiet menschlichen Verhal- tens nicht oft anzutreffen. Wir haben in der Psychoanalyse vielmehr gewisse Regelmäßigkeiten, ferner Zuordnungen mehrerer Lösungsversuche zu ei- nem bestimmten Zustand aufstellen können.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 103 Aber damit hat es nicht sein Bewenden. Man hat in der Psychoanaly- se die Erfahrung gemacht, daß zwar im allgemeinen eindeutige Zuordnungen des folgenden Zustandes zu dem gegenwärtigen nicht möglich sind, daß es aber bestimmte Fälle gibt, in denen man dennoch bündige Gesetzmäßigkei- ten menschlichen Verhaltens aufstellen kann; dann ist das Verhalten auch prognostizierbar. An Hand des vorher skizzierten Modells der psychischen Persönlichkeit sind diese Fälle genau angebbar. Einmal handelt es sich um jene Fälle, in denen das Verhalten nur vom reifen Ich her gesteuert ist. Dann handelt der Mensch entsprechend den Notwendigkeiten der Sache und die Gesetze der Sache gelten für sein Han- deln. Wenn dann diese Gesetze der Sache die Notwendigkeiten der Sachstruktur bündig sind, ist sein Verhalten auch voraussagbar. Hierher ge- hört etwa das wirtschaftliche Handeln, mit dem es die Nationalökonomie zu tun hat; ferner das Verhalten eines Menschen, der eine mathematische Auf- gabe zu lösen hat und mit den dazu einzuschlagenden Wegen vertraut ist, oder das eines Ingenieurs vor einer technischen Aufgabe, deren Lösung ihm bekannt ist. Des weiteren gehört hierher, was durch die Sitte geregelt ist; so kann man etwa voraussagen, daß ein normaler Mensch in unseren Regionen beim Betreten der Kirche den Hut abnehmen wird. Andererseits gibt es Gesetzmäßigkeiten im menschlichen Verhalten unter extrem entgegengesetzten Bedingungen. Wir meinen jene Fälle, in de- nen die Steuerung vom reifen Ich her praktisch vollständig ausgeschaltet ist und das Handeln daher ausschließlich von biologischen Kräften (Trieben) und den primitiven Lösungsmethoden des unreifen Ichs gesteuert ist. Das ist die Grundlage für die Tatsache, daß man eine Prognose bei Geisteskrank- heiten stellen kann. Aber diese Ausschaltung der Steuerungstendenzen des reifen Ichs tritt nicht nur im Pathologischen auf; in der Normalpsychologie gehört hierher etwa das Verhalten der Menschen in der Massensituation, die auch einer temporären Stillegung der Ich-Steuerung gleichkommt. Eine Vor- aussage des Verhaltens ist dann in jenen Fällen möglich, in denen die Steuerungstendenzen durch die primitiven Kräfte im Menschen, d.h. durch das Es und die Lösungsmethoden des primitiven Ichs, bündig sind und ein eindeutiges Verhalten erheischen. Menschliches Verhalten ist sonach Gesetzen unterworfen und vor- aussagbar, wenn der Reichtum der Determinanten des menschlichen Verhal- tens verringert ist, entweder auf nichts als Vernunft oder auf nichts als Allzu- menschliches; erst im Wechselspiel beider verliert sich die Gesetzmäßigkeit. Die zweite Bedingung der Gesetzmäßigkeit ist dann die, daß jene Determi- nanten, auf die menschliches Verhalten reduziert ist, eindeutige Lösungen erheischen, d. h. bei der Reduktion auf Sachstruktur, daß eben diese
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 104 Sachstrukturen bündig sind und nur eine Lösung zulassen, und bei der Re- duktion auf biologische Kräfte, daß diese ein bestimmtes Verhalten erfor- dern. Daß dies tatsächlich alle Fälle umfaßt, in denen eine Voraussage künf- tigen Verhaltens möglich ist, scheint aus einer einfachen Besinnung ersicht- lich. Man kann zeigen, daß in all jenen Fällen, in denen wir versuchen, das Verhalten eines handelnden Menschen vorauszusagen, wir entweder von der einen oder von der anderen Voraussetzung ausgehen. Wir nehmen ent- weder an, daß der Mensch tun wird, was in seiner Situation notwendig ist, und suchen aus diesen Notwendigkeiten seine künftigen Entscheidungen vorauszusagen; oder wir nehmen an, daß er von Trieben und Reaktions- weisen geleitet ist, die sich über alle Grenzen hinwegsetzen, und versuchen, von hier aus zu einer Voraussage zu kommen16 . Wendet man nun diese Einsicht auf die Probleme der Soziologie an, so glaubt man zu verstehen, warum sich gerade an den beiden extremen Enden der Sozialwissenschaften ihre einzigen Gesetzeswissenschaften ent- wickelt haben: die Nationalökonomie und die Massenpsychologie. Der extreme Fall der Reduktion der Bestimmungsstücke menschlichen Verhaltens kommt wahrscheinlich nur selten vor. Doch gibt es eine große Zahl von Situationen, die diesen Grenzfällen nahekommen, und man muß darum nicht allzu pessimistisch von der Entwicklung soziologischer Gesetze denken. Die Massenpsychologie. Während nun die meisten Probleme der So- ziologie auf psychoanalytischer Grundlage noch ihrer systematischen Bear- beitung harren, liegt in der Massenpsychologie Freuds bereits eine Reihe durchgearbeiteter Erkenntnisse vor. Die Massenpsychologie scheint von großer Wichtigkeit für die Soziologie. Man muß dabei nicht nur an die Psy- chologie des Mobs und der sonstigen transitorischen Massenbildungen denken; bis zu einem gewissen Grad hat man es bei allen Gruppenbildungen, auch den stabilsten, auch den hochgewerteten, mit Massensituationen zu tun. Darin liegt die Bedeutung der Massenpsychologie für Fragen der Gemeinschaftsbildung, z. B. für die Staatswissenschaften. Der Grundgedanke der Freudschen Massenpsychologie ist der fol- gende: Der Mensch in der Masse hat sein Überich zum größeren oder gerin- geren Teil ausgeschaltet und an seine Stelle den Führer der Masse gestellt. (Dieser Führer mag nun eine Gestalt aus Fleisch und Blut sein, eine mythi- sche Gestalt, ein Gott, oder, in der sublimsten Ausformung, eine Idee.) Die Norm des Handelns kommt nun vom Führer. Auf Grund dieses Prozesses der Projektion des Über-Ichs auf eine Instanz der Außenwelt, der allen Mitglie- dern der Masse gemeinsam ist, findet eine Identifizierung unter den Massen- mitgliedern und ein Stück Liebesbindung zwischen ihnen statt.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 105 Die Abtretung des Über-Ichs an den Führer erklärt, warum das Wort des Führers an die Stelle tritt, an der beim Menschen außerhalb der Massen- situation sein Über-Ich steht; man glaubt zu verstehen, warum Massen oft um so vieles grausamer sind als die einzelnen Menschen, die zu ihnen gehö- ren, aber auch, warum sie zu Opfern und Leistungen fähig sind, die die Einzel- nen nicht erbringen. Da die Norm des Handelns vom Führer kommt, wirkt er zugleich als Angstschutz in der Gefahr. Der Einzelne außerhalb der Masse trifft Vorkeh- rungen für seine Sicherheit, je nach seinem Mut oder seiner Ängstlichkeit; die Zustimmung seines Über-Ichs zu seinem Handeln trägt bei zur Beschwich- tigung allfälliger Angst. Eine Masse hingegen geht, solange Vertrauen zum Führer besteht, angstfrei in die Gefahrsituation. Wenn nun der Führer weg- fällt, ohne daß sofort ein neuer Führer an seine Stelle tritt, so löst sich die Masse in einen Haufen von Individuen auf; wenn das in einer Gefahrsituation geschieht, so bricht die Angst als Panik aus. Wenn der Führer die Geführten nicht zu schützen vermag, sonach als Angstschutz versagt, so ist die Führer- rolle verspielt und das Massengebilde löst sich auf17. Auch die Störung der Realitätsprüfung in der Masse wird erklärbar. Einerseits findt in der Massen- situation eine Spaltung der beiden Grundtriebe des menschlichen Es, Liebe und Haß, statt, derart, daß alle positiven Regungen den Mitgliedern der Gemeinschaft und alle negativen den Außenstehenden zugewendet werden, während der Einzelne außerhalb der Masse seine Neigungen und Abneigun- gen diffus unter die Menschen verteilt, so daß nahezu jedermann Objekt beider Regungen wird. Auf dem Boden der Ausschließlichkeit der Liebe für die Mitglieder der Gemeinschaft und der Ausschließlichkeit der Abneigung für die Außenstehenden wächst die Trübung der Realitätsprüfung. Hierzu kommt ein zweites: Das Über-Ich erfüllt eine Leistung für die Realitätsprüfung, denn es vollzieht durch die Selbstbeobachtung die ständige Scheidung zwi- schen dem, was zu mir gehört, und dem, was nicht zu mir gehört, zwischen Phantasie und Realität. Die temporäre Ausschaltung der Über-Ich-Funktion muß daher auch die Realitätsprüfung beeinträchtigen. Hierher gehört auch, daß in der Masse das magische und mythische Denken ansteigt, das durch die anwachsende Über-Ich-Funktion überwunden wurde 18. Beide erörterte Umstände, die in diesen Fällen den Zerfall der Masse eingeleitet. Man ver- steht, warum gewisse da und dort versuchte Analogieschlüsse auf Staaten mit Siegermentalität unrichtig gewesen sind, und darf vermuten, daß sie so lang unrichtig bleiben werden, als nicht auch in diesen Ländern aus irgend- welchen Gründen ein Zerfall des Massengebildes eintritt. Die ursprüngliche mythische Vorstellung ist, daß alles Weiterleben der Seele nach dem Tode der Fortdauer des materiellen Substrates bedarf. Alle Sorge um die Seele des
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 106 Toten muß sich daher in erster Linie der Erhaltung der Mumie zuwenden. Später entwickelt sich eine andere Idee: Das Schicksal der Seele hängt von ausschließliche Zuwendung der erotischen Regungen zu einer Gruppe von Objekten und der aggressiven Regungen zu den übrigen Objekten, sowie die partielle Übertragung der Über-Ich-Funktion auf eine Gestalt der Außenwelt wirken so zusammen, um die Störung der Realitätsprüfung entstehen zu las- sen19.Probleme der Gemeinschaftsbildung. Dies sind nur einige fragmenta- rische Andeutungen über die psychoanalytische Massenpsychologie und ihre Wichtigkeit für die Erforschung sozialer Phänomene. In engem Zusam- menhang damit sei auch eine andere Frage gestreift. Es scheint ein ewiges Problem der Menschheit zu sein, wie die Menschen zum Gemeinschaftsleben zu bringen sind. Es gibt zwar in der menschlichen Natur Tendenzen, die sie immer zur Gemeinschaft hinführen, aber viele Regungen des menschlichen Wesens widerstreben dem Gemeinschaftsleben, durch das den Trieben des Individuums ständig Verzichte auferlegt werden. Der reife Mensch ist gewiß bereit, aus der Einsicht in ihre Notwendigkeit Einschränkungen durch das Gemeinschaftsleben aus freiem Entschluß auf sich zu nehmen. Wäre bei allen Menschen innerhalb der psychischen Instanzen das reife Ich hinlänglich stark und führend gegenüber den anderen Instanzen, so wäre die Sicherung eines befriedigenden Gemeinschaftslebens kaum ein Problem. Die ganze Schwere des Problems scheint aber nun darin zu bestehen, daß die Kraft dieses reifen Ichs bei der weitaus überwiegenden Zahl der Menschen viel zu gering ist und daß es daher anderer Mittel bedarf, um sie sozial zu machen. Es muß daher ein Appell an andere Schichten versucht werden:, an das Trieble- ben, indem ihnen triebhafte Befriedigung geboten wird (z. B. durch Zulas- sung der Aggression gegen Unterworfene); an die Angst; an das Über-Ich, indem man versucht, die Gebote der Gemeinschaft zu einem zwanghaft wir- kenden, der Beeinflussung durch das Ich entzogenen Regulativ zu machen; und schließlich an die primitiven Arbeitsweisen des Ichs (durch magische und mythische Gehalte). Es scheint, als ließen sich die großen Probleme der Gemeinschaftsbildung aus der Unfruchtbarkeit jener Bemühungen verste- hen, die Gemeinschaft bei einer hinlänglich großen Zahl von Menschen durch den Entschluß eines reifen Ichs zu sichern21 . Eine verhältnismäßig lange Wirksamkeit scheinen jene gesellschaftlichen Systeme zu haben, bei denen mehrere oder alle »nicht-ichhaften« Appelle zur Anwendung gelangen. III. Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Rechtswissenschaften Aus dem Umstand, daß die Psychoanalyse eine Tatsachenwissen-schaft ist, ergibt sich, daß sie auf dem Gebiet der Rechtswissenschaften nur zu einem
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 107 Teil der Problematik beitragen kann. Die Ergebnisse der Psychoanalyse ha- ben offenbar keine Anwendung für die Frage der Geltung oder Wünschbarkeit einer Norm oder für die Zuordnung eines Einzelfalles zu dem Geltungsbe- reich einer Norm. Die Psychoanalyse kann zu allen Tatsachenproblemen der Rechtswissenschaften Aussagen machen, ihre Beiträge sind daher solche zur Rechtssoziologie. So mag sie etwa zur Beurteilung der Frage herangezo- gen werden, welches die Psychologie der Normsetzung ist, oder welche Maßnahmen praktisch geeignet erscheinen, der Realisierung einer Norm för- derlich zu sein, welches die Wirkungen getroffener Maßnahmen sind, u. dgl. m. Im folgenden sei versucht, das mögliche Anwendungsgebiet der Psycho- analyse am Beispiel der Strafrechts Wissenschaft zu demonstrieren. Die Psy- choanalyse wird hier über die Psychologie aller Figuren des strafrechtlichen Vorgangs Aussagen machen können, über die Psychologie des Gesetzge- bers, über die des Verbrechers oder seines Opfers, über die des Richters, des Anwalts oder des Publikums. Sie wird ferner für die Frage heranzuziehen sein, welche Mittel geeignet erscheinen, um ein bestimmtes Ziel der Strafge- setzgebung zu erreichen; und sie wird schließlich nicht außer acht bleiben dürfen, wenn es gilt zu untersuchen, welche Wirkungen die getroffenen Maßnahmen neben den angestrebten haben. Es sei hier das Beispiel der Generalprävention herausgegriffen. Ist die Strafe geeignet, die Wahrscheinlichkeit von Verbrechen zu vermindern? Wer das ohne weiteres bejaht, macht sich ein bestimmtes Bild über die psycholo- gische Entstehung der kriminellen Handlung, dessen Richtigkeit erst zu prü- fen ist. Wäre der rechtsbrecherische Akt ausschließlich vom Ich her gesteu- ert, so würde die Drohung der Strafe ein wichtiges Gegenmotiv der verbre- cherischen Tat bilden, vorausgesetzt, daß der Täter mit seiner Entdeckung rechnet und Grund hat, an die Anwendung des Gesetzes zu glauben, voraus- gesetzt also, daß die Strafdrohung im potentiellen Täter die Furcht vor Strafe erregt. Je schwerer die Strafe wäre, desto geeigneter müßte sie dann für die Abschreckung von Verbrechen sein. Aber es gibt Fälle, in denen die Straf- drohung keinen Einfluß auf das Entstehen der verbrecherischen Tat ausübt: wenn der Täter nicht an die Anwendung der Strafe glaubt oder hofft, verbor- gen zu bleiben; ferner in allen jenen Fällen, in denen die Tat nicht unter Steuerung vom Ich her entspringt, sondern unter einer anderen Gewichts- verteilung zwischen den psychischen Instanzen entsteht. Dies wäre etwa der Fall bei jenen verbrecherischen Handlungen, die unter der Übermacht des Triebes entstehen; diese Übermacht ist relativ gegenüber dem Ich zu verstehen und kann sowohl durch eine besondere Stärke oder Steigerung des Triebes als auch durch eine Schwäche des Ichs hergestellt werden. Fer- ner ist solcher Taten zu gedenken, die unter dem wesentlichen Einfluß einer
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 108 Über-Ich-Forderung geschehen, wie z. B. der Vollzug der Blutrache in Län- dern, in denen dies als unabdingbares Gebot der Ehre gilt. Viele revolutionäre Handlungen gehören hierher, aber auch solche, die unter dem Einfluß einer Kastenmoral der Verbrecherschicht entstehen, u. dgl. m. Ferner sind jene Taten zu erwähnen, für welche primitive Ich-Mechanismen maßgebend sind, z. B. Verbrechen infolge von Aberglauben. Und schließlich gibt es verbre- cherische Taten, die aus Angst zustande kommen. In allen diesen Fällen wird die Gefahr der Strafe eine umso geringere präventive Wirkung ausüben, je geringer die Rolle des reifen Ichs beim Zustandekommen der Tat gewesen ist. Wenn dies sonach Beispiele dafür sind, daß die Strafe als Generalprävention versagt, so gibt es schließlich auch Fälle, in denen, so seltsam das dem populärpsychologischen Denken erscheinen mag, die Strafdrohung geeig- net ist, die Wahrscheinlichkeit einer verbrecherischen Handlung zu erhöhen. Unter den Kriminellen scheint es Psychopathen zu geben, auf die die Strafe selbst eine geheimnisvolle Anziehung ausübt; es sind dies Menschen, die die Gefängnismauern wie ein Refugium suchen, ferner Masochisten, die die Strafe lockt, oder Menschen, die durch ein Schuldgefühl, dessen Quelle ih- nen unbewußt ist, dazu geleitet werden, sich durch die Tat den Anspruch auf die ersehnte Strafe zu erwerben21. Man kann also sagen, daß die Strafe präventiv wirkt für die vom Ich her gesteuerten kriminellen Handlungen, einen geringen oder gar keinen Ein- fluß ausübt auf das unter Ausschaltung des Ichs zustandekommende Ver- brechen und anlockend wirkt auf die Taten jener Psychopathen, die bewußt oder unbewußt die Strafe suchen. Inwieweit sonach die Strafe im ganzen präventiv wirkt, hängt von der relativen Häufigkeit dieser Motivationen ab; dies ist eine rein empirische Frage. Man hat wahrscheinlich Recht, zu vermu- ten, daß die Zahl der ich-gesteuerten kriminellen Handlungen größer ist als die Zahl der psychopathischen Verbrechen, mit denen der Täter seiner Be- strafung zustrebt. Aber die genaue Erforschung all dieser Motivationen für die einzelnen Delikte ist Aufgabe künftiger psychologischer Untersuchung. Man ist darauf vorbereitet, daß das Ergebnis bei verschiedenen Verbrechen ein verschiedenes sein wird und dementsprechend die Strafe bei gewissen Verbrechen in ganz anderem Maße präventiv wirken wird als bei anderen, z. B. eine größere präventive Wirkung beim Verbrechen der betrügerischen Krida als bei Sexualverbrechen ausüben wird. Damit ist freilich nur eine Auf- gabe skizziert und noch keine Lösung gegeben, aber es scheint uns, daß es eine wichtige Leistung der Psychoanalyse ist, daß sich diese exakten Frage- stellungen aus ihr ableiten lassen. Als weiteres Beispiel für die Rolle, die die Psychoanalyse in der Strafrechtswissenschaft spielen kann, sei das positivistische Strafrechts-
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 109 programm erwähnt, wie es etwa im Ferrischen Strafrechtsentwurf in Italien vorgelegen ist. Den Vertretern der positivistischen Doktrin scheint es wün- schenswert, daß die Strafe überhaupt fallen gelassen werden solle und durch Sicherheitsmaßnahmen zur Selbstverteidigung der Gesellschaft gegen den Rechtsbruch zu ersetzen wäre. Kriterium für die strafrechtlichen Bestimmun- gen wäre dementsprechend ihre Zweckmäßigkeit für den Schutz der Gesell- schaft. Über die Wünschbarkeit dieser Militaristischen Zielsetzung an und für sich kann die Psychoanalyse natürlich keine Aussagen machen; sie bleibt wie bei allen Weltanschauungsfragen darauf beschränkt, die Psychologie dieser Weltanschauung zu untersuchen. Daß sie für die Frage der Zweckmä- ßigkeit der zum Schutz der Gesellschaft anzuwendenden Mittel wenn das Ziel einmal feststeht wichtige Auskünfte beitragen kann, muß nach dem Vor- gesagten nicht weiter begründet werden. Die mögliche Leistung der Psycho- analyse ist aber nicht auf diesen Beitrag beschränkt. Der Psychoanalytiker wird auf die Unvollständigkeit hinweisen, die solange in der Behandlung des Gegenstands vorliegt, als man sich nur mit dem aktuellen oder potentiellen Rechtsbrecher befaßt. Eine vollständige Lösung der Frage eines zweckmäßi- gen Schutzes der Gesellschaft wird nicht umhin können, alle Figuren des strafrechtlichen Vorgangs zu berücksichtigen; zu diesen gehören aber nicht nur der Verbrecher und die Vertreter der sich ihm gegenüber zur Wehr setzen- den Gesellschaft, sondern auch das Publikum. Was mit dem Rechtsbrecher geschieht, ist nicht nur ein Verfahren, das sich an diesem Individuum ab- spielt, sondern auch ein Verfahren, das seine Rückwirkung auf die große Masse der Nicht-Kriminellen hat. Die Strafe des Rechtsbrechers erleichtert es dem »anständigen« Menschen, seine asozialen Impulse zu beherrschen; denn wenn auch nur im Rechtsbrecher die asozialen Impulse bis zur Tat reifen, so sind doch solche Impulse an und für sich auch in anderen Men- schen vorhanden. Das Über-Ich des anständigen Menschen fordert die Be- strafung des Verbrechers; es scheint, daß jedes Verbrechen auf die Men- schen wie eine Art von Verführung wirkt, wie ein Anreiz für die eigenen gleichgerichteten Impulse, und daß erst die Bestrafung des Verbrechers das damit gestörte seelische Gleichgewicht des ehrenhaften Menschen wieder herstellt. Hie-zu kommt aber ein zweites: die Bestrafung des Verbrechers ist gleichzeitig eine erlaubte Befriedigung aggressiver Regungen der Menschen, und man kann nicht ohne weiteres voraussagen, welche Wirkungen es hätte, wenn diese Befriedigung fortfiele. Sonach ist die Strafe ein Bestandteil der seelischen Hygiene für alle, die nicht Verbrecher sind, erleichtert ihnen die Beherrschung ihrer asozialen Triebe22 und. die Überwindung der verführen- den Wirkung der verbrecherischen Handlung und ermöglicht ihnen ein Stück erlaubter aggressiver Triebbefriedigung. Diese Tatsache müßte von einer
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 110 vollständigen Untersuchung des positivistischen Programms berücksich- tigt werden. Das ist nun nichts prinzipiell Neues; in den Erörterungen über die positivistischen Prinzipien wurde immer wieder darauf hingewiesen, daß die Strafe überhaupt oder eine bestimmte Strafe vom »Rechtsbewußtsein des Volkes« gefordert werde, daß die Volksstimmung der Abschaffung der Strafe nicht günstig sei u. dgl. m. In allen diesen Argumenten verbirgt sich, was wir als die Rolle der Strafe für die psychische Hygiene des Nicht-Verbre- chers bezeichnen möchten. Wenn also eine vorwissenschaftliche oder po- pulär-psychologische Einsicht in diese Fragen besteht, so darf doch von der psychoanalytischen Untersuchung der Probleme an Hand empirischer For- schung eine Förderung erwartet werden. Schließlich seien noch als letztes Beispiel für mögliche Anwendun- gen der Psychoanalyse in der Rechtswissenschaft die Begriffe der Unzu- rechnungsfähigkeit, beziehungsweise der verminderten Zurechnungsfähig- keit genannt. Die nicht-psychiatrische Öffentlichkeit ist geneigt zu glauben, daß es sich dabei um feststehende und psychiatrisch klar definierte Begriffe, gleichsam um Entitäten handle, und richtet ihre Kritik daher nicht selten gegen die schwankenden Gutachten der Gerichtspsychiater. In Wahrheit steht es sehr wenig fest, nach welchen konkreten wissenschaftlichen Tatsachen gefragt ist, wenn man den Psychiater um sein Gutachten ersucht. Es handelt sich bei den landläufigen Begriffen der Unzurechnungsfähigkeit als Straf- ausschließungsgrund oder der verminderten Zurechnungsfähigkeit als Straf- milderungsgrund um den Niederschlag populärpsychologischer Vorstellun- gen und einer populären Anthropologie von der schrankenlosen Freiheit des gesunden Menschen und der Gebundenheit des Kranken. Die Wissenschaft vom menschlichen Handeln vermag diese Vorstellungen nicht zu den ihrigen zu machen. Hier liegt auch der Grund für die Schwierigkeit, der der Psychiater jeweils bei seinem Gutachten gegenübersteht und für die Unbestimmtheit vieler solcher Gutachten. Juristen scheinen den Begriff der Unzurechnungs- fähigkeit für einen psychiatrischen Begriff zu halten; die Psychiater hinge- gen zweifeln nicht daran, daß er eine juristische Kategorie sei23 . An und für sich ist es natürlich denkbar, vom Standpunkt irgendeiner strafrechtlichen Zielsetzung aus kriminelle Taten verschieden zu werten und verschiedene Methoden des Verhaltens der Gesellschaft ihnen gegenüber zu empfehlen, je nachdem, an welcher Stelle der psychischen Persönlichkeit sie entsprungen sind, welche Anteile die psychischen Instanzen an ihrem Zustandekommen haben, wie das Ich dieses Menschen beschaffen ist u. dgl. m. Eine solche Differenzierung in der moralischen Wertung und in der Technik des Um- gangs mit dem Rechtsbrecher erscheint gerechtfertigt und erforderlich, so- wohl für eine moralische als auch für eine utilitaristische Norm. Für die sittli-
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 111 che Wertung mag es relevant sein, ob die Tat durch den freien Entschluß eines Ichs zustande gekommen ist, dem die Einsicht in ihre sittliche Verwerf- lichkeit zugemutet werden kann, oder ob sie etwa einem Affektsturm ihre Entstehung verdankt, oder ob sie von einem Menschen vollbracht wurde, dessen Ich an sich im Gefüge der seelischen Instanzen eine sehr unvollstän- dige Reifung erlangt hat; die Forderung nach Sühne, Strafe oder Buße mag dann je nach den Umständen abgestuft sein und gegebenenfalls auch völlig verschwinden. Nicht minder gerechtfertigt ist im Prinzip diese Differenzie- rung für ein positivistisches Strafrecht. Die Gefährlichkeit des Täters ist je nach der Struktur seiner Tat verschieden zu beurteilen, ebenso die verfüh- rende Wirkung auf andere; andere Methoden des sozialen Schutzes mögen bei anderen Taten zweckmäßig erscheinen. Die Grundlagen für eine solche Wertung oder Entscheidung sind aber jedenfalls in einer wissenschaftlichen Einsicht in die Psychologie der Tat zu suchen. Es scheint angemessen, nach der Psychologie der Menschen zu fra- gen, die an den populären Begriffen von Zurechnungsfähigkeit und Unzu- rechnungsfähigkeit festhalten. Ein Stück Selbstprüfung wird uns darüber belehren, daß wir zögern, den sogenannten Unzurechnungsfähigen zu ver- urteilen, da wir verspüren, daß »wir« unter den gleichen Bedingungen nicht anders gehandelt hätten; wir würden ein Urteil über uns selbst aussprechen, wenn wir ihn bestraften. So fordern wir den Freispruch des geisteskranken Täters, denn Geisteskrankheit kann auch uns widerfahren und dann wären wir gegen Bestrafung nicht gefeit. Wir neigen zur geringeren Bestrafung eines Menschen mit einem starken Triebimpuls, denn wir fühlen, wären wir diesem Impuls ausgesetzt, wären auch wir vielleicht zum Verbrecher gewor- den. Oder wir fordern Strafausschluß oder Strafmilderung für Täter, deren Intelligenz eine so geringe ist, daß sie die Folgen ihrer Handlung nicht über- sehen konnten; wäre unsere Intelligenz so mangelhaft, so möchten auch wir zum Verbrecher werden und würden so uns selbst mit verurteilen, wenn wir das Verdikt über den schwachsinnigen Täter aussprächen. Es handelt sich also offenbar um eine partielle Identifizierung des Richters24 mit dem Verbre- cher. Man identifiziert sich mit dem Verbrecher soweit, daß man gleichsam eine hypothetische Person konstruiert, welche das Es des Täters enthält, ferner Teile seines Ichs (seine primitiven Ich-Mechanismen, wie z. B. seinen Aberglauben, ferner seine Intelligenz und Bildung), und dann hiezu das üb- rige Ich des Richters setzt. Wir fragen uns dann, ob diese hypothetische Person die Tat begangen hätte oder nicht; wird diese Frage bejaht, so war der Täter unzurechnungsfähig oder doch vermindert zurechnungsfähig; haben wir aber das Gefühl, »wir« hätten die Tat auch dann nicht begangen, so mag man den Täter getrost als zurechnungsfähig betrachten.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 112 Man sieht, daß der landläufige und im Rechtsbewußtsein des Volkes tief verwurzelte Begriff der Zurechnungsfähigkeit wenig zu tun hat mit der wirklichen Untersuchung der psychologischen Natur der Tat und daß die populärpsychologischen Vorstellungen, auf die er begründet ist, einer Vor- sichtsmaßregel entspringen, kein Verdikt über uns selbst auszusprechen. Welches freilich die Gründe sind, daß wir gerade diese partielle Identifizie- rung vornehmen, d. h. warum wir gerade einen Kern der Person behalten und gewisse Schichten von der Persönlichkeit des Verbrechers uns im Gedanken- experiment aneignen, ist ein psychologisches Problem für sich, dessen Erör- terung an dieser Stelle zu weit führen würde. Nach dem Gesagten erscheint es begreiflich, daß wir der psychoana- lytischen Erforschung der Tatstruktur die Aufgabe zuweisen, für jede Art strafrechtlicher Zielsetzung, moralischer oder utilitaristischer, die Grundla- gen für einen wissenschaftlichen Begriff der »Zurechnungsfähigkeit« zu schaffen. Es ist aber eine Frage für sich, die damit noch nicht im geringsten berührt ist, ob es möglich oder angezeigt erscheint, das geltende System durch ein solches neues, wissenschaftlich fundiertes, zu ersetzen; denn das geltende System ist in den psychologischen Bedürfnissen der Menschen verwurzelt und wir haben in dem früheren Beispiel darauf hingewiesen, daß und warum jede strafrechtliche Reform nicht umhin kann, alle Konsequenzen auf die Nicht-Täter in Berücksichtigung zu ziehen. Diese drei Beispiele waren willkürlich herausgegriffen, um die Natur der möglichen Anwendungen psycho-analytischer Forschung auf Rechtsprobleme anzudeuten. Wenn wir an Stelle der definitorischen die exemplarische Kennzeichnung des psycho- analytischen Anwendungsgebiets gewählt haben, so mag für diesen Man- gel als Entschuldigung geltend gemacht werden, daß sich die psychoanaly- tische Problematik in voller Entwicklung befindet und daß eine exakte Ab- grenzung ihres möglichen Anwendungsbereichs auf andere Wissenschaf- ten vielleicht verführt ist. Doch möchte auch die Beschreibung durch Bei- spiele einen Eindruck von der Natur der auftretenden Probleme und Lösungs- möglichkeiten vermitteln. Anmerkungen 1 Freud: Ges. Schr., Bd. I bis XII, 1924 bis 1934. 2 Triebe und Triebschicksale, Ges. Schr., Bd. V, S. 447. 3 Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens, Ges. Schr. Bd. V, S. 409 ff. 4 Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanaly- se, S. 124; Ges. Schr., Bd. VII, S. 44.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 113 5 Der Terminus reifes Ich" enthält an und für sich noch keine Wertung. Er entspricht nur dem Sachverhalt, daß in der Entwicklung des Individuums das Ich in der Kindheit gewisse Stufen, z. B. der Magie, durchläuft und daß diese Reaktionen mit der Erreichung des Erwachsenenalters zum großen Teil abgebaut und insoweit durch andere ersetzt werden. Es steht natürlich frei, die kindlichen Strukturen höher und die Reife als Verfall zu werten. Freilich steht eine solche Wertung in Widerspruch zu der Wertung Leben soll sein", da, wie sich leicht zeigen läßt, eine Gesellschaft, in der sich alle Menschen nur auf Grund der primitiven Methoden des Ichs verhalten, unrettbar zugrundegehen müßte. Im übrigen darf man wünschen, daß eine solche Weltanschauung auf terminologische Tarnung verzichte und konsequent Erwachsensein mit negativem Wertakzent versehe. 6 Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 111; Ges. Schr., Bd. XII, S. 234. 7 Die Beziehungen der Psychoanalyse zu Weltanschauungsfragen sind er- schöpfend erörtert bei Hartmann: Psychoanalyse und Weltproblem, Imago, Bd. XIV, 1929, S. 421 ff.; Psychoanalyse und Weltanschauung, Psychoanaly- tische Bewegung, V. Jg., 1933, S. 416 ff. 8 Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 250; Ges. Schr., Bd. XII, S. 342. 9 Totem und Tabu, 1. Aufl., 1912; Ges. Schr. Bd. X, S. 3ff. 10 Zeitgemäßes über Krieg und Tod, Imago, Bd. V, 1915; Ges. Schr., Bd. X. 11 Massenpsychologie und Ichanalyse, 1. Aufl., 1921; Ges. Schr., Bd. VI, S. 259 ff. 12 Die Zukunft einer Illusion, 1. Aufl., 1927; Ges. Schr., Bd. XI, S. 411 ff. 13 Das Unbehagen in der Kultur, 1. Aufl., 1930; Ges. Schr., Bd. XII, S. 27 ff. 14 Einstein und Freud: Pourquoi la guerre? (In deutscher, französischer und englischer Sprache.) Publications de Institut International de Cooperation Intellectuelle, Societe des Nations, vol. 3, 1933. Der Brief Freuds ist auch enthalten in Ges. Schr., Bd. XII, S. 347ff. 15 Freilich ist nicht jedes menschliche Verhalten sozial relevant; doch ist das sozial relevante Verhalten von anderem nicht durch andere Kriterien als eben das der sozialen Relevanz unterscheidbar, so daß eine Wissenschaft, die sich nur mit dem sozial relevanten Verhalten beschäftigt, nicht möglich ist. 16 Die Meinungsverschiedenheit über die Frage, ob etwa ein Staatsmann zum Krieg schreiten wird, reduziert sich oft darauf, welche von diesen beiden Voraussetzungen für gegeben gehalten wird. 17 Ein Umsturz des politischen Systems ist nach dem Krieg nur in jenen Staaten erfolgt, in denen die alten Herrschenden eine Niederlage durch den äußeren Feind erlitten haben. Die Niederlage der Führung hat
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 114 18 Man findet ein eindrucksvolles Beispiel für diesen Vorgang in der Entwick- lung des ägyptischen Mythos, beschrieben von Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil; Das mythische Denken, 1925, S. 205 f. 19 Die Störung der Realitätsprüfung tritt in extremer Form in den sogenann- ten Massenpsychosen auf, in geringerem Maß ist sie aber jeder Massen- situation notwendig eigentümlich. $ ihrem sittlichen Tun ab. Die Gunst des Osiris, des Totengottes, die in den früheren ägyptischen Texten durch zau- berische Gebräuche erzwungen wird, erscheint später durch das »Gericht des Osiris über Gute und Böse ersetzt«. Wir sehen hier ein Stück Überwin- dung des Mythos durch Ethos; das Schuldgefühl ist gestiegen und mit dem wachsenden Ichbewußtsein auch eine adäquatere Erfassung der Realität erreicht. Hier sind z. B. die paranoiden Ideenbildungen zu nennen, die bei den verschiedenen politischen Parteien auftauchen, wie die Vorstellung von der geheimnisvollen Macht, z. B. der Jesuiten oder der Freimaurer. Ideen dieser Art würden bei Individuen außerhalb der Massensituation als Wahnideen bezeichnet werden; die Massensituation schafft jedoch durch die oben er- wähnten Umstände Bedingungen, die solche Ideen entstehen lassen, ob- wohl die Mitglieder der Masse psychisch gesund sind. 20 Hierher gehören z. B. die Probleme, die durch die Erweiterung der Demokra- tie zur Massendemokratie entstanden sind. Auch die ältesten und entwickeltsten Demokratien unserer Tage können, wenn sie die Entschei- dung der Wählermassen aufrufen, massenpsychologischer Mittel nicht entraten; d. h. aber, daß auch sie nicht die Existenz und Arbeit der Gesell- schaft allein durch die Entscheidung des reifen Ichs ihrer Bürger sichern können, sondern jene anderen Mittel zur Anwendung bringen müssen. 21 Eine künstlerische Gestaltung dieses Motivs liegt in Dostojewskis Raskolnikoff vor. 22 Die Strafe hat den Zweck, den zu bessern, welcher straft das ist die letzte Zuflucht für die »Verteidiger der Strafe« (Nietzsche). 23 Bezeichnend dafür ist, daß ein sehr berühmter Psychiater in seiner Vorle- sung seinen Hörern zu sagen pflegte, es gebe nur eine brauchbare Definition des Begriffs der Unzurechnungsfähigkeit: unzurechnungsfähig sei, wer von einem ordentlichen Gericht dafür erklärt wurde. 24 Unter »Richter« meinen wir hier natürlich nicht nur den beamteten Funk- tionär der Rechtsprechung, sondern das ganze Publikum, das mit seinem »Rechtsbewußtsein« an der Judikatur teilhat. Aus: Almanach der Psychoanalyse 1937, S. 130-159.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 115 Heinrich Meng Die Stellung der Wissenschaft zu Freuds 80. Geburtstag Die Anregung, zu überprüfen, wie, gemessen an den Kundgebungen der außermedizinischen Welt, sich die Ärzte und Fachpsychologen anläßlich des 80. Geburtstags Sigmund Freuds geäußert haben, läßt sich jetzt erst verwerten; es erschienen im Laufe der letzten Wochen immer wieder Ab- handlungen, die zu dem Menschen Freud und seinem Werk Stellung nah- men. Im Gegensatz zu den 300 internationalen Dichtern und Künstlern, die in ihrer gemeinsamen Glückwunschadresse dem Initiator eines neueren und tieferen Wissens vom Menschen« die Ehrfurcht aussprachen, ist uns nichts bekannt geworden, was auf eine Ähnliche, einheitliche Aktion der internatio- nalen Ärzte und Fachpsychologen schließen läßt. Allerdings haben Univer- sitäten und wissenschaftliche Gesellschaften, in denen Freud Ehrenmitglied ist, dem Geburtstagskind Glückwunschadressen gesandt. Der Wiener For- scher ist unter anderem Doctor honoris causa der Clark University, Worcester, Ehrenmitglied der Nederlandsche Vereenigung voor Psychiatrie en Neurolo- gie«, des Vereins für Psychiatrie und Neurologic in Wien«, der Royal Society of Medicine« und der Schweizer Gesellschaft für Neurologie und Psychia- trie. Die Wiener Universität sandte ein Schreiben des Dekans der Medizi- nischen Fakultät, Prof. Kerl, das die Glückwünsche des Professorenkollegiums ausdrückte. Überhaupt scheint in Wien selbst die Kundgebung der Wissen- schaftler zum 6. Mai am stärksten gewesen zu sein. Wagner-Jauregg, der erfolgreiche Bekämp-fer der Paralyse und Nobelpreisträger, L. Binswanger, der schweizerische Psychiater und Philosoph, der Neurologe Otto Marburg und Otto Pötzl, der Leiter der Wiener Universitätsklinik, ein bekannter Schlaf- forscher, haben in einer gemeinsamen Kundgebung des Akademischen Ver- eins für medizinische Psychologie« zu Ehren Freuds gesprochen. In einem Aufsatz, den Pötzl zum 6. Mai schrieb, heißt es am Schluß: »Freud hat einmal erklärt, die Psychoanalyse habe für den, der sie betreibt, auch bildende Kraft, und er hat dies an sich selbst an der Kultur seiner Persönlichkeit in höchstem Maße bewiesen. Denn dieser unerschöpfliche Mensch ist groß in jeder Si- tuation, er ist ein Genie, aber am größten ist er im Gespräch. Da empfängt man von ihm einen überwältigenden Eindruck. Und ich meine, keine bessere Schil- derung des Erlebnisses geben zu können, das man in seiner Gegenwart hat, als indem ich freimütig bekenne: Ich habe jedesmal den Eindruck, so bedeut- sam hat vielleicht der alte Goethe gesprochen.« Aus Raumgründen wird über die anderen wissenschaftlichen Kundgebun- gen, die in London, Prag, an der Sorbonne in Paris und andernorts stattfan-
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 116 den und aus den Publikationen, die daran anschließend erfolgten, nicht be- richtet .... Bemerkenswert ist, daß, soweit wir die wissenschaftliche Literatur und die Tagespresse nachprüfen konnten, in Deutschland der 6. Mai über- gangen wurde. In den drei letzten Jahren wurde im Dritten Reich Persönlich- keit und Lehre aufs schärfste bekämpft, ohne daß eine Möglichkeit wissen- schaftlicher Diskussion gegeben war. Die Bücher selbst stehen auf dem In- dex und wurden zum Teil verbrannt. [Es folgen Zusammenfassungen von Sonderheften und Jubiläumsveranstal- tungen zu Freuds 80. Geburtstag] Die Durchsicht der Fachpublikationen zeigt, daß die fachwissenschaftliche Welt den 6. Mai 1936 dazu benützt hat, diesem großen Lebenden den Dank abzustatten, der sonst meist nur einem Menschen zuteil wird, dessen funda- mentale Bedeutung erst nach Jahrzehnten seines Wirkens erkannt wird. Aus: Almanach 1937, S. 252-258.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 117 Zum Gedenken an Harro Wendt
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 118 Prof. Dr. med. habil. Harro Wendt prägte zwischen 1961 und 1986 die Entwicklung des heutigen Fachkrankenhauses Uchtspringe
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 119 Volkmar Lischka Abschied in Respekt vor einem großen Lebenswerk Der langjährige Uchtspringer Krankenhausdirektor Prof. Dr. med. habil. Harro Wendt ist am 19. Januar 2006 im Alter von 87 Jahren verstorben. Er leitete zwischen 1961 und 1986 die Geschicke des heutigen Fachkranken- hauses und hat sich dabei nachwirkende Verdienste erworben, insbeson- dere bei der systematischen Einführung psychotherapeutischer Behand- lungsmethoden in die klinischen Konzepte. Gemeinsam mit seinen Familien- angehörigen nahmen Krankenhausmitarbeiter, Weggefährten und Freunde am 26. Januar 2006 bei einer Trauerfeier in Uchtspringe Abschied. Der Verstorbene wurde anschließend mit einem Trauerzug noch einmal durch seine frühere Wirkungsstätte begleitet, bevor er auf dem Gemeindefriedhof Uchtspringe die letzte Ruhestätte fand. Professor Harro Wendt wurde am 7. September 1918 in Arnswalde in der Neumark, wie er immer zu betonen wusste, geboren. Sein Vater gehörte schon in der 3. Generation einer Buchdruckerfamilie an und war selbst Zeitungsver- leger. Harro war der Jüngste von drei Geschwistern. Den Vater schilderte er oft als einen distanzierten kühlen Menschen. Die Scheidung der Eltern nahm er bedrückend wahr. Wie er erzählte, sei er in diesem Zusammenhang einmal kurz in einem Kinderheim gewesen. In Arnswalde dann besuchte er drei Jahre die Grundschule, daran anschließend das Reformrealgymnasium, wo er 1937 das Abitur ablegte. Nach dem Arbeitsdienst trat er 1939 in das Sanitätskorps ein. Er konnte damit das gewünschte Medizinstudium in Leipzig beginnen, unterbrach das Studium und wurde als Sanitätsfeldwebel für die Jahre 1942 und 1943 nach Italien entsandt. Er kehrte von dort wieder zurück nach Leipzig und wurde im Zu- sammenhang mit den Kriegsereignissen erneut als Sanitätsfeldwebel nach Wien kommandiert. Trotz der Wirren der schweren Zeit heiratete er 1943 seine Frau Margit, die ebenfalls Medizin studierte. Nach dem Kriegsende kam Harro Wendt aus Wien zurück nach Leip- zig, war dort zunächst als Kriegsgefangener ärztlich in Lazaretten tätig. Der ihm ausgesprochenen »Notapprobation« als Arzt, die er 1945 erhalten hatte, traute er nicht und legte deshalb freiwillig 1949 in Leipzig ein reguläres Staats- examen ab. Die Familie vergrößerte sich in diesen Jahren. Im Januar 1945 wurde sein Sohn Volker geboren, im März 1946 sein Sohn Ulrich und im Januar 1948 seine Tochter Maja. Nach dem Krieg promovierte er an der Universitätskinderklinik Leip- zig über ein Thema aus der Kinderneurologie. An den Krankenhäusern Wurzen
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 120 und Weißenfels war er als Stationsarzt tätig und versorgte auch in den Jah- ren 1948 und 1949 eine vakante Allgemeinpraxis eines Leipziger Arztes. Für diese Zeit erinnere ich Gespräche, in denen er uns schilderte, wie die Not der Familie durch Hamsterfahrten mit Fahrrad aufs Land gemildert und die Be- schaffung von Brennmaterial organisiert wurde. Im Mai 1949 begann Harro Wendt dann seine akademische Laufbahn an der Universitätsnervenklinik Leipzig, wo er seine nervenärztliche Fach- arztausbildung aufnahm. 1953 wurde er Oberarzt der psychotherapeutischen Abteilung der Nervenklinik der Karl-Marx-Universität Leipzig. Mit der Arbeit »Schlaftherapie als Hilfsmittel der Behandlung von Neurosen« habilitierte er dort 1960. Schon vorher war er in Forschungsaufgaben »zur höheren Nerven- tätigkeit« unter Professor Hegemann eingebunden und weilte zu Studienauf- enthalten in den Nervenkliniken in Bukarest und Tübingen. 1959 war er zum Dozenten berufen worden und wurde 1965 nebenamtlicher Professor mit Lehr- auftrag für Psychiatrie und Neurologie an der Medizinischen Fakultät der Karl-Marx-Universität Leipzig. Das besondere Verdienst von Harro Wendt lag während der Leipziger Zeit in seiner Aktivität bei der Begründung einer eigenen Abteilung für Psychotherapie. Hier arbeitete er zusammen mit seiner Frau Margit, die Oberärztin dieses Bereiches war und mit der er neben der gemeinsamen Freude über das gedeihliche Aufwachsen der Kinder auch seine beruflichen Leidenschaften teilte. Aus Gesprächen weiß ich, dass es aufgrund konzeptioneller Diskre- panzen zwischen Wendt und dem damaligen Ordinarius der Nervenklinik in Leipzig Müller-Hegemann zu Spannungen kam. Es waren sowohl die differie- renden Auffassungen über die Lehrmeinungen Schultz-Henckes wie auch das sich politisch verschärfende universitäre Klima, womit er nicht mehr einverstanden war. Wie er einmal sagte: »In das politische Zeremoniell an den Universitäten und Akademien wollte ich mich nicht mehr weiter einbin- den lassen und möglichst weit weg von Weisungsinstanzen sein.« Dies war für die Entwicklung unseres Krankenhauses, für die Mitarbeiter, besonders aber für die Patienten dieser Region ein großes Glück. So kam die Familie Wendt am 1. April 1961 in Uchtspringe an. Die Frage, warum die Wahl gerade auf diese abgelegene Klinik am Rande der Colbitz-Letzlinger Heide fiel, beantwortete Harro Wendt selbst einmal so: »Meine Frau hatte die trübe gewordene Großstadt Leipzig satt. Meine Kinder waren von der Freiheit in der Landschaft begeistert. Mir gefiel an Uchtspringe die schon von Professor Alt stammende Offenheit der Kli- nik.« (Quelle: »100 Jahre Uchtspringe«) Die neue Aufgabe forderte Professor Wendt sehr. Er fand eine Klinik vor mit sieben Ärzten, darunter ein Zahnarzt und zwei Pathologen bei mehr als 1800 Patienten.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 121 Er richtete noch in den 60-er Jahren die erste psychotherapeutische Abteilung der DDR ein, die bevorzugt psychoanalytisch orientiert arbeitete. Seine Vorlesungen in Leipzig, Gastvorlesungen in Dresden und nicht zuletzt die Mundpropaganda waren es, die das akademische Personal auf über 30 anwachsen ließ. Aus Leipzig folgten ihm aus Leipzig unsere verstorbene Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie Frau Dr. Rose-Marie Kummer, unser später leitender Psychologe Dr. Infrid Tögel und Dr. Konstantin von der Herberg als ehemaliger Chefarzt der hiesigen Neurologischen Klinik. Es war seine fachliche Ausstrahlung, die anzog. Wendt war keiner, der schnell auf die Menschen zuging. Wir hatten alle erst eine gewisse Di- stanz zu ihm. Es war die Autoritätsschwelle. Wenn man sie überwunden hatte, erkannte man den gütigen, absolut zuverlässigen und beschirmenden Menschen. Öffentlich gab er sich meist kantig, aber er war nicht laut. Er kannte die Spielbreite, die ihm Uchtspringe in der von ihm gesuchten Abge- schiedenheit von Weisungsebenen zuließ, gut. Das war hilfreich. Professor Wendt arbeitete als ein Ärztlicher Direktor mit Letztverantwortung für alles, vom Wasserwerk über die Wohnungsvergabe bis hin zur Versorgung mit Medikamenten oder medizinischem Verbrauchsmaterial. Seine fachliche Kom- petenz und das geschickte Heranfinden an Entscheidungsträger sicherten, dass es die Hauptaufgabe des Hauses blieb, psychisch Kranke zu versorgen und nicht im Dschungel ideologischer Phrasen und Kampagnen fachlich den Boden zu verlieren. Harro Wendt konnte quer denken, lange Gehabtes in Frage stellen, analysierte jedoch dabei sehr genau, ehe er Veränderungen traf. Bewunde- rung hat sein ganz persönliches Handeln um die Neuordnung der Betreuung geistig schwerstgeschädigter Langzeitpatienten gefunden. Auf einer solchen Station wurde er selbst als Stationsarzt tätig und durchbrach das auf »satt und sauber« gerichtete Stereotyp der Versorgung und Sicherung. So ent- deckte z.B. unser Patient Rudi K. Lieblingsbeschäftigungen in der Arbeits- therapie, lernte Distanz halten, kam auf freundliches Ansprechen zum Schmu- sen, lernte Freude und Ärger angemessen zu zeigen und war nur noch selten in Überforderungssituation autoaggressiv. Wendt war auch ein leidenschaftlicher Verfechter, der, wie man heute sagen würde, Enthospitalisierung. Wir hatten mit ihm zusammen ein Konzept entwickelt, wonach diese Klinik bei 1850 Betten nur noch über 480 zur Akut- versorgung verfügen sollte. Alles andere an psychiatrischer Betreuung der Region hätte sich in Komplementäreinrichtungen leisten lassen. Mit der Entwicklung der Außenstellen in Landwirtschaft und Indu- strie war Uchtspringe führend im rehabilitativ-psychiatrischen Bereich. Die Entwicklung eines Dispensairesystems mit zahlreichen ambulant tätigen Kran-
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 122 kenhausärzten in den Polikliniken sicherte die Nachbetreuung und verhin- derte schnelle Wiederaufnahmen. Professor Wendt war der Verfechter einer konsequent mehrdimensionalen Betrachtungsweise des Krankseins. Seine Auffassung von der Entwicklung des Krankenhauses war fundiert aus sei- ner Anschauung, dass die Grundlage unserer Krankenversorgung die Psych- iatrie und Neurologie sei. Er lehrte uns, dass bei allen Krankheiten in be- stimmter Weise Psychotherapie indiziert ist. Wir lernten aber auch, dass einer ausschließlichen Psychotherapie Grenzen gesetzt sind und dass es eine hoch- spezialisierte Form der Psychotherapie gibt, die ihre bestimmten Indikatio- nen hat. Die Entwicklung der Abteilung für Psychotherapie, die wir unter der legendären Bezeichnung »die 37« bis heute wahrnehmen, gehörte zu den wichtigsten Meilensteinen, die wir Professor Wendt verdanken. Noch heute sind unter den alten Insidern die Visiten mit ihm ein Begriff. Sie waren ge- wünscht, verflucht, gefürchtet, ersehnt, zermürbend, beruhigend, belastend, entlastend, harsch und freundlich, vernichtend und wertschätzend: Sie wa- ren eben dynamisch. Professor Wendt war nicht eingegrenzt auf spezialisier- tes psychotherapeutisches Arbeiten. Er verstand es, die Mitarbeiter in ihren Interessen zu entwickeln und ihre Talente zu erkennen. Professor Wendts Ausstrahlungskraft auf die Mitarbeiterschaft trug prägend dazu bei, sie mit psychotherapeutischem Denken auszurüsten und auf Arbeitsgebiete hinzu- führen, deren Veränderung er als notwendig erkannt hatte. So entstanden die Stationen zur Behandlung von Suchtkranken, die Fördereinrichtung für ge- hörlose oligophrene Kinder, eine geschlechtergemischte Station für psych- iatrische Patienten sowie die tiefenpsychologisch orientiert arbeitende Stati- on für Kinder und Jugendliche. Es war ein ungeheurer Arbeitsumfang, den Professor Wendt zu lei- sten hatte und geleistet hat. Neben dieser seiner praktischen Arbeit behan- delte er auch immer selbst Patienten und war für alle seine Schüler und Assi- stenten erreichbar. Die Uchtspringer Problemfallseminare haben in der Fach- öffentlichkeit der DDR Geschichte geschrieben. In seinem Verzeichnis wis- senschaftlicher Arbeiten finden sich weit über 100 Vorträge und Publikatio- nen. Er war Vorsitzender zahlreicher psychiatrischer Fachgesellschaften und anderer wissenschaftlicher Gremien der DDR. Wir haben Prof. Wendt in seinem beruflichen Engagement nicht als karriereorientiert erlebt. Für ihn war es vielmehr wichtig, seine inneren Ziele zu verwirklichen. So schlug er beispielsweise Berufungen auf Lehrstühle in Leipzig und Magdeburg aus. Sein wissenschaftliches Interesse richtete sich vielmehr auf praxisorientierte Fragestellungen und Lösungswege. Dabei war ihm die wissenschaftliche Literatur, soweit sie ihm in der DDR zugänglich war, außerordentlich wichtig. Wohl auch deshalb hat Harro Wendt im Alter unter der zunehmenden Beeinträchtigung seiner Sehkraft sehr gelitten.
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 123 Seine letzte Lebensphase verbrachte er in einem Pflegeheim in Haldens- leben, das wegen der Nähe zu seiner Tochter ausgesucht war. Die Verände- rungen, die ihn damit trafen, konnten sich aber nur auf die Regelung physi- scher Bedürfnisse richten. Er fand in den anderen Lebensrhythmus nicht recht hinein, wünschte stets die Rückkehr nach Uchtspringe, die ihm aus eigener Kraft nicht mehr möglich war. Professor Wendt war eine großartige Persönlichkeit, deren Besonder- heit sein Schüler Infrid Tögel in einem Interview einmal so beschrieb: »Wendt ist zuerst Wendt, dann Arzt, dann Psychotherapeut, dann Analytiker.« Als wissenschaftlicher Lehrer und bis über das Ruhestandsalter hinaus tätiger Arzt ist er für viele unserer Mediziner und klinisch tätigen Psychologen Leit- bild geworden. Er war ein kritischer Geist, der Neues aufmerksam analysierte, aber nie ungeprüft übernahm, weil er den eigenen Visionen, Kompetenzen und Erfahrungen vertraute. Er war ein Mann, der auch unter widrigen Um- ständen stets den Mut zur Veränderung fand. Mit seiner unbequemen Be- harrlichkeit prägte Professor Wendt in Uchtspringe Strukturen, Inhalte und Werte, die es zu bewahren, zu nutzen und weiter zu entwickeln gilt. Anschrift des Verfassers: MR Dr. med. Volkmar Lischka, Fachkrankenhaus Uchtspringe, Kraepelinstr. 6, 39599 Uchtspringe. E-mail:
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Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 125 Diskussion
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Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 127 Michael Schröter Alexander Etkind über Max Eitingon: Ein kurzer Protest Alexander Etkind hat in seinem Buch Der Eros des Unmöglichen die 1988 aufgekommene These unterstützt, daß Max Eitingon, der Gründer des Berli- ner Psychoanalytischen Instituts und langjährige Präsident der Internatio- nalen Psychoanalytischen Vereinigung, ein Geheimagent Stalins gewesen sei (vgl. Draper 1988; Schröter 1997). In seinem Beitrag zu Bd. 1 der Uchtspringer Schriften wiederholt er diese längst widerlegte Legende zwar nicht direkt, aber er streut weiter Hinweise aus, die in dieselbe Richtung deuten und den »Fall« Eitingon als »mysteriös« hinstellen (Etkind 2003, S. 82-84). Als Kenner des Lebens und Wirkens von Eitingon (siehe Schröter 2004) fühle ich mich verpflichtet, das Publikum darüber aufzuklären, daß die- se Hinweise irreführend sind. Ich gehe sie kurz der Reihe nach durch: 1. Daß der Salon, den das Ehepaar Eitingon zeitweise führte (Belege gibt es eigentlich nur für 1922), »sozialistisch« gewesen sei, wird durch keine Quelle, die ich kenne, bestätigt – übrigens auch nicht durch diejenigen, die Etkind in seinem Buch zitiert (1993, S. 316-318). 2. Vermutlich war Max Eitingon in der Tat irgendwie mit Naum Eitingon verwandt, der als Organisator der Ermordung Trotzkis eine traurige Berühmt- heit erlangt hat. Aber welcher Art die Verwandtschaft gewesen sein könnte, ist völlig ungeklärt; über Verbindungen zwischen Naum, der in Rußland leb- te, und Max, der 1893 mit seiner Familie nach Leipzig emigriert war, wissen wir nichts. Und was würde eine solche Verwandtschaft beweisen? 3. Daß die weltweit operierende Pelzhandelsfirma der Familie Eitingon große Geschäfte mit der Sowjetunion machte, wurde schon in den 1920er Jahren in der New York Times berichtet. Max Eitingon war als Sohn des Gründers an der Familienfirma beteiligt, aus deren Gewinnen er sein haupt- sächliches Einkommen bezog, hatte aber mit der Führung der Geschäfte nichts zu tun. Es bleibt Etkinds Geheimnis, warum die spezielle Tatsache, daß ein Teil der Eitingonschen Firmengewinne aus dem Import russischer Pelze stamm- te, für die Geschichte der Psychoanalyse von Belang (»important«) gewesen sein soll. 4. Etkind vermeidet diesmal die erkennbare Unterstellung, daß Eitingon mit den sowjetischen Machthabern in einem Komplott zusammengearbeitet habe, das die Tochter Trotzkis in den Selbstmord trieb (siehe Etkind 1993, S. 475f., Anm. 121). Aber er spricht weiter von einem tödlichen »double bind, constructed by both the analyst and the Soviet State«, und behauptet: »The analyst could have been Eitingon himself, or more probably someone under
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 128 his professional influence.« Ich habe schon früher darauf aufmerkam ge- macht (Schröter 1997, S. 467), daß der »Analytiker« von Sinaida Trotzki Ar- thur Kronfeld war, ein Anhänger von Adler und professioneller Gegner der Freudianer (er emigrierte 1936 in die Sowjetunion). Die Konstruktion von Etkind ist, was Eitingon betrifft, absurd und ein Beweis für seine Bereitschaft zur Spekulation, ohne Rücksicht auf die historische Evidenz. Ich bedaure es, daß Etkind auf meinen veröffentlichten Widerspruch zu seinen Thesen ad Eitingon (Schröter 1997) gar nicht eingeht und lieber den Ausweg wählt, anstelle der klaren Vorwürfe, die er früher riskierte, eine vage Aura der Verdächtigung zu verbreiten. Seine Indizien dafür sind so windig wie eh und je. Er sollte die Eitingon-Legende, solange er keine neuen Belege hat, endlich dem Vergessen anheimgeben, das sie verdient. Literatur Draper, Th. 1988. Das Rätsel des Max Eitingon. Psyche, 51: 428-456. Etkind, A. 1993. Eros des Unmöglichen. Die Geschichte der Psychoanalyse in Rußland. Leipzig: (G. Kiepenheuer. Etkind, A. 2003. To the east of Freud’s Vienna in the previous turn of the century. In: Ch. Tögel u. J. Frommer (Hg.), Psychotherapie und Psychoanalyse in Osteuropa, Uchtspringer Schriften, Bd. 1: 71-85. Schröter, M. 1997. Max Eitingon ein Geheimagent Stalins? Erneuter Protest gegen eine zählebige Legende. Psyche, 51: 457-470. Schröter, M. 2004. Der Steuermann. Max Eitingon und seine Rolle in der Geschichte der Psychoanalyse. Einleitung zu: Freud, S. u. Eitingon, M.: Briefwechsel 1906-1939, 2 Bde, hg. von M. Schröter, 2 Bde. Tübingen: edition diskord, S. 1-33. Anschrift des Verfassers: Dr. Michael Schröter, Taunusstr. 12, 12161 Berlin, E-mail: .
Uchtspringer Schriften ___________________________________________________________ 129 Hinweise für Autoren Beiträge für die Schriftenreihe werden in der Regel in Deutsch (in Ausnahmen- fällen auch in Englisch) veröffentlicht. Manuskripte werden in elektronischer Form akzeptiert und können einge- sandt werden entweder per e-mail an: oder auf Diskette bzw. CD-ROM an: Prof. Dr. Christfried Tögel SALUS-Institut Sigmund-Freud-Zentrum Halberstädter Str. 40a D-39112 Magdeburg Zur Manuskriptgestaltung: - Text einzeilig, 10pt, Times New Roman. - Literaturangaben im Text erscheinen in der Form, z.B. (Freud 1900a, S. 233) - Anführungszeichen französisch, z.B. »Epilepsie« - Literaturverzeichnis alphabetisch, in folgender Form: Monographie: Aichhorn, August. 1925. Verwahrloste Jugend. Leipzig / Wien / Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. Beitrag in Sammelband: Fetscher, Iring. 1987. Masken der Politik – Politik als Maske. In Brede, Karola et al. (Hg.), Befreiung zum Widerstand. Aufsätze über Feminismus, Psycho- analyse und Politik. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 74-91. Zeitschriftenartikel: Aschenbrandt, Theodor. 1883. Die physiologische Wirkung und Bedeutung des Cocain. muriat. auf den menschlichen Organismus. Deutsche medizini- sche Wochenschrift, 9: 730-732. |