Freud das unbehagen was man im strengsten si glück heißt

Uchtspringer Schriften

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Uchtspringer Schriften

zur Psychiatrie/Neurologie, Schlafmedizin,

Psychologie und Psychoanalyse

Herausgegeben von

Christfried Tögel und Volkmar Lischka

unter Mitwirkung von

Ferenc Erös (Budapest), Jörg Frommer (Magdeburg),

Michael Molnar (London), Carl Nedelmann (Hamburg),

Michael Schröter (Berlin)

Bd. 4

Uchtspringer Schriften

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Uchtspringer Schriften

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Uchtspringer Schriften

zur Psychiatrie, Neurologie, Schlafmedizin,

Psychologie und Psychoanalyse

Hg. von Christfried Tögel und Volkmar Lischka

Bd. 4

»... Wünschen ist wohlfeil ...«

Zum 150. Geburtstag von Sigmund

Freud

Herausgegeben von

Christfried Tögel

Uchtspringe

Sigmund-Freud-Zentrum

2006

Uchtspringer Schriften

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4

Adresse:

Sigmund-Freud-Zentrum des SALUS-Instituts

Halberstädter Str. 40a

39112 Magdeburg

Tel.: 03931 6075317

Fax: 0391 6075333

www.salus-institut.de/sfz.php

Computer-Satz und Druck:

Druckerei des Fachkrankenhaus Uchtspringe, SALUS gGmbH

© 2006 Sigmund-Freud-Zentrum, Fachkrankenhaus Uchtspringe

ISSN 1611-0730

Gedruckt mit Unterstützung des Fördervereins

Psychiatrie in Geschichte und Gegenwart e.V.

Uchtspringer Schriften

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Inhalt

Christfried Tögel

Vorwort 7

I Würdigungen Freuds aus Anlaß seiner Geburtstage

Der 70. Geburtstag

Bericht über die Feier von Freuds 70. Geburtstag am 6. Mai 1926

im Berliner Hotel »Esplanade« 11

Alfred Döblin

Zum siebzigsten Geburtstag Sigmund Freuds 15

Lou Andreas-Salomé

Zum 6. Mai 1926 23

Eugen Bleuler

Zum siebzigsten Geburtstag Sigmund Freuds 27

Hanns Sachs

Zum 70. Geburtstage Sigm. Freuds 33

Sandor Ferenczi

Zum 70. Geburtstage Sigm. Freuds. Eine Begrüßung 35

Der 75. Geburtstag

Sigmund Freuds 75. Geburtstag in der Presse 43

Stefan Zweig

Bildnis Sigmund Freuds 57

Theodore Dreiser

Bemerkungen am 6. Mai 61

Uchtspringer Schriften

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6

Thomas Mann

Ritter zwischen Tod und Teufel (Ein Brief von Thomas Mann an die

Redaktion der »Vossischen Zeitung« am 6. Mai 1931) 63

Kurt Tucholsky

Elf Bände, die die Welt erschütterten 65

Der 80. Geburtstag

Glückwunschadresse zum 80. Geburtstag Sigmund Freuds 69

Thomas Mann

Freud und die Zukunft 77

Robert Wälder

Die Bedeutung des Werkes Sigm. Freuds für die Sozial- und Rechts-

wissenschaften

Zu Sigm. Freuds 80. Geburtstag, 6. Mai 1936 95

Heinrich Meng

Die Stellung der Wissenschaft zu Freuds 80. Geburtstag 115

II Zum Gedenken an Harro Wendt

Volkmar Lischka

Abschied in Respekt vor einem großen Lebenswerk 119

III Diskussion

Michael Schröter

Alexander Etkind über Max Eitingon: Ein kurzer Protest 127

IV Hinweise für Autoren 129

Uchtspringer Schriften

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7

Vorwort

Zum 60. Geburtstag von Thomas Mann schrieb Sigmund Freud in

seinem Gratulationsbrief: ... »Wünschen ist wohlfeil und erscheint mir als

Rückfall in die Zeiten, da man an die magische Allmacht der Gedanken glaub-

te. Auch meine ich aus eigenster Erfahrung, es ist gut, wenn ein mitleidiges

Schicksal unsere Lebensdauer rechtzeitig begrenzt!«

Freud selbst wurde 83 Jahre alt und erhielt besonders in seinen letz-

ten Lebensjahren mehr Wünsche und Ehrungen, als ihm lieb war. Nach der

Festrede zu seinem 70. Geburtstag im jüdischen Humanitätsverein B’nai B’rith

in Wien sagte er: » ... wenn mich jemand beschimpft, kann ich mich verteidi-

gen; wenn mich aber jemand lobt, bin ich wehrlos.«

Am 6. Mai 2006 jährt sich nun der Geburtstag Freuds zum 150. Male.

Schon zu seinem Lebzeiten waren die Jubiläen immer Anlaß für Familie, Freunde

und Schüler, ihm etwas Besonderes zu schenken. So bekam er zum 35. Ge-

burtstag von seinem Vater Jakob eine Bibel mit einer sehr persönlichen he-

bräischen Widmung. Zum 50. Geburtstag schenkten ihm seine Schüler eine

eigens angefertigte Medaille mit seinem Bildnis. Die Rückseite trägt einen

Vers aus dem Schlußchor des König Ödipus von Sophokles »Der das be-

rühmte Rätsel löste und ein gar mächtiger Mann war.« Und zum 65. erhielt

Freud eine Büste, die von da ab »als gespenstisch drohender Doppelgän-

ger« in seiner Wohnung stand.

Doch erst seit dem 70. Geburtstag im Jahre 1926 nahm auch die Öf-

fentlichkeit und nicht nur in Österreich an Jubiläen anteil: Es wurden

Feiern und Festveranstaltungen organisiert, die Presse veröffentlichte Wür-

digungen, Glückwunschadressen wurden initiiert, und sogar Radiostationen

brachten Sendungen über den Begründer der Psychoanalyse.

Im vorliegenden Band werden einige Dokumente neu abgedruckt, die

zwischen 1926 und 1936 aus Anlaß von Geburtstagsjubiläen Freuds ver-

streut veröffentlicht worden waren. Sie vermitteln einen Eindruck von der

Einstellung vieler Intellektueller, die wenn auch nicht immer überzeugte

Anhänger der Psychoanalyse würdigen, daß Freud Fragen gestellt hat, an

denen niemand vorbeikommt.

Christfried Tögel

März 2006

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Uchtspringer Schriften

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9

Der 70. Geburtstag

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10

Freud 1926

Radierung von Ferdinand Schmutzer

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11

Bericht über die Feier von Freuds 70. Geburtstag

am 6. Mai 1926 im Berliner Hotel »Esplanade«

Am 6. Mai fand im Esplanade-Hotel in Berlin eine Feier der »Deutschen

Psychoanalytischen Gesellschaft« unter dem Vorsitz von Dr. Ernst Simmel

statt. Der Vorsitzende würdigte das Lebenswerk Freuds und wies besonders

darauf hin, daß die heute und sicher noch lange fließende Quelle von Freuds

Schaffenskraft in jenem Übermaß von Liebesfähigkeit liegt, das der leiden-

den Menschheit von ihm aus zuströmt. »Es fällt uns, die wir uns heute mit

Stolz seine engeren Schüler, seine Schule nennen, heute, wo Freud schon

anerkannt ist, ebenso wie zu jener Zeit, als er noch verkannt und verlästert

war, schwer, nicht hinauszutreten vor die Öffentlichkeit und aus den vielen

Erfahrungen zu berichten, die wir in der strengsten Anwendung seiner Me-

thode gewonnen und die die unbeirrbare Logik und Konsequenz der

Freudschen Psychoanalyse bewahrheitet haben.

Wir tun es nicht, weil er es nicht will. Wenn aber das Leben dieses

Mannes zu jenen seltenen Phänomenen der menschlichen Entwicklung ge-

hört, die gleichsinnig mit dem Ablauf ihres individuellen Daseins ein generel-

les Stück Zeitgeschichte, ja man darf es heute wagen auszusprechen, ein

Stück Weltgeschichte in sich offenbaren, dann müssen die Auswirkungen

dieses eminenten Geistes in führenden Geistern unserer Zeit sich widerspie-

geln, und so haben wir, nur gestützt auf den Glauben an die geniale Wirkung

unseres Meisters, uns kühn unterfangen, am 70. Geburtstag Freuds den ›Zeit-

geist‹ selber zu uns zu Gast zu laden. Dieser Zeitgeist ist heute unter uns, er

ist repräsentiert durch die Persönlichkeiten, die mündlich und schriftlich jetzt

das Wort ergreifen werden.«

Geheimrat Prof. His, Direktor der Medizinischen Klinik an der Charité,

setzt auseinander, daß es kaum eine Wissenschaft gibt, die nicht aus Freuds

Anschauungen irgendwelche Anregungen zu schöpfen vermöchte. Freud

ist aus der heutigen Geistesrichtung nicht mehr hinwegzudenken. Die Gei-

stesgeschichte bewegt sich in Perioden. Die jetzt in den Vordergrund gelan-

gende geistige Einstellung hat zweifellos eine Ähnlichkeit mit der vor einem

Jahrhundert blühenden Romantik, die eine Reaktion auf den Rationalismus

der Aufklärung darstellte. Naturforscher und Mediziner sind auf keine Ro-

mantik gut zu sprechen. Doch ist unsere Zeit von der mechanistischen Be-

trachtung übersättigt und von ihrer Begrenzung unbefriedigt. Wenn die Psy-

chologie des Unbewußten früher nicht vom Fleck kam, so lag dies daran, daß

sie mit ungenügender Methode an die Probleme herantrat. »Hier setzt nun

die Lebensarbeit Meister Freuds ein, und ihr danken wir die Hoffnung, über

die unfruchtbare Spekulation früherer Epochen hinwegzukommen. Freud hat

Uchtspringer Schriften

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als erster den Weg gewiesen, analytisch, induktiv an das dunkle Gebiet des

Unbewußten heranzutreten. Er reiht sich den großen Pfadfindern und Weg-

bereitern an, er gleicht einem Kolumbus ... Noch übersehen wir die Tragweite

der Freudschen Gedanken bei weitem nicht, aber der Boden ist bereitet, auf

dem sie in der Medizin befruchtend wirken können. Die Medizin hat als Wis-

senschaft wie als Heilkunst die Pflicht, am heutigen Tage des Meisters mit

innigstem Danke und mit dem Ausdruck höchster Anerkennung zu geden-

ken.« Es folgte ein längerer Vortrag des Dichters und Arztes Alfred Döblin.

Der Vortrag ist den Lesern dieser Zeitschrift seither durch die Wiedergabe im

»Almanach 1927« des Internationalen Psychoanalytischen Verlages bekannt

geworden.

Staatssekretär z. D. Prof. Julius Hirsch sprach über den Einfluß unbe-

wußter Seelenregungen auf Vorgänge der Wirtschaftsentwicklung. Die Ent-

stehung des Freudschen Gedankenwerkes rechnete er neben der Abrun-

dung des kosmischen Weltbildes und der Amerikanisierung der Wirtschaft

zu den drei historischen Bedeutsamkeiten unseres Zeitalters.

Für die bildenden Künste ergriff Prof. Emil Orlik das Wort. Obschon

der bildende Wirker sein Werk abgewandt und oft abwendig von der Wis-

senschaft entstehen sieht, schafft er sich doch auf dem Grundstock der Tra-

dition einen Komplex von Erkenntnissen, die selbst eine Wissenschaft bil-

den. »Der Mann, den wir heute hier ehren wollen, hat aber das Erkennen und

Ergründen alles Menschlichen durch seine bahnbrechende Tat so beein-

flußt, daß der Weg, den er so leidenschaftlich gewiesen, nicht mehr umgan-

gen werden kann. Die Durchleuchtung des menschlichen Charakters kann

nur erschöpfend sein, wenn das Licht seiner Lehre mitgeleuchtet hat in die

Finsternis des Unbewußten. Was verdeckt war, ist enthüllt, tiefes Dunkel

bricht zum Tage.«

Der Bedeutung der Freudschen Lehre für die Musik gedachte in we-

nigen Worten der Komponist Prof. Franz Schreker.

Des ferneren wurden verschiedene Zuschriften und Telegramme ver-

lesen. Prof. Goldstein, Direktor des Neurologischen Universitätsinstitutes in

Frankfurt a. M., gibt in seinem Briefe vor allem seiner Überzeugung Aus-

druck, daß die Psychoanalyse sehr Wesentliches zu einer Vertiefung unserer

Erkenntnisse auch auf dem Gebiete der organischen Erkrankungen bieten

kann. Fruchtbar ist an der Lehre Freuds vor allem »die allgemeine Tendenz,

von der sie geleitet wird, der Ernst, mit dem das Problem des Unbewußten

hier nicht nur wie sonst gewöhnlich als theoretisches Diskussionsthema

gestellt wird, sondern mit dem Anspruch auftritt, das Zentralproblem zu sein,

und mit der unerbittlichen Forderung auf Entscheidung bei dem Vorgehen

Uchtspringer Schriften

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zur Bekämpfung der Krankheiten. Hier wird Freuds Name als der eines wah-

ren Führers unvergessen mit einem wesentlichen Fortschritt unserer Erkennt-

nis und unseres ärztlichen Tuns verknüpft bleiben. Hier wird ihm die Medizin

und die Menschheit, der diese dient, immer zu tiefstem Danke verpflichtet

bleiben.«

Die Zuschrift von Lou Andreas-Salome ist seither an der Spitze des

»Almanachs 1927« des Internationalen Psychoanalytischen Verlages abge-

druckt worden.

Aus der Zuschrift von Thomas Mann: »Ich sehe in dieser Bewegung,

weit über alles bloß Medizinische hinaus, eine geistige Erschütterung, deren

Wellen heute überall hinreichen und ein Hauptelement jener allgemeinen

Revolution, die im Begriffe ist, das Weltbild und Lebensgefühl des europäi-

schen Menschen bis in den Grund zu ändern.«

Professor Max Scheler gedenkt in einem Telegramm des »tiefsten

Triebpsychologen unserer Zeit des großen Durchleuchters der menschli-

chen Herzen« .

Jakob Wassermann schreibt: »Ein Seelenforscher von so genialer Art

wie Freud, dessen Arbeit und Werk das ganze geistige Leben der Epoche

beeinflußt und in manchem Betracht auf neue Fundamente gestellt hat, kann

nicht ohne sichtbare und spürbare Wirkung auch auf die Kunst und das

Kunstschaffen sein ... Wenn die Grenzen des Erkennens sich erweitern, deh-

nen sich auch die des Schauens aus, und die Ahnung und Vision des Dich-

ters entledigt sich gleichsam ermutigt jener Gebundenheiten, die als Summe

der Vorurteile seiner Zeit auch dem erleuchtetsten Geist noch anhaften ...

Freilich, was wir wissen können, ist winzig gegenüber der Unendlichkeit des

Unbekannten, aber hier tritt der schöpferische Akt in seine Rechte, der die-

ses Mißverhältnis für die Dauer einer Sekunde, der Sekunde eines opfer-

vollen und der Idee geweihten Lebens, aufhebt. Das ist auch der Punkt, wo

schöpferische Erkenntnis und schöpferische Gestaltung zusammenfallen.

Beides erscheint mir in Sigm. Freud als erstem vereint. Ich neige mich grü-

ßend vor ihm und der strahlenden Fackel in seiner Hand.«

Aus der Reihe weiterer Zuschriften und Telegramme seien noch er-

wähnt die von Prof. Vaihinger, Prof. v. Mises, Hermann Hesse, Felix Hollaender,

Dr. Max Marcuse, ferner die der ausländischen Psychoanalytischen Vereini-

gungen und des Zentralpräsidiums der I. PsA.V.

Der Feier wohnten u. a. auch bei: Prof. Albert Einstein, Prof. Bier, Prof.

v. Eycken, Artur Hollitscher, Alice Salomon, Prof. Paneth. Der preußische

Minister für Volkswohlfahrt ließ sich durch Geheimrat Professor Lenz vertre-

ten. Für die Gesandtschaft der Republik Österreich in Berlin erschien Lega-

tionsrat Bacher, der im Namen des Österreichertumes für die Ehrung des

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großen Mitbürgers dankte. Der preußische Minister für Wissenschaft, Kunst

und Volksbildung, der sein Erscheinen zugesagt hatte, konnte der Feier we-

gen dringender dienstlicher Inanspruchnahme nicht beiwohnen.

Aus: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Band 13 (1927), S. 81-83.

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Alfred Döblin

Zum siebzigsten Geburtstag Sigmund Freuds

In einem alten indischen Buch wird erzählt, wie ein Königssohn zu einer

unglückverheißenden Stunde geboren wird und deshalb verstoßen und von

Waldbewohnern aufgezogen wird. Er wächst heran in dem Wahn, Wald-

mensch zu sein. Bis ihn eines Tages Minister des Königs, der gestorben ist,

aufsuchen und über seine Herkunft belehren. In diesem Augenblick hört die

Wahnvorstellung auf, und er weiß, daß er ein König ist.

In solchem Wald hatten jahrzehntelang, bis in unser Jahrhundert hin-

ein, die Gedanken der europäischen Menschen gehaust. Und ein Minister,

der verkündete, daß der König gestorben sei, heißt Freud.

Die Macht, die die Gedanken der Menschen so lange einseitig führte und

auch drückte, waren der Naturalismus und der Materialismus. Das war eine

kraftvolle Bewegung, man wird ihren Kern nicht verleumden. Es war mehr als

eine vorübergehende Bewegung. Sie ist jetzt zurückgedrängt, und ihre Ex-

zesse sind überwunden, aber sie wird wieder auftauchen und ihre Fruchtbar-

keit zeigen. Da war der Kopf von Helmholtz, ein Entdecker und Fortführer. Da

war die skeptische Klarheit und unerbittliche Nüchternheit von Rudolf Vir-

chow, da konzipierte Ehrlich seine mächtigen Ideen. Wirklich Ungeheures

hat die Naturwissenschaft dieser Periode unter solcher geistigen Führung

geleistet, und die Technik, die jetzt die Wirtschaft beherrscht, fußt auf den

Ergebnissen und Leistungen dieser Periode. Es ist kein Grund, diese Zeit zu

verleumden.

Aber es gibt Dinge, an die diese Epoche nicht herankam. Da gibt es in

der Welt etwas, es ist kurios zu sagen, was sich nicht wägen lassen will, nicht

messen lassen will, dem Seziermesser und dem Mikroskop entgleitet und

doch die fabelhaftesten Wirkungen übt. Die ganze Weltgeschichte ist eine

Leistung dieses nicht wägbaren, nicht meßbaren, unsichtbaren und schlüpf-

rigen Dinges. Es ist eigentümlich und geradezu herausfordernd, daß gerade

die Sachen, auf die der Mensch am stolzesten ist, die ihn charakterisieren,

Leistungen dieses unwägbaren, unmeßbaren Dinges sind. Es ist die Seele.

Da hatte eine freche Behauptung gelautet: Man kann die schärfsten

astronomischen Fernrohre in den Raum richten, und man wird keinen Gott

entdecken. Und eine andere: Man kann die Großhirnrinde und alle menschli-

chen Organe mikroskopieren; man wird nur Zellen und Fasern entdecken. Es

war eine Lücke in diesem Denken. Welches Instrument sollte man gebrau-

chen in dieser instrumentwütigen Zeit? Keins. Nur den einfachen ruhigen

und undogmatischen Blick.

Uchtspringer Schriften

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Freud wuchs in der älteren Periode auf. Er trieb Gehirnanatomie, be-

diente sich des Mikroskops. Er war Neurologe wie viele andere. Versuchte,

sich zu komplettieren, in Paris und Nancy. Da lehrten Charcot und Bernheim.

Was nun dieser Charcot war, hat Freud selbst geschildert: ein voller Mensch,

kein Grübler, durchaus kein Denker, aber ein Seher. Charcot sah, das war sein

Instrument, und gegen die deutschen Theoretiker hatte er unablässig die

Rechte des Sehens zu verteidigen. Sie vertraten die Young-Helmholtzsche

Theorie; er sagte: »Die Theorie ist gut, aber das hindert doch nicht zu existie-

ren.«

Und was nun Freud hier auf einem kleinen Spezialterrain lernte, wurde ent-

scheidend. Er gewöhnte sich zunächst ab, über die Hysterie zu lachen. Ich

möchte feststellen, es geht die Fabel: In der Charité stand an einer großen

Klinik vor zwanzig Jahren bei gewissen Fällen das geheimnisvolle Zeichen T.

M. an der Tafel. T. M. hieß »total meschugge« und bezeichnete – den Hyste-

rischen. Die Objektivität und Echtheit der hysterischen Erscheinungen stand

in Paris fest, und allgemein, das war etwas Großartiges und weit Ausgreifen-

des, stand fest: die Bedeutung seelischer Vorgänge auf die Bildung, die Er-

zeugung hysterischer Symptome. Wenn da noch irgend etwas unklar war, so

mußte die Hypnose, die man bei Charcot übte, allen Zweifel beheben: grobe

körperliche Erscheinungen, wie Lähmungen, ließen sich da als Erfolge von

Vorstellungen nachweisen.

Jetzt saß der Wurm in Freud. Er war in die große Lücke der Zeit getre-

ten. Er hat dann nicht mehr nach dem Mikroskop gegriffen. Vielleicht hätte

ein anderer nun philosophiert und über die Zusammenhänge von Leib und

Seele gegrübelt. Bekanntlich hängen in diesem Stacheldraht schon viele

Denkerleichen. Es hätte sich dann nichts ergeben, und daß da vieles dunkel

ist, wissen wir auch nach Freud. Er ist aber wie ein wackerer Mediziner seinen

Weg fürbaß gezogen. Er war damals, nach Wien zurückgekehrt, noch kleiner

Privatdozent. Später ist er Professor geworden, aber Professor nicht der Phi-

losophie oder Theologie, sondern Professor der Medizin. Er hat es verdient.

Er hat es darum verdient, weil er Tausenden Kranken zu ihrem Recht

verhalf, als Kranke zu gelten. Es gab viele genau beschriebene Krankheiten

mit sogenanntem Organbefund. Und wer das Glück hat, solche Krankheit zu

besitzen, wurde ernsthaft behandelt. Nichts hebt einen Kranken mehr in der

Achtung des Arztes, als wenn er einen gut greifbaren Geschwulstknoten

vorzeigt. Was tut man aber ohne Geschwulstknoten? Etwa bloß mit Kopf-

schmerzen? Oder wenn einer weinen muß und er gesteht selbst, er hat gar

keinen Grund zu weinen, es geht ihm eigentlich ganz gut, auch zu Hause tut

ihm keiner was. Da blieb nichts weiter übrig, ich meine früher, als ihm die

Diagnose T. M. zu geben, ein Wort von erblicher Belastung zu murmeln, ihn

Uchtspringer Schriften

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mit Bromkali auf einem Zettel zu verjagen und sich im Geheimen zu denken: es

ist doch eigentlich ein starkes Stück, womit einen die Leute belästigen; das

sollte er eigentlich seiner Schwiegermutter erzählen, nicht mir. Aber die Kran-

ken sind weiter unablässig zu den Ärzten gelaufen. Und schließlich haben

die Ärzte nachgegeben: Sie haben die Augen aufgemacht.

Es muß festgestellt werden, daß Freud nicht Schüler Charcots blieb.

Charcot zimmerte sein abgeschlossenes Hysteriegebäude nach gutem alten

Muster, und dabei blieb er stehen. Freud sah Fragen, sah Neuland, wuchs

weg von Charcot und stand in dem Moment auf seinem Boden, wo er mit

Breuer zusammen die Beobachtung machte: der Hysterische leidet größten-

teils an Erinnerungen. Das war eine saubere und einfache psychologische

Beobachtung. Jeder Menschenkenner hätte sie machen können. Aber die

Menschenkenner kamen nicht an die Hysterie heran, und die Ärzte waren zu

vornehm, um Menschenkenner zu sein.

Denn es paßt sich nicht für einen Mediziner, zu erkennen, ohne vor-

her ein paar Karnickel zu schlachten. Das sind gewissermaßen Opfer für den

Gott der Erkenntnis. Aber der Gott hört nicht immer. Es konnte nach dem

Auftauchen Freuds ein großes Aufatmen unter den Meerschweinchen und

Karnickeln beginnen. Ich habe gehört: es sind Deputationen dieser Tier-

geschlechter nach Wien gegangen, zu Freuds Geburtstag, um ihrem großen

Retter zu danken.

Der Hysterische leidet an Erinnerungen: damit geht es mit voller Fahrt

ins Psychische hinein. Was gab es denn vorher für eine Psychologie, gab es

keine? Oh, reichlich! Schon lange vor Freud gab es sogar Lehrstühle für

Psychologie; ich glaube aber, er würde sich noch heute vergeblich um sol-

chen Lehrstuhl bewerben. Die Psychologie da und seine würden sich nicht

erkennen und voreinander erschrecken. Es werden da richtige und wichtige

Dinge abgehandelt, aber es ist im ganzen nur wenig und nicht das Wesentli-

che von der Seele, was diese psychologischen Kollegs beschäftigt.

Die menschliche Seele war schon vor Jahrhunderten, da sie von den

Psychologen und den Ärzten verstoßen war, auf eine große Wanderschaft

gegangen. Sie war zu den Dichtern geflohen und auch zu den Pfarrern. Die

waren recht lieblich mit ihr umgegangen. Der Pfarrer hatte sie an das Gebet-

buch geführt. Der Dichter reichte ihr den Arm und ging mit ihr im Grünen

spazieren. Freud ließ sie in sein Sprechzimmer eintreten, machte die Tür hin-

ter ihr zu und sagte: »Legen Sie ab, gnädige Frau. Ja, bitte: ziehen Sie sich

aus.« Ich möchte bemerken, daß die Seele bis zum heutigen Tag über diesen

Anruf erschrocken an der Tür stehengeblieben ist und noch nicht mehr als

den Hut abgelegt hat.

Von 1892 bis jetzt, 1926, also vierunddreißig Jahre, hat Freud sich um

die Seele bemüht, praktiziert und gelehrt. Es hat sich um ihn ein wachsend

Uchtspringer Schriften

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großer Kreis von Schülern gebildet. Das Ganze ist eine Seefahrt: sie fahren

auf dem Meer der menschlichen Seele; sie loten, prüfen Wind und Wellen,

Eigenart des Wassers in seinen Tiefen. Das Meer ist groß, größer als irgend-

ein Ozean, und ich möchte nicht verhehlen, daß ich manchmal den Eindruck

habe, nicht alle Schüler wissen, welch beispiellos riesengroßes Wesen sie da

befahren. Es kommen sich manche schon sehr wissend vor. Man wird leicht

übermütig, wenn man dauernd ein und dieselbe Route befährt. Von Freud

selbst liegen zehn starke Bände vor, die noch nicht alles umfassen. Das ist

eine vorläufige Rekognoszierung des neu betretenen Terrains, jener Lücke,

von der ich sprach. Was er da vorträgt, ist für die Medizin etwas ganz Unge-

wöhnliches; man hat sich aber jetzt schon daran gewöhnt. Seine Krankenge-

schichten, wie sehen sie aus? Er sagt selbst: »Ich bin nicht immer Psychothe-

rapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektrodiagnostik er-

zogen worden, und es berührt mich selbst eigentümlich, daß die Krankenge-

schichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind und daß sie sozusa-

gen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muß mich

aber damit trösten, daß für dies Ergebnis die Natur des Gegenstandes offen-

bar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe. Lokaldiagnostik

und elektrische Reaktion kommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht

zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge,

wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist, mir gestattet, doch eine Art

von Einsicht in den Hergang des Leidens zu gewinnen. Solche Krankenge-

schichten haben vor psychiatrischen eines voraus, nämlich die innige Bezie-

hung zwischen Leidensgeschichte und Krankheitssymptom, nach welchen

wir in den Biographien der Psychosen noch vergebens suchen.« Man be-

achte den einfachen klaren Stil, es ist gar kein Stil; er sagt ungekünstelt und

phrasenlos, was er meint; so spricht einer, der etwas weiß.

Freud, in das Seelengebiet einrückend, stellte zunächst das Aller-

gröbste fest, und das war, daß es etwas Unbewußtes gibt. Es ist ihm eigen-

tümlich gegangen: links hat er an die Dichter gestoßen, rechts die Philoso-

phen verärgert, vorne den Ärzten auf die Hacken getreten. Es waren gar

keine Worte da für das, was Freud meinte und was er auch sah im Seelischen.

Sagen mußte er es. Woher nehmen und nicht stehlen? Da stahl er. Von den

Philosophen das Unbewußte. Die meinten damit mancherlei, Unsicheres,

worüber sie disputierten. Freud meinte nur einen ganz gewöhnlichen seeli-

schen Tatbestand, der täglich vor seine Augen trat. Die nähere Bestimmung

und Aufklärung des beobachteten Tatbestandes, sagte er, wird sich schon

beim Arbeiten mit dem Begriff ergeben. Das ist so: erst nimmt man einem das

Geld und gebraucht es; nachher wird sich schon herausstellen, wem es ge-

hört. Aber die Methode hat sich bewährt, ich meine in der Wissenschaft.

Uchtspringer Schriften

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Es lichtete sich vieles von den Zwangsneurosen, Angstneurosen,

paranoischen Zuständen. Es wurde vor allem deutlich, daß unterirdisch in

uns eine Art Gedächtnis verläuft, ein aktives Gedächtnis, das uns mit Instink-

ten belädt und bis auf Urväterzeiten zurückgeht. Er findet: Ebensowenig wie

der Körper von heute auf morgen gemacht ist, von jeder Mutter selbständig

neu geboren wird, sondern eine ungeheure Tiergeschichte hinter ihm steht,

so wird die Seele nicht in jedem Fall neu aufgebaut. Die Seele hat ebenso eine

ungeheure Vergangenheit, sie hat ja schließlich diesen Körper beseelt, und

bis in die Tierzeit hinein senkt sie ihre Wurzeln. So hat Freud ein Stück Histo-

rie der Seele bloßgelegt. Er ist ins Traumreich vorgestoßen, hat da das eigen-

tümliche archaische Denken erkannt, das Denken in Symbolen, die merkwür-

digen Verdichtungen, die Zeitverschiebungen. Freud als Historiker der See-

le: hier vornehmlich hat er Dinge geleistet – man kann im einzelnen sagen,

was man will –, die sich sehen lassen können und die sich im Kern mit jeder

Sicherheit behaupten werden. Er hat da bei seinen Kranken, nur sich der

Augen und des ruhigen Nachdenkens bedienend, die wunderbare Entdek-

kung gemacht, die später von anderer Seite her gestützt wurde, von der

Übereinstimmung zwischen dem Seelenleben wilder Völker und mancher

Neurotiker. Hier ist überall von ihm der erste Spatenstoß getan; kleine Schür-

fungen, ja schneidige Kavallerieritte in dies Gebiet hinein haben schon ande-

re getan; der Name Nietzsches, des Genealogen der Moral, ist nicht zu ver-

gessen.

Zuletzt ist Freud auf seine Weise auf Exkursionen gegangen, ins Bio-

logische hinein. Denn nun steht die Sache schon so, daß nicht mehr wie vor

dreißig Jahren die Anatomie und Physiologie Seelenvorgänge erklärt, son-

dern daß biologische Daten, Lebensbewegungen elementarer Art begreifbar

werden durch Daten, die man aus unserem eigenen Seelenleben herausge-

holt. All diese Erkenntnisse hat Freud ständig aus der Praxis, aus der Be-

obachtung lebender Menschen geschöpft. Er hat die Erkenntnis ständig

zurück in die Praxis fließen lassen. Das ist die psychoanalytische Behand-

lung Freuds. Es ist eine ganz originelle Methode. Es soll da der Mensch, also

der Kranke, aus dem Nigger und Kannibalen in eine zivilisierte Person umge-

wandelt werden. Man wird zugeben, daß das eine ganz besondere Aufgabe

ist und daß dazu ganz besondere Hilfsmittel notwendig sind. Mit Beichte ist

es nicht getan. Freiwillig wird überhaupt ein Kannibale nicht zivilisierter

Mensch.

Schwere Widerstände sind zu brechen; es kommt zu starken Erschüt-

terungen des Seelenlebens. Dabei wird nicht hypnotisiert, nicht grob sugge-

riert, sondern nur geführt, aufgedeckt und unermüdlich gedrängt. Ich bin,

Uchtspringer Schriften

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nebenbei bemerkt, der Meinung, daß es einer besonderen Analyse bedürfte,

um festzustellen, was eigentlich diese ausgeübte Analyse ist. Aber daß sie,

in dieser oder jener Form, orthodox oder liberal geübt, starke und fördernde

Wirkung hat in einem bestimmten Kreis von Fällen, ist sicher.

Wie anders übrigens ist diese Methode als die der früheren oder der

übrigen Ärzte. Früher hatte ein Patient Husten, das war aber gar kein Husten,

das war eine Bronchitis acuta oder chronica oder gar ein Emphysem, und

damit war der Husten der Kenntnis des Mannes entzogen. Er war ihm gewis-

sermaßen geraubt. Der Mann war um seinen Husten gekommen. Und dann

die Zauberformeln der Rezepte und die Untersuchungen: das sind ja beinah

hierarchische und liturgische Prozeduren. Ein Rezept, selbst wenn nur Brust-

tee in lateinischer Sprache darauf steht, hat etwas Geheimnisvolles und ari-

stokratisch Abweisendes an sich. Das Vertrauen, das der Patient dem Arzt

schenken soll, kann nur Vertrauen in die geheimnisvolle Macht des Arztes

und der Wissenschaft hinter dem Arzte sein. Also es liegt eine Art Unterwer-

fung und magischer Gläubigkeit vor. Bei jeder Seelenarbeit aber von Arzt und

Patient heißt es, mit offenen Karten spielen. Man spricht deutsch, nicht ein-

seitig lateinisch, und in jedem Sinne hat man deutsch miteinander zu spre-

chen. Das ist etwas Demokratisches. Ich finde, das hat etwas Wohltuendes,

und schon diese Art des Umgangs von Arzt und Patient ist befreiend und ein

Gewinn.

Wie soll ich nun zum Schluß Freud loben. Er hat große Anfeindungen

zeit seines Lebens erfahren, manche seiner Schüler haben aus seinen Lehren

eine Art Konfession gemacht, er selbst aber hat sich durch kein Dogma

binden lassen und weiß, daß die geistigen Dinge im Fluß bleiben müssen.

Freud ist, wie man sagte, ein großer Beleber, Beweger, Heraufführer der neu-

en Zeit. Ich nannte ihn den Minister, der dem Waldmenschen anzeigte, daß er

ein König sei. Er beseitigte den Irrtum; der Waldmensch mußte aber schon

selbst König sein. Es gibt, recht gesehen, überhaupt keine Beleber und

Beweger. Das Leben und was wahrhaft lebendig ist, ist immer massenhaft da

und bedarf nur eines Hervorrufes. So sind alle guten und wahrhaft wichtigen

Dinge: sie sind massenhaft verbreitet, das Neue muß immer in dieser Weise

vorbereitet sein, einen Boden finden, sonst nützt – es ist tragisch, aber nicht

zu bestreiten –, sonst nützt der genialste Gedanke nichts und das stärkste

Führertalent zerbricht. Da hat Freud ein großes Glück gehabt. Vor ihm und

zeit seines Lebens um ihn herum sind ähnliche Gedanken gewachsen, sind

Bewegungen aufgetaucht, die man mit ihm in Zusammenhang gebracht hat.

Es sind Triebe aus derselben Wurzel. Er war einer der frühsten und

kräftigsten Triebe. Man widerstrebe dieser Auffassung nicht. Man sehe sich

die berühmtesten Namen an, etwa Napoleon, oder von heute Lenin. So ge-

Uchtspringer Schriften

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waltig die Männer waren, so weit sie durchschlagend wirkten, sind sie nur

mächtige Anfacher gewesen. Erfüller ihrer Zeit.

Es ist da der Unterschied zwischen dem Blasebalg und dem Feuer.

Das Feuer muß brennen, damit der Blasebalg wirkt. Große Männer sind die,

die ein wirkliches echtes Feuer zu einem weiten und allgemeinen anfachen.

Solch Blasebalg ist Freud.

Ich will da eine Meinung besonders erwähnen, die mir am Herzen

liegt, die Meinung: Freud habe die Dichtung beeinflußt oder werde sie beein-

flussen. Man hat gesagt: die Freudsche Tiefenpsychologie wird eine Tiefen-

dichtung zur Folge haben. Ein kompletter Unsinn. Noch immer hat Dostojew-

ski vor Freud gelebt, haben Ibsen und Strindberg vor Freud geschrieben.

Und wir wissen ja, Freud hat selbst an ihnen gelernt und an ihnen demon-

striert. Die Unterschiede sind nicht: Tiefendichter und Flächendichter, son-

dern: gute Dichter und schlechte Dichter. Die guten haben ihre Intuition, die

macht alle Anleihen überflüssig; und den schlechten ist so und so nicht zu

helfen.Wie aber sogar die Grundwahrheit Freuds selbst, die von der Seele,

den Dichtern, wenn auch nicht den Wissenschaftlern, bekannt war, wie diese

solide Wahrheit und Dinge darüber hinaus sich sogar in der strengsten natu-

ralistischen Zeit bei den Dichtern lebendig erhielten, zeigt Walt Whitman.

Einmal singt er:

»Verlangte jemand, die Seele zu sehen? / So sieh deine eigene Gestalt

und dein Antlitz, Menschen, Stoffe, Tiere, die Bäume, die fließenden Ströme,

die Felsen, den Sand am Meer / Sie alle enthalten geistige Freuden und geben

sie hernach wieder frei / Dein wahrer Leib und jeglichen Mannes und Weibes

wahrer Leib. / So treu, wie die Typen, die der Setzer setzt, ihren Abdruck

prägen, die Bedeutung, der wesentliche Sinn / Genau so treu prägt eines

Mannes Wesen und Leben oder eines Weibes Wesen und Leben sich in Leib

und Seele aus / Einerlei, ob vor oder nach dem. Tode / Siehe, der Leib enthält

und ist die Bedeutung, der wesentliche Sinn, und enthält und ist die Seele.«

Das greift über die Wissenschaft hinaus und ist noch lange nicht für

eine heutige Wissenschaft erfaßbar. Die Dichtung ist aber allgemein und

überhaupt ein sehr mißachtetes, großartiges Wissensreservoir der Menschen.

Eine Quelle, kein Nebenfluß.

Man hat Freud verargt, daß er, der im Seelischen die enorme Wirksam-

keit einer gesellschaftlichen Zensur fand, daß er nicht den Schritt aus dem

Sprechzimmer heraus machte und auf den Plan trat, um im Sozialen, Pädago-

gischen oder wie sonst die Gesellschaft zu verändern. Warum hat er dies

alles gesehen und hat nicht verändert und zerstört? Man braucht nur die

Bilder, die Photographien Freuds in verschiedenen Lebensaltern zu sehen,

Uchtspringer Schriften

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um sich die Frage zu beantworten. Immer erkennt man den Beobachter, einen

deutlich mißtrauischen und skeptischen Menschen, einen Pessimisten. Er

teilt nicht den Aberglauben an den großen Wert menschlicher Einrichtun-

gen, an den Wert für die wirkliche Veränderung der Seele. Er wäre kein Ken-

ner der menschlichen Seele, wenn er glaubte, mit irgendwelchen raschen

Änderungen im Sozialen ließe sich Entscheidendes an der menschlichen

Seele ändern. Er ist in dieser Skepsis und Zurückhaltung völlig identisch

etwa mit Tolstoi.

Glaube man nun aber nicht, daß nach Abklingen des materialistischen

Zeitalters auf die materialistische Überschätzung der Tatsachen und Einrich-

tungen ein Quietismus, ein wonniges Planschen in Seele und Lyrik folge.

Mögen Dunkelmänner nicht glauben, die angenehme Dämmerung für sie sei

gekommen. Mögen diejenigen nicht Morgenluft wittern, die in der vergange-

nen Periode niedergekämpft sind und denken sich jetzt wieder zu erheben. Im

Gegenteil, die menschliche Kraft, Verantwortung und Entschlossenheit, auf

ihren Boden zurückgeführt, wird sich jetzt heftiger als je fühlen. Jetzt heißt es

wie nur je: wir haben unsere Sache auf uns gestellt. Wahrhaftig, die Zeit der

Flauheit und des Defaitismus ist gründlich vorbei.

In zwiefacher Hinsicht lobe ich Freud – und ein Stück ist da so gut wie das

andere. Als einen Wohltäter der Menschheit, der breit die Türe zu dem Krank-

heitsherd vieler Leiden geöffnet hat. Und dann als Geistesführer, als einen,

der in Europa am frühesten wieder in der Wissenschaft das Königsgebiet der

Seele betrat.

Da muß es mir fern sein, einer kalten Bewunderung Ausdruck zu ge-

ben, von großen Leistungen zu sprechen, Farben zu beschnüffeln und De-

tails zu bekritteln. Mit Zustimmung und Herzlichkeit, mit Liebe treten wir vor

Sigmund Freud. Und wünschen ihm und uns zu seinem siebzigsten Geburts-

tag Glück. Alfred Döblin

Aus: Almanach der Psychoanalyse 1927, S. 28-38

Uchtspringer Schriften

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Lou Andreas-Salomé

Zum 6. Mai 1926

Im Rückerinnern will mir scheinen, als ob mein Leben der Psychoanalyse

entgegengewartet hätte, seitdem ich aus den Kinderschuhen heraus war.

Denn im darauffolgenden Jahrzehnt ereignete sich ein Dreierlei nacheinan-

der, was die Zeitläufte dann entscheidend zusammengriffen. Erstlich das

Zurücktreten der gealterten metaphysischen Methodik unter dem Vordrang

des Darwinismus und kritischen Positivismus, sodann der Eintritt Nietzsches

in das Mannesalter seines Schaffens, nach der vorangegangenen Schopen-

hauer-Wagner-Periode; endlich, allmählich, den Zeitgenossen noch verbor-

gen, die Geburtsstunde der Psychoanalyse in Wien, der ich erst gegen mein

fünfzigstes Lebensjahr nahetrat.

Die erste dieser drei Wendungen ist nicht als eine zu betrachten, die

bloß philosophisch Interessierte anging; die großen metaphysischen Syste-

me – letztlich noch Hegel, nach rechts wie nach links - umfaßten, nicht nur

theoretisch, alles ethische, soziale, ästhetische, religiöse Lebensverhalten,

sondern bestimmten es; ihren Abbruch mitmachen konnte ernstliche Jugend

nicht, ohne sich zu den neuen entgötternden Wahrheiten gleichsam hero-

isch einzustellen, weil es eben die »Wahrheit« galt; in einer Seelenhaltung,

die überging vom angenehm Begeisterten zum Opferbereiten. Diese, an sich

recht wertvolle, aber den empirischen Zweckwissenschaften gegenüber et-

was unproportionierte Anstrengung der Seele, entspannte sich in dem Maße,

als die Forschungsmethoden immer noch an Anspruch und Strenge zunah-

men; denn gerade dadurch ergab sich ihnen auch zunehmend eine um so

reinlichere, sachlichere Zweckbegrenzung, – die Einsicht nämlich, von der

Wirklichkeit Fülle nur eine flachgezeichnete Silhouette bieten zu können, die

nach allen Seiten lebendiger Ergänzung bedürftig blieb. Bis durchgehends

das befreiende Schlagwort geprägt war: »Auch der Denktrieb ein Lebens-

trieb.« Hiemit setzte Nietzsches mittlere Schaffensperiode ein: er war es, der

für »Menschliches, Allzumenschliches« sogenannter »Wahrheit« in seinen

Aphorismen jenen gewaltigen Ausdruck fand, der über den resignierten See-

len der Opferbereiten wie eine erste »Morgenröte« aufstieg, und alles Den-

ken, ungeachtet dessen erworbener Nüchternheit, wieder zu einer »Fröhli-

chen Wissenschaft« werden ließ. Jedesmal hat dies als die eigentliche Ge-

walt seines Genius sich erwiesen, dem jeweils Theoretischen zu dessen Er-

lebnis zu verhelfen, es, an der inbrünstig durchlebten Formung zum Wort, zu

überwältigen. Diese lebenszugewendete Tendenz in Nietzsche ließ sich nicht

allzu lange von der sachlichen Zurückhaltung der Theoreme, denen sie sich

Uchtspringer Schriften

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begleitend angeschlossen hatte, bändigen; aus dem überbetonten individu-

ellen Lebensrecht überschlug sie sich in die grelle Grandiosität eines Gedanken-

rausches, der sich ins Übermenschentum verflog: wobei sich ihm als Basis

die Evolutionstheorie unterschob, – sie, die allen Übersteigerungen stets so

hilflos willige.

Nietzsches ganze Wegstrecke und hinein in diese letzte Aufgipfelung,

führte ihn durch Gebiete psychischer Entdeckungen offenbarendster Art, –

oft möchte man davon sagen: psychoanalytischer Art. Die Sterilität der

Schulpsychologie wurde darin überstürzt vom Reichtum eines Materials,

woran die menschliche Seele, aller Vorurteile entfesselt, unerhört tief, uner-

hört kühn, sich auszuschöpfen begann. Wer es miterlebte, konnte wohl spü-

ren: hier –, hier, an dieser Stelle gilt es, sich geistig anzusiedeln: wagemutig

und geduldig; hier gilt es, statt eiligen Umkipps in erneute Theoretik, langes

Verweilen zu üben unter Anleitschaft inzwischen errungener forscherischer

Strenge. Wobei freilich sofort auch das Problem sich auftun mußte: wie die-

sem lebendigsten Material beikommen mit wissenschaftlich sichernden He-

beln und Schrauben, ohne es eben an seiner Lebendigkeit zu verletzen?

Dieses Rätsel ist es, dessen Lösung Freud uns brachte. Was sich keinem

Philosophen gelöst hätte, verriet sich dem Arzt, als die Durchforschung psy-

chischer Krankheitsherde ihm die Wünschelrute in die Hand gab, welche

anzuzeigen versteht, was sich im Unterirdischen des Menschen verdrängt

hält oder was sein Widerstand nur in vieldeutigsten Entstellungen an die

Oberfläche kommen läßt. Indem am Pathologischen die ungreifbare Leben-

digkeit gleichsam halb entseelt erscheint, mechanisiert, typisiert, gestattet

sie eine Exaktheit des Eingehens, Eindringens, in sich, die erstens therapeu-

tisch wirksam wurde, zweitens aber Erfahrungen und Rückschlüsse zuließ

hinsichtlich der sogenannten Normalität, d. h. desjenigen, worin die allge-

mein menschlichen Analogien dazu sich ebenfalls eingegraben finden, nur

nicht in Lapidarschrift, sondern in unentzifferbarem Lettern. Insofern darf

man sagen: Freuds Entdeckung glich dem Ei des Kolumbus wörtlich darin,

daß er es auf die zerbrochene Spitze stellte. So ergab sich im Grunde von

vornherein – ob auch noch so unbeabsichtigt vom Schöpfer der Psychoana-

lyse, ja ihm zunächst unerwartet genug – an seiner Psychoanalyse eine inter-

ne Doppelrichtung, die sonst in feindlichen Strömungen gegeneinander zu

verfließen pflegt: einmal die Wegrichtung auf Exaktheit speziellster Untersu-

chungen, auf Zerlegung noch des Zusammengehörigsten, auf Genese, Hi-

storie, Anekdote; sodann die Zielrichtung auf das dem Bewußtsein nur indi-

rekt Erfaßbare, Zugrundeliegende, Gleichartige, Wesenhafte im Sinne der

eigentlichen psychischen Wirklichkeit. In dieser unzerreißlichen Doppelung

wurden Leben und Denken – trotz Unterstreichung von beider Sonderart

und gerade durch diese – wieder geeint; weder reduziert aneinander, noch

Uchtspringer Schriften

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auch sich gegenseitig zum Größenwahn der Alleingeltung steigernd. Mit

anderen Worten: alles war damit auf praktische Analyse gestellt; auf den

Kampf des Menschen mit den ihm innewohnenden Verdrängtheiten und

Widerständen. Mit immer wiederholtem Staunen - als erlerne und erführe

man daran die Psychoanalyse jedesmal erstmalig von neuem - sieht man von

einem Fall zum andern, wie unter dem Hochdruck der nüchternsten aller Me-

thoden, dieser lebendige Springquell vom Wesensgrund her zum Auftrieb

gelangt. Deshalb bedeutet es zweifellos eine der schwersten Beeinträchti-

gungen psychoanalytischer Wirksamkeit, wenn Halbgegner oder Halban-

hänger für eine »Beigabe von Synthetik« zur Analyse glauben sorgen zu

müssen durch Untermischungen mit allerhand Ethik, Religion oder Philoso-

phie; sie entziehen eben damit die »synthetisch« wirksamsten Elemente der-

jenigen Betätigung, die im natürlichen Genesungsvorgang sich neu organi-

siert. Gilt dieser Vorgang doch nicht, wie irgendeine Wunderkur, nur für den

sogenannten »Kranken«, d. h. den, dessen stockende oder aber hemmungs-

lose Funktionierung ihn an den Realitätsansprüchen scheitern ließ, sondern

für jeden, der sich, aus Berufs- oder anderen Gründen, einer Analyse unter-

zog, und nicht zum wenigsten für den Analytiker selbst, den Freud von jeher

daran mahnte, daß man mit niemandem weiter gelange, als man mit sich ge-

kommen sei.

Dieses gleiche Schicksal der Seele ergibt für die zwei, an einer Analy-

se Beteiligten, eine Gemeinsamkeit einziger Art, die weder mit individuellen

Bezogenheiten zu verwechseln ist, noch mit irgendwelcher Weichheit, wie

sie etwa beim Helfer der Teilnahme, beim Analysanden dem Hilfsverlangen

entspräche. Sie reicht also über jene »Übertragungsphänomene« noch hin-

aus, die außeranalytisch sich ebenso ereignen können, oder aber an denen

die Affektvergangenheit des Analysanden sich am Analytiker zu wiederho-

len und zu lösen hat. Ich meine hier die Gemeinsamkeit des Erlebnisses selber

auf dem sonst unbetretbaren Boden des Unbewußten; nicht die bloße Tatsa-

che der gleichen psychischen Wesenhaftigkeit, sondern daß sie einem Men-

schen dort als gemeinschaftliches Erlebnis aufgeht (– etwa wie wenn einem

Körper die chemische Chiffre der Körpergleichheit zu einem erfühlten Ereig-

nis würde –). Das beiderseitige Niedersteigen in vielfaches Grauen, das bei-

derseitige Innewerden vom Einssein noch des Entwertetsten mit dem Wert-

vollsten in uns, das Abfallen von Kleinmut wie von Hochmut, vor einer

letzten Unschuld und Verbundenheit des Seins Aller: das ist hier und nur hier

erlebbar. Und wird zu etwas gleich einer Einkehr – nur anders gewendeter

und verwendeter – in die fernst entsunkene Kindheitsregion: die therapeu-

tisch ja zur Losung infantiler Fixierungen aufgespürt werden mußte. Nur daß

damit »Kindheit« neu kenntlich wird als der dauernde Urgrund auch des

Aufbaus unserer Vollendung. Ist das Kindeswesen durch seine Unreife noch

Uchtspringer Schriften

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von nichts klar abgehoben, sich ein wenig noch für alles nehmend, und alles

für sich, so kehren wir reif erst heim zu uns selbst, wo an den vollzogenen

Erfahrungen eines Lebens, solche Ganzheit uns wieder aufnimmt. Ich möchte

davon beileibe nicht in Traktätchenton reden und möchte doch an dieser

Stelle den Mut finden dürfen zu Goethes stammelnd umschreibendem Wort:

»Wir heißen’s fromm sein.«

Damit komme ich auf die Veranlassung zu diesen Ausführungen. Hier

war jeder geladen, mitzuteilen, ob und worin Freuds Psychoanalyse wichtig

geworden sei seinem Lebenswerk. Ich möchte hier ergänzend von dem An-

onymen geredet haben, was nicht bloß Spezialwerken wichtig wurde. Solche

Werke, also vorwiegend künstlerischer oder wissenschaftlicher Produktion,

stellen selber schon Spezialabfuhren und Ermöglichungen der Lebens-

bewältigung dar, - trotz aller sich gerade an ihnen ergebender Komplikatio-

nen, die so zahlreiche Geistesarbeiter neurotisch erscheinen lassen; es blei-

ben dennoch Daseinsentlastungen, Daseinsentzückungen intensivster Art,

die dem nicht so gerichteten Menschen abgehen. Im Grunde hat nur er, der

Mensch der Anonymität, das Dasein in nacktester Tatsächlichkeit auszuhal-

ten, nur er hat ganz standzuhalten der Gefahr, sich zu verflachen, zu banali-

sieren, um sich das zu erleichtern. Die Psychoanalyse und sollte nicht eben

dies ihr Kostbarstes sein? - reicht allein bis dorthin: bis in die Not und Wich-

tigkeit eines jeden. Bis dorthin, wohin sonst nur wahnhaft religiöser oder

mystischer Hilfstraum sich erstreckte. Dem Schöpfer der Psychoanalyse hat

zwar wahrlich keine Konkurrenz damit vorgeschwebt! Was er schuf, war das

voraussetzungslose Ergebnis des Genius äußersten Mutes, letzter Ehrlich-

keit; was wir heute feiern, ist diese Großtat. Wir feiern damit diese unbeein-

flußbare Nüchternheit der Einstellung, die dafür keinerlei Kampf scheute.

Und wünschen ihr und uns jeden Kampf auch in Zukunft: Kampf mit Wider-

sachern und Widerständen, Kampf auch mit jedem Widersacher in uns selbst,

daß er nicht irgendeine vorbehaltliche Besonderheit dagegen ausspiele! Aber

im Wesen der Psychoanalyse liegt es, daß sie eines Zweierlei bedarf: tiefster,

intimster Einfühlung, und kältester Anwendung des Verstandes, – darin

gleichsam beiden Geschlechtern im Menschen gerecht werdend. So betont

sich vielleicht mir, als Frau, das Positive am menschlichen Ergebnis (noch

jenseits des rein Therapeutischen dran), besonders dankesstark – Sei immer-

hin Kampf die Losung; Kampf für und für, – heißer noch macht es, sich zu

versenken, zu versetzen in das durch ihn Errungene von Mensch zu Mensch.

Und somit verteilt sich unser Verhalten dazu ganz unwillkürlich nach den

Geschlechtern. Denn Männer raufen. Frauen danken.

Aus: Almanach der Psychoanalyse, 1927, S. 9-14

Uchtspringer Schriften

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Eugen Bleuler

Zum siebzigsten Geburtstag Sigmund Freuds

»Nach innen geht der geheimnisvolle Weg.«

Ein Jahrhundert ist’s, seitdem die Romantiker zum erstenmal mit diesen Wor-

ten verkündeten, was alle großen Dichter von je erfühlt haben. Etwa ein

Menschenalter später, am 6. Mai 1856, kam der Mann zur Welt, der nicht als

Dichter, sondern als Wissenschaftler, aber doch mit Intuition und künstleri-

scher Gestaltungskraft begabt, jenen Weg nicht bloß ahnend streifte, son-

dern ihn stet und zäh, spähenden Blickes verfolgte und endlich erschloß.

Und zwar war er dazu auch mit wissenschaftlichen Hilfsmitteln ausgerüstet,

die er sich, was vielleicht zu wenig betont wird, zuerst in ernsten Forschun-

gen langer Jahre erarbeitet hatte. So tief war der mittellose junge Mann in

physiologische und anatomische Studien versunken, daß sein Lehrer Brük-

ke, wohl ungern genug, ihn erst zu der Erkenntnis wecken mußte, daß dieser

Weg ihn zwar zu Einsichten, aber kaum je zu Aussichten auf Broterwerb

führen dürfte. Da verzichtete Freud darauf, die Opfer, die sein Vater dem

begabten Sohne bis dahin großherzig gewährt hatte, noch weiter anzuneh-

men. Der Name Sigmund Freud fiel mir zum erstenmal auf im Jahre 1891, als

er eine Broschüre »Zur Auffassung der Aphasien« (d. h. der durch Herd-

erkrankungen im Gehirn verursachten Sprachstörungen) herausgab. Die

Aphasielehre war damals in einem Schema verknöchert, das den neuern Be-

obachtungen nicht entsprach. Die eigenartige Auffassung des Autors schien

mir ein genialer Wurf, und ich fand mich veranlaßt, eine Ausrede zu benutzen,

um in dem gelesensten Referatenblatt auf diesen Fund hinweisen zu können

- allerdings nicht mit großem Erfolg. Eilte doch Freud mit seinen Ideen den

Fachgenossen um zehn Jahre voraus; ungefähr solange brauchten sie näm-

lich, um einzusehen, daß er recht hatte. Dann sah ich Arbeiten über anatomi-

sche Erkrankungen des Zentralnervensystems, die von einer seltenen Be-

herrschung des Stoffes zeugten. Die Gelegenheit, gleich nach dem Staatsex-

amen schon berühmt zu werden, hatte Freud unbenutzt gelassen: mit einer

aussichtsreichen Arbeit über Kokain beschäftigt, zeigte sich ihm die Mög-

lichkeit, seine weitentfernte Braut zu besuchen, und da reiste er zu der Lang-

entbehrten, seinem Kollegen den Einfall überlassend, die Koka in der Augen-

heilkunde zu benutzen, eine Idee, die bald zu der Einführung der lokalen

Schmerzlosigkeit bei chirurgischen Operationen überhaupt führte. Wir dür-

fen aber in diesem Fall dem Eingreifen Gott Amors dankbar sein, wäre doch

der Entdecker einer so wichtigen Sache nachher kaum noch ins Gebiet der

Uchtspringer Schriften

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Nervenkrankheiten hinübergeraten. Unter Nervenkrankheiten aber verstand

Freud damals die greifbaren Zerstörungen im Zentralnervensystem, worin er

sich so gut auskannte, daß er eine Zeitlang besondere Kurse improvisieren

mußte für Ärzte, die aus Amerika extra nach Wien kamen, um sich von ihm

instruieren zu lassen. Da zeigte sich, daß er nicht Phantast war, wie man ihm

nachmals vorzuwerfen beliebte, einer, der willkürlich ins Blaue hinein kon-

struiert, sondern ein ganz exakter Wissenschaftler, der von bestimmten Äu-

ßeren Anzeichen unerbittlich zu den inneren Ursachen vorzudringen und

einen Krankheitsherd im verlängerten Marke auf ein paar Millimeter genau zu

lokalisieren wußte. Erst beim Altmeister der Neurologie in Paris, Charcot, sah

er die Hysterie, die Hypnose und Suggestion, wenn auch in einer etwas

eigentümlichen Beleuchtung. Seine neuen Kenntnisse wollte Freud nach der

Rückkehr von Paris der Wiener Gesellschaft der Ärzte übermitteln, stieß aber

nur auf Abweisung. Damals zum erstenmal sagte man ihm ins Gesicht, er

schwatze Unsinn. Er erzählte nämlich davon, Hysterien bei Männern gese-

hen zu haben, und weil das Wort Hysterie im Griechischen mit der Gebärmut-

ter zu tun hat, durfte es für die Kollegen keine männliche Hysterie geben.

So wurde der junge Privatdozent gezwungen, seine eigenen Wege zu

gehen, und das tat er mit der Sicherheit des zukünftigen Bahnbrechers. Als

Bernheim in Nancy endlich die zwanzig Jahre früher von Liébault genauer

erforschte Hypnose in seiner Praxis benutzte und die Macht der Suggestion

demonstrierte, ging Freud die Sache an der Quelle studieren. Und darauf

begann er eine Praxis für Nervöse. Da vernahm er durch den angesehenen

Arzt Breuer von einer merkwürdigen Kur bei einer hysterisch schwer Kran-

ken, die in der Hypnose von Erlebnissen erzählen konnte, die mit dem Ur-

sprung ihrer schweren Leiden zusammenhingen, von denen sie aber im Wa-

chen nichts wußte, und die dann dadurch nach und nach von den verschie-

denen Krankheitserscheinungen befreit wurde. Nun versuchte Freud die

nämliche Methode mit unerwartetem Erfolg bei Ändern Kranken und stieß

dabei in allen Fällen auf einen Zusammenhang der Krankheit mit sexuellen

Schwierigkeiten der Patienten. Da nicht jeder Patient gleich zu hypnotisieren

war, ließ Freud die Hypnose fallen und suchte andere Wege, dem Unbewuß-

ten nahe zu kommen. So bildete er nach und nach seine bekannte psycho-

analytische Technik aus.

Erst in letzter Stunde auf die Bedeutung des Tages aufmerksam ge-

macht, kann ich hier der Größe der Freudschen Leistung unmöglich gerecht

werden; ich kann nur einiges vom Wesentlichen hervorheben, so die Her-

ausarbeitung der unbewußten Mechanismen, aus denen die Nervenkrank-

heiten hervorgehen und die bei vielen Geisteskranken das Äußere Bild ge-

stalten, Mechanismen, die aber auch im Geistesleben des Gesunden unend-

Uchtspringer Schriften

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lich wirksamer und zielbestimmender sind, als man geahnt hatte. In seiner

»Psychopathologie des Alltagslebens« bringt Freud dafür eine Fülle unter-

haltender Beispiele, in denen er beim Gesunden die tiefer liegenden Ursa-

chen des Versehens, Versprechens und anderer oft so geringfügig scheinen-

der Abweichungen vom Gewohnten aufzeigt. Wer das Unbewußte verwirft

oder nicht versteht, ist unfähig zum Verständnis der Neurosen, es sei denn,

daß er die unbewußten Vorgänge doch in Rechnung zieht, aber als »bewußt«

bezeichnet, wie es Einzelnen beliebt.

Am meisten griff man Freud an wegen seiner Stellung zur Sexualität,

denn diese fand er nicht nur an der Wurzel seiner Nervenkrankheiten, son-

dern er wies sie in voller Wirksamkeit nach schon beim kleinen Kinde, dessen

erotische Einstellung bestimmend sei für die Nervenkrankheiten und das

allgemeine Verhalten des späteren Erwachsenen. Die heiligsten Gefühle, hieß

es, ziehe er in den Kot, taste sogar die beliebte »Reinheit und Unschuld« der

Kinder an. Letztere scheint mir eine der dümmsten Vorstellungen, die es in der

Psychologie gibt. Wissen denn diese Leute nicht, wie lebendig einst ihre

sexuelle Neugierde und viele andere sexuellen Strebungen und Gefühle sich

bemerkbar machten, wenigstens zu der Zeit, die sie in die Elementarschule

gingen? Und blieben sie weiter so blind, da sie ihre eigenen Kinder erzogen?

Und daß man hinter den gewöhnlichen Neurosen regelmäßig Zusammen-

hänge mit der Sexualität findet, ist eben eine Tatsache, gerade so gut, wie

diese bei vielen Geisteskrankheiten das Äußere Krankheitsbild gestaltet, wenn

auch meines Erachtens nicht die Ursache derselben liefert. Und was für ent-

artete Nichtsnutze müßten dann die Dichter sein, die uns immer wieder den

Primat der Liebe, gerade auch der schon im Kindesalter auftauchenden, über

alle andern Triebe vor Augen stellen? Und wie dumm wären erst noch die

Leser, die diese durch Jahrtausende wiederholte Fiktion noch immer nicht

ablehnen!

Besonderes Entsetzen hat Freuds Entdeckung einer unserer bewuß-

ten Erkenntnis bisher gänzlich fremden Tatsache erregt: des sogenannten

»Ödipus-Komplexes«, d.h. einer Art bereits sexuell gefärbter Liebe des Klein-

kindes zum andersgeschlechtigen Elter und entsprechender eifersüchtiger

Regungen dem gleichgeschlechtigen Elter gegenüber. Wer aber Augen hat

zu sehen und Ohren zu hören, kann diese Erscheinung in Gesundheit und

Krankheit an kleinen Kindern wie Erwachsenen beliebig oft konstatieren,

ganz abgesehen von den sehr deutlichen Fingerzeigen in unzähligen Mär-

chen und Sagen. Wir haben uns nur vor den Tatsachen zu beugen.

Es kann ferner bei jedem Gesunden festgestellt werden, wie leicht

gerade Vorstellungen und Strebungen sexueller Natur in Konflikt geraten mit

Ändern Tendenzen, z. B. denen der Moral und Konvention. Häufig ist es

Uchtspringer Schriften

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dann das sexuelle Streben, das zurücktreten muß. Es ist aber zu tief in der

Natur verwurzelt, als daß es ganz unterdrückt werden könnte. So wird es nur

»ins Unbewußte verdrängt«, und setzt sich von da aus oft in Krankheits-

symptome um, ein Vorgang, den wir nicht nur bei den Neurosen, sondern

ganz besonders klar auch bei vielen Formen von Geisteskrankheiten sehen.

Dadurch, daß er den so wichtigen Begriff der Verdrängung herausarbeitete,

hat Freud die Psychopathologie wesentlich bereichert.

Die »Traumdeutung« ist zu bekannt, als daß hier viele Worte darüber

zu verlieren wären. Es sei nur bemerkt, daß sie durchaus nicht das willkürlich

phantastische Gebilde ist, als das sie auch jetzt noch oft bezeichnet wird.

Viele der »Deutungen« lassen sich objektiv ganz sicher erhärten; man kann

höchstens fragen, ob alle Traumerscheinungen bloß auf den Freudschen

Mechanismen entstehen, oder ob noch andere Wege zu unseren Schlafvor-

stellungen führen, wie ich zu glauben geneigt bin, obschon ich es nicht

beweisen kann, während gerade das Vorkommen Freudscher Mechanismen

bewiesen ist. Immerhin habe ich erlebt, daß ein Psychoanalytiker (nicht aber

Freud selbst) aus meinen Träumen seine eigenen Komplexe statt der meini-

gen heraus las.

Freuds Bedeutung ist für den schwer zu ermessen, der es nicht vor

Freud versucht hat, Psychologie, d. h. Wissenschaft von der ganzen Psyche

zu treiben. Die Unmöglichkeit, in die Tiefe der Seele zu dringen, war so groß,

daß die Meisten gar nicht bemerkten, wie unter der Oberfläche, die sie stu-

dierten, erst die wichtigsten Triebkräfte verborgen lagen. Die Erforschung

des Unbewußten in seiner ganzen Bedeutung, der Begriff der Verdrängung

mit allen ihren Folgen in Gesundheit und Krankheit, die Art des Denkens im

Unbewußten und im Traum mit seiner Symbolik, seiner Ersetzung logischer

Konsequenzen durch affektive Bedürfnisse, die Herausstellung des elemen-

taren Wirkens der Sexualität auf die übrige Psyche: all das sind Errungen-

schaften, welche die wissenschaftliche Psychologie, soweit sie nicht psy-

chologische Physiologie ist, auf neue Grundlagen stellen. Wir verstehen nun

auf einmal eine Menge vorher dunkler Reaktionen des Gesunden in ihrem

Wechsel, wie in ihrem Beharren, in ihren scheinbaren Widersprüchen, ihren

kleinen und großen Verfehlungen; wir haben einen tiefen Einblick in die Ent-

stehung der Nervenkrankheiten, in die Symptome der Geisteskrankheiten

gewonnen, können auf beiden Gebieten viel leichter heilend und bessernd

eingreifen; auch die Pädagogik fängt an, psychoanalytische Erkenntnisse in

der Erziehung zu verwerten; auf einmal verstehen wir ganz große Abschnitte

der Mythologien, der Denkart früherer Zeiten, des Aberglaubens und noch

vieles andere.

Uchtspringer Schriften

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Freud hat in sein Lehrgebäude eine Menge geistreicher Konstruktio-

nen eingeführt, die hier nicht erwähnt werden können und mir auch nicht so

wichtig erscheinen. Der Meister selber aber legt auf alles Gewicht, ja er be-

trachtet auch solche Einzelheiten als notwendige Bestandteile im Fundament

seines Gebäudes, und er kann diejenigen, die ihm, wie ich, nicht überall hin

folgen, gar nicht als seine Schüler ansehen. So drückt sich das Künstlerische

seiner Anlage nicht bloß darin aus, daß eben die Psychoanalyse eine wirkli-

che Kunst ist, sondern auch darin, daß er den Wert seines Werkes gefährdet

sieht, wenn auch nur ein Steinchen davon herausgenommen wird, gerade

wie einem Maler ein für uns unbedeutender Pinselstrich für den Gesamtein-

druck unerläßlich erscheint. Aus all dem Angeführten, das ja nur das leichtest

Faßbare in Freuds Schöpfungen herausgriff, sollte doch sichtbar werden,

daß auch ich ihm so gut wie alle andern, denen die Kenntnis des Menschen

und seiner Seele am Herzen liegt, den höchsten Dank schulde.

Vor einem Vierteljahrhundert stand der Forscher noch allein der gan-

zen gebildeten Welt gegenüber, und auch jetzt noch gibt es Leute, die ihn

bekämpfen, herabsetzen und verhöhnen. Ihre Zahl wird aber von Jahr zu Jahr

kleiner und nicht nur die schöne Literatur hat Freuds Ideen aufgegriffen,

ihrem Einfluß kann sich kein Gebildeter mehr entziehen. In jener Wissen-

schaft zumal, deren Literatur ich überschaue, der Psychiatrie und Neurolo-

gie, macht sich sein. Wirken auf Schritt und Tritt bemerkbar. Es ist geradezu

amüsant zu sehen, wie auch jene, die immer noch sich den Anschein geben,

von Freud nichts wissen zu wollen, dennoch, offenbar ohne sich dessen

bewußt zu sein, auf seine Gedanken bauen. Immer wieder müssen die Werke

Freuds, auch die, welche nach seinem eigenen Urteil überholt sind, neu auf-

gelegt werden. Ein Teil von ihnen ist in sieben Sprachen übersetzt. Als ein

besonders deutliches Zeichen der Festigkeit des Freudschen Gebäudes be-

trachte ich es, daß ihm nicht einmal die Scharen seiner Nachbeter etwas

anzuhaben vermochten, der allzuvielen, die kritiklos seine Worte nachspre-

chen, aber gar nicht fähig sind, die Größe des Ganzen zu übersehen, und

deren Eifer nur dazu dient, die Freudschen Ideen ins Absurde zu führen -

wenn das eben möglich wäre.

Eine Zeit wird kommen, da man von einer Psychologie vor Freud und

einer solchen nach Freud wird sprechen müssen. Das Wort »Seele«, abgelei-

tet von »See«, erinnert uns immer noch an das Spiel auf- und abgehenden

Wassers. Vor Freud segelten die Schiffe der Psychologen fröhlich darüber

hinweg; er aber, der »Tiefseelforscher« tauchte hinab und begehrte zu schau-

en, was sich da unten verhehle, dem Grauen trotzend, womit es bisher zuge-

deckt worden war.

Aus: Almanach 1927, S. 16-22.

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Hanns Sachs

Zum 70. Geburtstage Sigm. Freuds

Über Freud als Forscher und Schöpfer, über seine Bedeutung für die Er-

kenntnis des Seelenlebens, über seinen Einfluß auf das wissenschaftliche

Denken überhaupt - über diese Dinge hier zu schreiben, verbieten der Anlaß

und der Ort. Der Anlaß - weil man einen weltbewegenden Menschen nicht

feiert, wie einen pflichttreuen Beamten oder Angestellten, in dessen Leben

nur die Kalenderzahlen wesentliche Marksteine sind, während Freud uns

durch seine noch im Flusse befindliche, ja fast gesteigerte Produktivität be-

wiesen hat, daß wir uns an keiner Grenzscheide seines Wirkens befinden. Der

Ort, weil in diesen Blättern jede Zeile von der Größe seines Werkes spricht,

so daß eine besondere Hervorhebung eher eine Abschwächung als eine

Erhöhung bedeuten würde.

Statt dessen sei mir vergönnt, dem Gefühl nachzugeben, daß die Per-

sönlichkeit Freuds für mich mit dem wesentlichen, ja fast dem einzig bedeut-

samen Teil meiner eigenen Entwicklung unlösbar verknüpft ist. Ich glaube

davon im Namen seiner ersten, ihm am nächsten stehenden Schüler ohne

ungebührliche Betonung des Persönlichen sprechen zu dürfen, denn viele,

und gewiß nicht die schlechtesten unserer Zeitgenossen, haben den Ab-

glanz eines solchen Erlebnisses aus den Werken Freuds geschöpft, das uns

ein seltenes Glück in den Schoß warf.

Aus: Imago 12(1926), S. 115-116.

Uchtspringer Schriften

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Uchtspringer Schriften

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Sándor Ferenczi

Zum 70. Geburtstage Sigm. Freuds. Eine Begrüßung

Mir fiel die Aufgabe zu, Sigm. Freud aus Anlaß seines 70. Geburtstages fest-

lich zu begrüßen und ihm die Glückwünsche unserer Zeitschrift darzubrin-

gen. Es ist nicht leicht, dieser ehrenvollen Pflicht zu genügen. Seine Gestalt

ist viel zu hervorragend, als daß ein ihm Nahestehender, einer seiner Anhän-

ger und Mitarbeiter, es zustande bringen könnte, sie im Vergleich mit anderen

Großen der Geistesgeschichte und im Verhältnis zu seinen Zeitgenossen

darzustellen. Auch spricht sein Werk für sich selbst und bedarf keiner Kom-

mentare, insbesondere keiner Lobpreisung. Es mißfiele gewiß dem Schöpfer

einer unnachsichtig ehrlichen, aller Heuchelei feindlichen Wissenschaft, die

Dithyramben zu hören, die bei solchen Anlässen den Führer einer großen

Bewegung zu preisen pflegen. Die objektive Darstellung seines Lebenswer-

kes aber, eine verlockende Aufgabe für einen eifrigen Schüler, erübrigt sich

hier, da ja diesem Zwecke der Meister selbst mehrere Essays von unnach-

ahmlicher Sachlichkeit gewidmet hat. Er hat der Öffentlichkeit nichts vorent-

halten, was er über die Entstehung seiner Ideen weiß, er erzählte uns alles,

was über die Schicksale seiner Lehre, über die Reaktionsweise der Mitwelt zu

sagen war. Dem modernen Persönlichkeitsforscher gar, der mit Hilfe von Ein-

zelheiten aus dem Privatleben neue Einblicke in die Entwicklungswege eines

Forschers zu gewinnen trachtet, hat Freud, bezüglich seiner Person, den

Wind aus den Segeln genommen. In seiner »Traumdeutung«, in der »Psy-

chopathologie des Alltagslebens« besorgte er das selber in einer bisher nicht

gekannten Art, die nicht nur dieser Forschungsweise neue Wege wies, son-

dern für alle Zeiten ein Beispiel der auch gegen sich selber schonungslosen

Aufrichtigkeit gibt. Auch die sonst so sorgsam gehüteten »Atelier-

geheimnisse«, die unvermeidlichen Schwankungen und Unsicherheiten, gab

er unbedenklich preis.

Das Konsequenteste wäre wohl nach alledem, auf jede Art Manife-

station zu verzichten. Ich weiß es bestimmt, daß es dem Meister am liebsten

wäre, wenn wir uns um künstlich geschaffene Zäsuren, um eine runde Zahl,

die an und für sich nichts bedeutet, nicht kümmerten und ruhig weiter arbei-

teten. Wir, seine Schüler, wissen ja gerade von ihm, daß alle modernen Feste

exaltierte Huldigungen sind, die die Gefühlsregungen einseitig zum Aus-

druck bringen. Es war nicht immer so; es gab Zeiten, in denen man dem auf

den Thron Erhobenen auch die feindseligen Absichten nicht verhehlte; Freud

lehrte uns, daß dem Höchstgeehrten, wenn auch nur unbewußt, auch heute

noch auch Haß, nicht nur Liebe entgegengebracht wird.

Trotz alledem konnten wir der Versuchung nicht widerstehen, uns

ausnahmsweise und gegen besseres Wissen vor der Konvention zu beugen

Uchtspringer Schriften

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und den Geburtstag zum Anlaß zu nehmen, dieses Heft, sowie das am glei-

chen Tage erscheinende Heft der Imago, ausdrücklich unserem Herausgeber

zu widmen. Wer aber die zwölf Jahrgänge unserer Zeitschrift durchblättert,

dem wird es sofort klar, daß eigentlich alle bisherigen Hefte ihm gewidmet

waren; die Arbeiten, sofern sie nicht vom Meister selbst stammten, enthiel-

ten nur die Fortsetzung, die Nachprüfung oder Würdigung seiner Lehren.

Auch das heutige, feierlicher als sonst auftretende Heft ist also im Wesen

nichts anderes als alle vorherigen Hefte, nur daß sich die Mitarbeiter in einer

etwas stattlicheren Zahl präsentieren. Statt einer formellen Einleitung dersel-

ben aber gestatte ich mir, in loser Folge, gleichsam als freie Assoziation, die

Gefühle und Gedanken wiederzugeben, die in mir bei dieser Gelegenheit auf-

tauchen. Ich darf voraussetzen, daß diese Einfälle auch vielen der Gleich-

strebenden eignen.

In einer Arbeit, in der ich Freuds Drei Abhandlungen zur Sexual-

theorie zu würdigen versuchte, komme ich zum Schluß, daß diesem Werke

eine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung zukommt: es riß die Grenzen

zwischen Natur- und Geisteswissenschaften nieder. In einer anderen Arbeit

mußte ich die Entdeckung und Erforschung des Unbewußten durch Freud

als einen Fortschritt in der Menschheitsgeschichte hinstellen, als das erst-

malige Funktionieren eines neuen Sinnesorgans. Man mag diese Behaup-

tungen als Übertretungen von vornherein abweisen und sie als unkritische

Äußerungen eines enthusiastischen Jüngers hinstellen; Tatsache bleibt, daß

sie nicht etwa einer Jubiläumsstimmung entsprangen, sondern als Konse-

quenz aus einer langen Reihe neuer Erkenntnisse gezogen wurden.

Ob und wann sich meine Voraussage, daß einstmals alle Welt von einer Vor-

und einer Nach-Freudschen Epoche sprechen wird, in Erfüllung geht, kann

ich natürlich nicht sagen; die zwanzig Jahre, die ich seinen Fußstapfen folge,

haben an dieser Überzeugung nichts geändert. Zweifellos aber teilt sich das

Leben eines Neurologen, der das große Glück hatte, als Zeitgenosse Freuds

zu leben, und das größere, seine Bedeutung früh erkannt zuhaben, in eine

Vor- und Nach-Freudsche Periode, Lebensabschnitte, die im schärfsten

Gegensatze zueinander stehen. Mir wenigstens war vor Freud der Beruf des

Neurologen eine ausnahmsweise zwar interessante Beschäftigung mit dem

Nervenfaserverlauf, sonst aber eine schauspielerische Leistung, eine fort-

währende Freundlichkeits- und Wissensheuchelei den Hunderten von Neu-

rotikern gegenüber, von deren Symptomen wir nicht das mindeste verstan-

den. Man schämte sich – ich wenigstens schämte mich – für diese Leistung

sich auch noch belohnen zu lassen. Auch heute können wir nicht jedem

helfen, doch sicher sehr vielen, und auch in den negativen Fällen bleibt uns

das beruhigende Gefühl, uns redlich, mit wissenschaftlichen Mitteln um das

Verständnis der Neurosen bemüht und die Ursachen der Unmöglichkeit des

Uchtspringer Schriften

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Helfens durchschaut zu haben. Der peinlichen Aufgabe, mit der Miene des

allwissenden Doktors Trost und Hilfe zu versprechen, sind wir enthoben, so

daß wir diese Kunst schließlich ganz verlernten. Die Psychiatrie, früher ein

Raritätenkabinett von Abnormitäten, die wir verständnislos anstaunten, wurde

durch Freuds Entdeckungen ein fruchtbares, einheitlichem Verständnis zu-

gängliches Wissensgebiet. Ist es da eine Übertreibung, zu behaupten, daß

uns Freud den Beruf verschönt und veredelt hat? Und ist es nicht glaubhaft,

daß wir von steter Dankbarkeit erfüllt sind gegen einen Mann, dessen Wir-

ken dies ermöglichte? Den siebzigsten oder achtzigsten Geburtstag zu feiern,

mag eine konventionelle Förmlichkeit sein, für Freuds Schüler ist ein solcher

Tag sicherlich nur eine Gelegenheit, längst gehegten Gefühlen einmal Aus-

druck zu geben. Hieße es nicht, dem in Gefühlssachen eher zu Schamhaftig-

keit neigenden Zeitgeist eine Konzession machen, wenn wir diese Gefühle

unausgesetzt unterdrückten? Folgen wir lieber dem Beispiele der Antike und

schämen wir uns nicht, unserem Meister einmal offen und herzlich zu danken

für alles, was er uns geschenkt hat.

Es wird nicht lange dauern, bis der ganze ärztliche Stand zur Einsicht

kommt, daß zu solchen, meinetwegen lyrischen, Gefühlsäußerungen nicht

nur die Nervenärzte, sondern alle, die sich um die Heilung von Menschen

bemühen, vollen Grund hätten. Die Erkenntnis der Rolle des psychischen

Verhältnisses zum Arzte bei jeder Art von Therapie und die Möglichkeit ihrer

methodischen Verwertung wird allmählich Gemeingut aller Ärzte Die von

Spezialistentum zerklüftete ärztliche Wissenschaft wird, dank Freud, wieder

zu einer Einheit integriert werden. Der Arzt wird aus einem trockenen Labora-

toriums- und Seziersaaltechniker ein Kenner des gesunden und kranken Men-

schen, der Ratgeber, an den sich jeder mit berechtigter Hoffnung auf Ver-

ständnis und vielleicht auf Hilfe wenden kann.

Es mehren sich aber die Zeichen, die dafür sprechen, daß die Ärzte

der Zukunft auf viel mehr Achtung und Anerkennung nicht nur seitens der

Kranken, sondern der ganzen Gesellschaft werden rechnen können. Der Eth-

nologe und Soziologe, der Geschichtsschreiber und der Staatsmann, der

Ästhetiker und der Philologe, der Pädagoge und der Kriminologe wendet

sich schon jetzt an den Arzt als Kenner der menschlichen Seele um Auskunft,

will er sein Spezialgebiet, das schließlich auf ein Stück Psychologie aufge-

baut sein muß, vom schwankenden Boden willkürlicher Annahmen auf eine

sichere Basis stellen. Es gab schon eine Zeit, in der der Arzt als der Mann der

Wissenschaft geachtet war: er war der hochgelehrte Kenner aller Pflanzen

und Tiere, aller Wirkungen der »Elemente«, so weit sie damals bekannt wa-

ren. Das Kommen einer ähnlichen Zeitströmung wage ich vorauszusagen,

eine Zeit der »Iatrophilosophie«, zu der Freuds Wirken den Grundstein ge-

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legt hat. Freud wartete auch nicht, bis alle Gelehrten die Psychoanalyse ken-

nen, er war gezwungen, Probleme der Grenzwissenschaften, auf die er bei der

Beschäftigung mit Nervenkranken stieß, mit Hilfe der Psychoanalyse selber

zu lösen. Er schrieb sein Totem und Tabu, ein Werk, das der Ethnologie neue

Wege weist; um seine Massenpsychologie wird keine künftige Soziologie

herumkommen; sein Buch vom Witz ist der erste Versuch zu einer psycholo-

gisch begründeten Ästhetik und unzählig sind seine Hinweise auf neue Ar-

beitsmöglichkeiten auf dem Gebiete der Erziehungswissenschaft.

Brauche ich vor den Lesern dieser Zeitschrift viel Worte darüber zu

verlieren, was die Psychologie der Psychoanalyse zu verdanken hat? Ist es

nicht vielmehr wahr, daß vor Freud eigentlich alle wissenschaftliche Psycho-

logie nur feinere Sinnesphysiologie gewesen ist, während die komplizierte-

ren seelischen Erlebnisse das unbestrittene Gebiet der Belletristik waren?

Und war es nicht Freud, der durch die Schaffung einer Trieblehre, der Anfän-

ge einer Ich-psychologie, durch die Konstruktion eines brauchbaren meta-

psychologischen Schemas die Psychologie erst auf das Niveau einer Wis-

senschaft hob?

Es genügt diese bei weitem nicht vollständige Aufzählung, um es

auch dem größten Skeptiker glaubhaft zu machen, daß nicht nur seine Schü-

ler und seine Berufsgenossen, sondern die ganze Gelehrtenwelt allen Grund

hat, sich darüber zu freuen, daß der Meister dieses Alter in voller Schaffens-

kraft erreicht hat, und zu wünschen, daß ihm noch viel Zeit zur Fortführung

seines großen Werkes gegönnt sein möge.

»Also doch nur Lobeserhebungen,« werden sich viele denken, »und

wo bleibt die versprochene Aufrichtigkeit, die auch von den Schwierigkeiten

und Kämpfen zwischen dem Meister und seinen Schülern etwas erzählt?«

Auch hierüber soll ich also einige Worte sagen, obzwar es mir unbehaglich

ist, mich gleichsam als Kronzeugen dieser nicht uninteressanten, aber für die

Beteiligten recht peinlichen Ereignisse vorzudrängen. So sei es denn gesagt,

daß es fast keinem von uns erspart geblieben ist, gelegentlich Winke und

Mahnungen des Meisters zu hören, die manchmal prächtige Illusionen zer-

rissen und im ersten Augenblick Gefühle der Verletzung und der Benachteili-

gung aufkommen ließen. Doch muß ich bezeugen, daß Freud uns oft sehr

lange gewähren, der individuellen Eigenart viel Spielraum offen läßt, bis er

sich entschließt, mäßigend einzugreifen oder gar von den ihm zu Gebote

stehenden Abwehrmitteln Gebrauch zu machen - das letztere nur, wenn er zur

Überzeugung kommt, daß durch ein Nachgeben die Sache, ihm wichtiger als

alles, gefährdet werden könnte. Da allerdings kennt er keine Kompromisse

und opfert, wenn auch schweren Herzens, liebgewonnene persönliche Be-

ziehungen und Zukunftshoffnungen. Da wird er hart gegen sich wie gegen

Uchtspringer Schriften

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andere. Wohlwollend betrachtete er die Sonderentwicklung eines seiner be-

gabtesten Schüler, bis er mit dem Anspruch auftrat, mit dem elan vital alles

verstanden zu haben. Auch ich kam vor vielen Jahren einmal mit der Entdek-

kung, der Todestrieb könne alles erklären. Das Zutrauen zu Freud ließ mich

vor seinem ablehnenden Urteil mich beugen - bis eines Tages das Jenseits

des Lustprinzips erschien, in dem Freud mit dem Wechselspiel des Todes

und Lebenstriebes der Vielfältigkeit der psychologischen und biologischen

Tatsachen um so viel mehr gerecht wurde, als es jene Einseitigkeiten ver-

mochten. Die Idee der »Organminderwertigkeit« interessierte ihn als vielver-

sprechender Anfang zur somatischen Fundierung der Psychoanalyse. Jahre-

lang nahm er dafür die etwas eigenartige Denkweise ihres Autors mit in Kauf;

doch als es ihm klar wurde, daß jener die Psychoanalyse nur als Sprungbrett

zu einer teleologischen Philosophie benützt, löste er die Gemeinschaft der

Arbeit. Sogar den wissenschaftlichen Bocksprüngen eines seiner Schüler

sah er lange zu, da er seinen Spürsinn für Sexualsymbolik schätzte. Die große

Mehrzahl seiner Schüler aber hat die unvermeidlichen Empfindlichkeiten

überwunden und ist überzeugt, daß die Psychoanalyse Freuds allen berech-

tigten Sonderbestrebungen früher oder später die ihnen zukommende Be-

deutung einräumt.

Unsere zünftige Abgeschlossenheit darf nicht so weit gehen, daß wir

an diesem Tage nicht auch der Gefühle jener gedenken, die Freud persönlich

nahestehen, vor allem seiner Familie, in der Freud nicht als mythische Ge-

stalt, sondern als Mensch lebt und wirkt, und die für seine uns allen so teure

Gesundheit Sorge trägt, der wir für diese Sorgfalt so viel Dank schulden.

Doch auch der weite Kreis der in seinem Sinne behandelten Kranken, die

durch ihn die Kraft zum Leben wiederfanden, wird an seinem Festtage mit

uns feiern, nicht minder aber jener noch weitere Kreis von gesund Leiden-

den, denen er durch seine Erkenntnisse viel sinnlos getragene Lebenslast

abnahm.

Die Psychoanalyse wirkt letzten Endes durch Vertiefung und Erweite-

rung der Erkenntnis; die Erkenntnis aber (dies versuche ich gerade in einer

auf den folgenden Blättern veröffentlichten Arbeit nachzuweisen) läßt sich

nur durch Liebe erweitern und vertiefen. Und wäre es nur, weil es Freud

gelungen ist, uns zum Ertragen von mehr Wahrheit zu erziehen, kann er ver-

sichert sein, daß seiner am heutigen Tage ein großer und nicht wertloser Teil

der Menschheit in Liebe gedenkt.

Aus: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 12(1926), S. 235-240.

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Der 75. Geburtstag

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Freud 1931

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Sigmund Freuds 75. Geburtstag in der Presse

Am 6. Mai dieses Jahres vollendete Sigmund Freud sein 75. Lebensjahr. Sein

Wunsch, daß Ehrungen und Veranstaltungen aus diesem Anlaß unterblei-

ben sollen, vermochte manches, nicht alles zu verhindern. Für seine nächste

Umgebung, seine Schüler war aber die Beachtung jenes Wunsches jeden-

falls eine Pflicht. Die Internationale Psychoanalytische Vereinigung und fast

alle ihr angeschlossenen Landesgruppen haben von der Veranstaltung öffent-

licher Freud-Feiern abgesehen, und die psychoanalytischen Zeitschriften

haben es unterlassen, Festschriften zu veröffentlichen. Diese Zeitschrift kann

sich allerdings ihrer Verpflichtung, das »Echo der Psychoanalyse« zu regi-

strieren, nicht entziehen und soll daher kurz berichten über die Äußerungen

und Veranstaltungen, die anläßlich des 75. Geburtstages von Sigm. Freud in

der Öffentlichkeit vorgefallen sind, und zwar in der Hauptsache außerhalb

der psychoanalytischen Organisationen und eigentlich ohne Mitwirkung

ihrer Angehörigen vorgefallen sind. Es muß auch nicht gesagt werden, daß

einer solchen Übersicht der Anspruch auf Vollständigkeit versagt werden

muß. Weder ist uns alles zur Kenntnis gelangt, was zum 6. Mai 1931 in der

Öffentlichkeit gesprochen und geschrieben worden ist, noch vermag es un-

sere Absicht zu sein, aus den uns bekannt gewordenen Äußerungen mehr

als eine Auswahl zu referieren.

Wir beginnen mit Wien und nennen zuerst die Festsitzung, die der

»Akademische Verein für medizinische Psychologie« im großen Saale der

»Gesellschaft der Ärzte« abhielt. Daß gerade diese Gesellschaft, die übri-

gens Freud kurz vorher zum Ehrenmitglied gewählt hatte, ihren Saal zu die-

sem Zweck zur Verfügung stellte, gab der Tagespresse zu manchen Glossen

Anlaß, wobei auf die sarkastischen Stellen bei Freud hingewiesen wurde, in

denen er die seinerzeitige zum Teil frostige, zum Teil höhnische Aufnahme

der psychoanalytischen Entdeckungen durch die »Gesellschaft der Ärzte«

schilderte. Die »Gesellschaft der Ärzte« ließ sich an dieser Festsitzung durch

die Professoren Eiselsberg und Wagner-Jauregg vertreten. Die beiden Fest-

reden hielten die Professoren Pötzl und Gomperz. Prof. Pötzl würdigte die

Bedeutung der Psychoanalyse für die klinische Psychiatrie und versuchte zu

erklären, warum die Wiener »Schulpsychiatrie« sich der Psychoanalyse nur

allmählich und eigentlich recht spät zuwenden konnte. Prof. Heinrich Gomperz

schilderte in einem formvollendeten Vortrag, was jede der einzelnen Geistes-

wissenschaften (die Psychologie, die Pädagogik, die Kunstwissenschaft,

die Religionswissenschaft, die Soziologie usw.) Sigmund Freud zu verdan-

ken hat, und zwar nicht nur zufolge der unmittelbaren Beiträge Freuds und

seiner Schule zu diesen Disziplinen, sondern durch die Neubefruchtung aller

Geisteswissenschaften von Grund aus.

Uchtspringer Schriften

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Ein Teil der Wiener Tagespresse hat es nicht versäumt, am 6. Mai auf

die Persönlichkeit Freuds und die Bedeutung seines Werkes hinzuweisen.

Vor allem sei die »Wiener Allgemeine Zeitung« angeführt, die zweieinhalb

Seiten dem 75. Geburtstag Freuds widmete. Der Leitartikel (von Paul Deutsch)

schließt mit den Sätzen: »Sigmund Freud teilt das Schicksal aller großen

Revolutionäre der Geistigkeit. Gegen ihn arbeitet das seelische und gedank-

liche Trägheitsgesetz solange, bis jener Spannpunkt erreicht ist, an dem der

Traditionalismus in Stücke zerreißt. Weit davon entfernt sind wir heute auch

in Österreich nicht mehr. Wenn heute die Gesellschaft der Ärzte, in der Freud

einst so grausam verhöhnt wurde, ihn auf den Würdestuhl eines Ehrenmit-

gliedes erhebt; wenn die offiziellen Ehrenträger der Wissenschaft ihm Lor-

beerkränze winden und, wie Wagner-Jauregg sehr fein bemerkt, sich als

allergetreueste Opposition bekennen, dann wird die Wendung deutlich spür-

bar. Die Befestigung des strengen Determinismus, von Spinoza ererbt, von

der modernen Naturwissenschaft als Grundprinzip anerkannt; der begeister-

te und begeisternde Antikonfessionalismus; die Sprengung der Barbaren-

ketten des blinden Glaubens und der blöden Verantwortlichkeit das alles

sind Errungenschaften, die die Menschheit um ein Stück über sich hinaus-

wachsen lassen, und die wir diesem einzigen Manne verdanken. Wenn wir

geistigen Österreicher sein Altersjubiläum am heutigen Tage feiern, dann

tragen wir zu seiner Ehre nicht viel bei, wohl aber sehr viel zur Ehre unseres

Landes.«

Dem Leitartikel schließt sich die Wiedergabe eines Abschnittes aus

Freuds Geschichte der psychoanalytischen Bewegung an. Es folgen dann

zwei Zuschriften von Prof. Wagner-Jauregg und Prof. Karl Bühler. Prof. Wag-

ner-Jauregg verteidigt die Schulpsychiatrie gegen den Vorwurf, sie habe die

Psychoanalyse verkannt. Der Kern der Freudschen Errungenschaften sei

anerkannt worden. »Der Kampf ging nur um den Umfang, in dem sie Geltung

beanspruchten. Solch eine ›allergetreueste‹ Opposition ist nicht von Scha-

den.« Prof. Bühler zieht eine Parallele zwischen Schopenhauer und Freud. In

einem Punkte seien die beiden Denker sehr verschieden. Muten uns die

späten Schriften des Einsiedlers in Frankfurt an, wie das Produkt eines Aus-

ruhenden, einer gesättigten Muse, so wächst im Gegenteil die innere Span-

nung, das Ringen mit neuen Problemen im Schaffen Freuds. Wer weiß, welch

neue Überraschungen die nächste Schrift des nun 75jährigen den ihm Fer-

ner- und den ihm Nahestehenden bringen wird? Es ist eine volle Bewunde-

rung vor der rücksichtslosen Selbstkritik und dem ungebrochenen

Fortschrittswillen im Werke Freuds in dem Glückwunsch enthalten, den ich

ihm heute als einer seiner Kritiker darbringe.«

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Des Ferneren veröffentlichte die »Wiener Allgemeine Zeitung« einen

Aufsatz von Dr. Hitschmann, »Was ist Psychoanalyse?«, und einen von Dr.

Friedjung, »Freud und das Kind«, ferner einen Artikel über Freud und die

Gesellschaft der Ärzte, Reproduktionen von Freud-Bildnissen und Freud-

Karikaturen und eine Abbildung der 11-bändigen Freud-Gesamtausgabe. .

.In der »Arbeiter-Zeitung« (6. Mai) spricht Paul Szende die Befürch-

tung aus, daß einzelne Elemente in dem neuen Entwicklungsabschnitt der

Freudschen Theorie (besonders Das Unbehagen in der Kultur) der Reak-

tion es eines Tages ermöglichen werden, die Psychoanalyse ihren Zwecken

nutzbar zu machen. Es stecke auch hinter den Grundbegriffen Freuds das

»metaphysische Teufelchen«. Die Triebzweiteilung Freuds entspringe zwar

der Erfahrung, entwickle sich aber letzten Endes zu einem Werturteil, denn

Eros werde als gutes und Destruktion als schädliches Prinzip betrachtet. Das

Schlagwort über die Wertlosigkeit der Kulturentwicklung und über die Nutz-

losigkeit sozialer Reformen wird am häufigsten von der Kirche und von den

gegenrevolutionären Richtungen benützt. Es ist daher höchstwahrschein-

lich, daß sie sich einmal der psychoanalytischen Metaphysik bemächtigen

werden. Die Kirche bekämpfte bisher die Psychoanalyse, weil diese die herr-

schende Rolle der sexuellen Triebe als naturwissenschaftliche Tatsache gel-

ten ließ. Wird aber das Sexualleben nicht mehr als erfahrungsmäßige Naturer-

scheinung, sondern als ein Kampf zwischen .dunklen und mystischen Mäch-

ten, zwischen dem moralischen Ich und dem unmoralischen Es, zwischen

Eros und Destruktionstrieb angesehen, dann ist der Übergang zu der kirchli-

chen Lehre leichter zu bewerkstelligen. Die fleischlichen Gelüste sind

Einflüsterungen des Teufels, die göttliche Gnade befähigt aber die Men-

schen, sie »zu verdrängen oder zu vergeistigen, sublimieren. Moderne Beicht-

väter wenden seit langem uneingestanden psycho-analytische Methoden

an; sie haben entdeckt, daß diese ihnen über die Seele der von unerfüllten

sexuellen Regungen gepeinigten Frauen eine viel größere Macht verleihen

als ihre bisherigen Methoden.«

Ein Artikel von W. F. J. im Neuen Wiener Journal (6. Mai) geht vom

Motto der Traumdeutung aus. Das »Acheronta movebo« gilt auch für den

Widerhall, den Freud hervorgerufen hat. Der Widerstand gegen die Psycho-

analyse biete selbst ein typisches Beispiel der Äußerungen der seelischen

Unterwelt.

Alfred Winterstein in der »Neuen Freien Presse« (6. Mai): »Etwas

von der Luft um den Türmer Lynkeus aus Faust II lebt in der geistigen Atmo-

sphäre der beiden letzten Werke, der Blick bohrt sich nicht mehr so tief und

ausschließlich in die Schächte und Schichten der gestörten Einzelzelle, son-

dern schweift aus Turmeshöhe, betrachtend und verknüpfend, in die Ferne

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der Vergangenheit und der Zukunft. Freilich ist es kein Preis- und Freuden-

lied, das dieser Türmer anstimmt ...«

In einer besonderen Glosse beschäftigt sich die »Neue Freie Presse«

mit Freud als Wiener. »Sigmund Freud, der heute seinen fünfundsiebzigsten.

Geburtstag feiert, ist ein Wahlwiener. So wenig wienerische Züge seiner

starken Persönlichkeit auch anhaften mögen. Kein Mann der Konzessionen

und Kompromisse. Keiner, der einem faulen Frieden zuliebe mit sich und

seinen Überzeugungen handeln ließe. Er hat es auch zeitlebens nicht über

sich gebracht, den .Gemütlichen’ zu spielen, der Neugier der großen Menge,

sei es um den kleinsten Schritt, entgegenzukommen. Und doch ist es diesem

Kenner der Höhen und der Tiefen der menschlichen Seele gewiß kein Ge-

heimnis geblieben, daß der Mensch im allgemeinen, der Wiener im besonde-

ren, von den Helden, denen er Verehrung entgegenbringen soll, auf alle Fälle

verlangt, daß sie sich ihm gelegentlich im Schlafrock und in Pantoffeln zeigen

mögen. Dafür freilich ist Sigmund Freud niemals zu haben gewesen. Es ist

gewiß mehr als ein bloßer Zufall, daß nie und nimmer von ihm eine billige

Anekdote erzählt oder irgend ein harmloses Scherzwort zitiert wurde. Er selbst

hat gelegentlich sein Verhältnis zu Wien und den Wienern mit der ihm eige-

nen Unbefangenheit, die sich über alle Konsequenzen hinwegsetzt, gekenn-

zeichnet und bei dieser Gelegenheit den Wallenstein zitiert. Er hat sich eben-

falls nicht wenig darauf zugute getan, daß er die Wiener um manchen Spekta-

kel betrogen hat. Darum mischte und mischt sich in die Bewunderung, die

man diesem Propheten im Vaterland entgegenbrachte, zu allen Zeiten eine

leise Scheu.«

»Der Tag« (6. Mai) veröffentlicht einen Aufsatz von Dr. J., der beson-

ders Freuds Bedeutung in der Medizin erörtert, und druckt ein Bruchstück

aus dem in dieser Zeitschrift erschienenen Essay von Fritz Wittels über »Goe-

the und Freud« ab. In einer Glosse am 8. Mai schreibt ferner dieselbe Zei-

tung: »Nur eine Gratulation hat man wieder vermißt: die des offiziellen Öster-

reich. Das Unterrichtsministerium, seit Jahr und Tag einer reaktionären Partei

als Domäne ihrer unbeschränkten Machtentfaltung zugewiesen, hat noch

immer nicht eingesehen, daß es den Ruf unseres Landes schädigt, indem es

sich blind und taub stellt, wo es seine Aufgabe wäre, das Ansehen der Repu-

blik würdig zu wahren. Die Bedeutung des Forschers und Arztes Sigmund

Freud könnte natürlich weder durch einen Orden noch durch ein Handschrei-

ben erhöht werden, aber es bleibt eine Schande für die zuständige Stelle und

für das ganze Land, daß ein großer Österreicher in der ganzen Welt aner-

kannt, verehrt und gepriesen wird, nur nicht in Österreich. Die Cliquen, die,

aus lauter Mittelmäßigkeiten, aus Gschaftlhubern und Adabeis zusammen-

gesetzt, sich Tag für Tag wichtig machen, können es nicht ertragen, daß ein

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Mann, der nur deshalb Großes schaffen konnte, weil er nicht einer der Ihren

ist, weltberühmt wurde ... Der Name Sigmund Freud wird genannt werden,

wenn die paar Dutzendpolitiker, die jetzt mit großem Aplomb lächerliche Jubi-

läen feiern, längst vergessen sind, ja, man wird die Bücher des außerordent-

lichen Professors Sigmund Freud hoch in Ehren halten, wenn von manchem

ordentlichen Professor nicht mehr die Rede ist. Sigmund Freud, der Vater der

Psychoanalyse, kann sich leicht über die Takt- und Geschmacklosigkeit der

österreichischen Behörden hinwegtrösten. Er ist wahrhaftig nicht darauf

angewiesen, von irgend einem Funktionär angestrudelt zu werden, aber die

Republik ist darauf angewiesen, die großen Österreicher für sich zu reklamie-

ren. Diese patriotische Pflicht ist im Fall Freud gröblich vernachlässigt wor-

den.« »Die Stunde« (7. Mai) erörtert den Wert des Phänomens Freud für

Österreich: »Das bloße Vorhandensein eines so einmaligen Menschen wie

Freud wirkt beinahe wie ein Gesundheitsattest eines Landes, das ihn mit

Ehrerbietung seinen Sohn nennen darf. Eine geistige Landschaft, die einen

Freud hervorgebracht hat, kann nicht dem Untergang geweiht sein. In dem

tollen Ziffernkankan, der ununterbrochen an uns vorüberwirbelt, fehlen meist

die entscheidenden Aktivposten, die Persönlichkeiten, deren Art nur in ei-

nem bestimmten Kulturklima reifen kann. Man wende gegen diese Feststel-

lung nicht die Gleichgültigkeit ein, mit der die offizielle Gelehrtenwelt Freud

begegnet. Der geniale Mensch, der neue Durchbrüche durch das Gewesene

bohren will, ist überall von den Türhütern der Tradition befehdet worden,

nicht nur in Wien. Börne sagte einmal sehr treffend, daß sich jedes Volk nur

durch Undank gegen den übergroßen Einfluß seiner Gehirnriesen wehren

kann. Freuds Schönstes und Bitterstes ist die Unerbittlichkeit seines Den-

kens, das auch im Greisenalter nichts von seinem ursprünglichen spezifi-

schen Gewicht verlor ... Entblößten Hauptes stehen wir vor einem Großen

unseres Landes, vor einem Genie, für das das Goethesche Wort gilt: nach

außen grenzenlos, nach innen begrenzt. Neue Hoffnungen empfinden wir

auch für unsere Heimat, die nicht zukunftslos sein kann, solange sie unsterb-

liche menschliche Werte hervorbringt. Gegen zu wenig Kohle haben wir ei-

nen wichtigen Trumpf: Professor Freud ...«

»Neues Wiener Tagblatt« (6. Mai): »Wie sehr die Psychoanalyse ge-

lehrt hat, den Menschen neu zu sehen, wird am deutlichsten in der schönen

Literatur: Thomas Mann, Schnitzler, Hofmannsthal, Leonhard Frank, Alfred

Döblin, Arnold und Stefan Zweig, Werfel und zahlreiche andre haben ihre

Kunst der Psychologie wesentlich bei Freud geschult ... Wunderbar hero-

isch mutet seine Lebensgeschichte an, sein Mut, Illusionen auf den Grund

zu gehen, Erkenntnisse zu verkünden, auch wenn sie den Menschen unan-

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genehm sind, und sich tausendfach Feindschaft zuzuziehen und alle Einsam-

keit auf sich zu nehmen«.

Die in Wien erscheinende anarchistische Wochenschrift »Erkenntnis

und Befreiung« (Organ des herrschaftslosen Sozialismus) reklamiert Freud

für sich: »Obschon Freud sich dem Problem der Erringung voller Freiheit nur

andeutungsweise nähere dafür aber sei ihm zu seinem 75. Geburtstag auch

von uns Anarchisten gedankt und er entsprechend geehrt: er hat, indem er

das durch Autorität, Gewalt und Knechtschaft bisher gezeitigte Leid und

Unglück analysierte, indirekt der Lebenslehre des Anarchismus wertvolle

Beiträge und Begründungen zu dessen Verneinung aller Machtinstitutionen

geliefert. Dafür danken wir dem Anarchisten Freud ...«

Die österreichische Presse außerhalb Wiens hat auch diesmal von

dieser »Wiener Angelegenheit« kaum Notiz genommen. Einzig das sozialde-

mokratische »Linzer Tagblatt« hat sich in zwei Artikeln (8. und 17. Mai) ein-

gehend mit Freud und seiner Lehre beschäftigt.

Auf Einladung der »Ravag« hielt im Wiener Rundfunk Dr. Paul Federn einen

Vortrag über die Bedeutung Freuds. Der Vortrag ist im Juliheft der »Zeit-

schrift für psychoanalytische Pädagogik« abgedruckt worden.

In Leipzig hielt die dortige Psychoanalytikerin Dr. Therese Benedek

für den Mitteldeutschen Rundfunk eine Ansprache am 6. Mai. Anschließend

an ihren Vortrag wurden einige Absätze aus dem »Unbehagen in der Kultur«

vorgelesen.

In Berlin sprach Prof. J. H. Schu1tz im Rundfunk über Freud.

In Berlin hat vor allem die »Vossische Zeitung« in würdiger Form des

75. Geburtstages Freuds gedacht. Unter der Überschrift »Ritter zwischen

Tod und Teufel« veröffentlichte sie einen Brief von Thomas Mann an die

»Vossische Zeitung«. »Die aufrichtigste Bewunderung für den großen For-

scher im Menschlichen und sein Wahrheitsrittertum«, schreibt der Dichter

unter anderem, »gehört längst zu meinem inneren Bestande ... Er hat Illusio-

nen zerstört, die Menschheit mit Erkenntnissen skandalisiert, deren radikaler

Naturalismus ihre ›Würde‹ zu bedrohen schien, und Widerstände hervorge-

rufen, deren Gründe ihm offen lagen ... Freuds Werk, dies persönlichkeits-

geborene und weltverändernde Werk eines tiefen Vorstoßes ins Menschli-

che von der Seite der Krankheit her, ist heute schon eingegangen ins Leben

und in unser aller Bewußtsein.« (Der Beitrag von Thomas Mann wird zur

Gänze abgedruckt im »Almanach der Psychoanalyse 1932«, der im Herbst

erscheinen wird.)

Die »Vossische Zeitung« veröffentlichte ferner ein Essay von Karl

Scheffler über den »Analytiker der Kunst« (besonders über »Freuds Studien

an Werken der Dichtung und der Kunst«) und einen längeren Aufsatz von

Uchtspringer Schriften

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49

Siegfried Bernfeld über »Psychoanalyse und Erziehung«. (»Es spricht nicht

gegen die Psychoanalyse, wenn das Urteil der Pädagogen über sie so wider-

spruchsvoll ist. Daran trägt Schuld die Pädagogik selbst, die auf einer wert-

freien Wissenschaft Psychologie nur gelegentlich und nur zum Teil aufbau-

en kann. Die Psychoanalyse darf auf ihren wissenschaftlichen Grund-

charakter nicht verzichten und muß sich daher mit geringerer Anwendbarkeit

in der Pädagogik bescheiden, welche immer eng verwoben bleibt mit Wertun-

gen und Zielen, eingeengt in einen gesellschaftlichen Rahmen, den sie von

sich kaum kritisieren, gewiß nicht ändern kann ... Wenn die gesellschaftli-

chen Umstände so kompliziert und widrig wurden, daß die Menschen nicht

mehr so leicht in sie eingefügt werden können, wie einst die Südseeinsulaner

in ihre Gesellschaft, wenn Schule, Haus, Erziehung, Unterricht nicht mehr

ausreichen dann ergänzt sich der Beeinflussungsapparat der Gesellschaft

die Erziehung durch ein neues Instrument, die Psychoanalyse, die nur ihrem

Ursprung nach ein Zweig der Medizin, ihrem Wesen und ihrer Funktion nach

aber ein Teil der heutigen Erziehung ist.«)

»Berliner Tageblatt« (6. Mai): »In der Tat ist Freud hinausgewachsen

aus seinem Spezialgebiet, der Medizin.«

»Berliner Börsen-Courier« (5. Mai): »Für die seelenkundliche Wis-

senschaft ist das Bleibende an den Errungenschaften Freuds nichts Fremdes

und Isoliertes mehr.«

»Berliner Börsen-Zeitung« (5. Mai): »Freuds Lehre ist auch heute

noch eine These, die morgen durch eine Antithese widerlegt werden kann.

Immerhin ist der Mut, mit dem Freud das Paradoxe ausgesprochen hat, die

Sorgfalt, mit der er sein vielfältiges Netz von Zusammenhängen schuf, die

Tatkraft, mit der er aus dem Nichts eine Armee neuer Gedanken vom Leben

der menschlichen Seele stampfte, hoch anzuerkennen. Über den letzten Wert

seiner Schöpfung, über das endgültige Schicksal seiner Lehre wird die Zu-

kunft richten. Oder es wird vielleicht niemals gelingen, die von Freud so

ersehnte Aufklärung zu erlangen, und von dem Ursinn der Ödipusgeschichte

wird nur das Antlitz der Sphinx übrig bleiben: das Geheimnis.« (Hanns Herr-

land.) »Berlin am Morgen« (5. Mai): »Die Psychoanalyse hat sich durchge-

setzt. Aber die Psychoanalyse ist nur eine halbe Wahrheit. Ihre Trieblehre ist

die Nutzanwendung des Materialismus in der Psychologie. Aber da der

Mensch nicht im luftleeren Raum lebt, sondern auf einer bestimmten Stufe

der gesellschaftlichen Entwicklung, so ist jede Erklärung falsch, die nicht

auch diese Abhängigkeit des Menschen von der Gesellschaft berücksich-

tigt. Die materialistische Psychologie ist nichts ohne materialistische Sozio-

logie. Und hier versagt Freud vollkommen. Seine letzten Bücher, in denen er

Uchtspringer Schriften

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50

über die Kulturprobleme der Gegenwart spricht, zeigen seine Befangenheit in

den gesellschaftlichen Vorurteilen der herrschenden Klasse ... Dabei gibt es

für die Psychoanalyse so paradox dies auch klingen, mag keine andere Zu-

kunft als den Sozialismus. Denn in der bürgerlichen Gesellschaft können die

Bedingungen der Erziehung gar nicht erfüllt werden, die notwendig wären,

um das Entstehen von neurotischen Erkrankungen zu verhindern.«

»Deutsche Allgemeine Zeitung« (6. Mai): »Er ist schon beinahe eine

historische Figur. Unter den hervorragenden Ärzten seiner Epoche wahr-

scheinlich der einzige, den Ewigkeitsluft umwittert ... Unbeirrt bleiben die

tiefen Blicke und die finster-wehmütigen Weisheiten des seit langem leiden-

den alten Mannes, der den Anlaß zu all dem gegeben hat. Freud war ein

Mann der Notwendigkeit, der schuf, was er mußte und wozu es Zeit war. Es

umweht ihn theokratische Luft, im Mittelalter wäre er Reformator oder Groß-

inquisitor geworden. Heutzutage muß er Theokrat ohne Gott werden.« (Dr.

Richard Wolf.)

»Der Reichsbote« (13. Mai): »Freud, der alle seelischen Untergründe

aus dem Erbgeschlechtlichen, Triebneigung, Drang nach Lustgewinn und

verdrängten Gefühlskomplexen herausdeutet, ist nicht die Persönlichkeit,

deren Wirken man in christlichen Kreisen mit ehrlicher Freude würdigen kann.«

»Vorwärts« (6. Mai): »In diesem Semester, spät genug, finden an der

Berliner Universität zum ersten Male Vorlesungen über Psychoanalyse statt.

Aber auch die sozialistischen Bildungsstätten sollten nicht länger zurück-

stehen. Ihnen erwächst hier eine lohnende Aufgabe. In Kursen und Vor-

tragsreihen muß die Arbeiterschaft mit dieser lebensnahen Wissenschaft

vertraut gemacht werden, die sich als wirksame Waffe im Lebenskampf und

in der politischen Arena erweisen kann.« (Dr. Willy Blumenthal.)

In der Weltbühne schreibt Kurt Tucholsky anläßlich des 75. Geburts-

tages Freuds über die elfbändige Gesamtausgabe seiner Schriften: »Elf Bän-

de, die die Welt erschütterten«. (Wir drucken den kleinen Aufsatz von Tu-

cholsky im »Almanach der Psychoanalyse 1932«, der im Herbst erscheint,

ab.) In den »Monistischen Monatsheften« feiert Ulrich Vollrath Freud als

einen Freidenker im wahrsten Sinne des Wortes. »Freud gehört der Welt an,

aber er ist im Verstande und im Herzen einer der Unseren, und er hat sich

nicht, wie andere in der Vorsicht des Alters, gescheut, offen für seine freiden-

kerische Überzeugung einzutreten.«

In der sozialistischen Zeitschrift »Kulturwille« (Leipzig), schreibt Ri-

chard Lehmann: »Freuds Forderung, die »Erziehung zur Realität – ohne das

bittersüße Gift der Religion, ist auch die unsere; und der Altmeister, der immer

auf der Seite jener zu finden war, die für Verständigung und Befriedung der

Uchtspringer Schriften

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51

Welt eintreten, und der es für durchaus in der Ordnung findet, daß bisher alle

Kulturen an ihrem Herrschaftsgefüge (wenige Nutznießer, unzählige Ausge-

beutete) zugrunde gehen; dieser Freud ist einer der unseren. Auch in den

Reihen der sozialistischen Theoretiker wächst die Einsichtnahme und Ver-

wertung der Ergebnisse psychoanalytischer Forschung, trotz gelegentlicher

Widerstände, die sich noch hie und da, zum Beispiel beim alten Kautsky,

finden. Die Psychologie und Erziehungswissenschaft der Zukunft wird ihre

wesentlichen Grundlagen bei Freud finden.«

Die Frankfurter Wochenschrift »Die Umschau« veröffentlichte am

2. Mai auf ihrem Umschlag eine Reproduktion der Schmutzerschen Freud-

Radierung und einen Leitaufsatz von Heinrich Meng. Er schließt mit den

Worten: »Wenn das Werk eines Menschen so stark die Aufmerksamkeit der

Wissenschaft und des Volkes auf sich zieht, wie das Werk Freuds, so ist das

nur möglich, wenn hier ein Anstoß gegeben ist, Verhältnisse von grundle-

gender Bedeutung zu klären. Freud war zuerst interessiert daran, das krank-

hafte Seelenleben zu erforschen, entdeckt aber mit naturwissenschaftlichen

Methoden und intuitiver Einfühlung eine neue Psychologie des kranken und

gesunden Menschen. Er überschreitet die Grenzen, die ihm als Arzt gesetzt

schienen, er schließt von den seelischen Leistungen menschlicher Gemein-

schaften auf die der Völker. Er taucht tief in das Meer des Unbewußten, in

dem alle Menschen mütterlich verwurzelt sind. Er zeigt die Erdgebundenheit

aller Sehnsucht nach Vervollkommnung, Schönheit und Licht und gleichzei-

tig die Quelle schöpferischer Kraft im Halbdunkel, Dunkel und in der Nacht,

in Wildheit und Tierheit.«

Der Dortmunder »Generalanzeiger« bringt am 3. Mai eine Reihe von

Beiträgen über Freud, die mit folgender Gesamtüberschrift versehen sind:

»Zum Geburtstage eines Mannes, dessen Lehren unseren Lebensstil beein-

flußt und gewandelt haben, wie die Arbeiten keines anderen Menschen der

Gegenwart«. Unter anderem veröffentlicht der »Generalanzeiger« eine »Nach-

denkliche Gratulation« von Theodor Reik. (»Es entspricht sicherlich mehr

der Tradition, einem Geburtstagkinde zu versichern, daß man ihm Zufrieden-

heit, Glück und Erfolg wünscht. Wir aber, die wir nicht mehr an die Allmacht

der Gedanken glauben, ziehen es vor, heute zu sagen, daß das Leben Freuds,

welches die Mitte des achten Jahrzehnts erreicht hat, ein Segen war, sein

Wirken für so viele Bewältigung und Beschwichtigung von Leid, für andere

das Glück ungeahnter Klarheit bedeutete. In diesem Sinne wollen wir, statt

die üblichen Glückwünsche herzuleiern, mit analytischer Aufrichtigkeit sa-

gen: wir gratulieren uns herzlich zu Freuds 75. Geburtstag.«)

Unter der Überschrift »Freud in allen Gassen« erteilt das Dortmunder

Blatt ferner einem Kriminalisten, einem Graphologen, einem Filmregisseur

Uchtspringer Schriften

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52

und einem Astrologen das Wort. Prof. Dr. Müller-Hess, Direktor des Instituts

für gerichtliche Medizin in Berlin führt aus, man könne nicht verkennen, daß

trotz der Kritik, die an Freuds Werk geübt wird, seine Gedankengänge, Be-

griffe und Deutungen im Gerichtssaal bereits Eingang gefunden haben. Ro-

bert Saudek (London) betont die Fruchtbarkeit der Psychoanalyse für die

Graphologie.

Walter Ruttmann schreibt u. a.: »Man darf ohne Übertreibung sagen:

Freud ist der Vater der filmischen Überblendung, durch Freud wird die Über-

blendung erst gerechtfertigt. Das Eindringen seiner psychologischen

Erlebnislehre in den Film beweist weniger die Produktion bewußt ›nach Freud‹

gedrehter surrealistischer Streifen (wie z. B. des französischen chien andalou,

in dem sich eine menschliche Achselhöhle in einen Haufen wimmelnder Amei-

sen verwandelt), sondern nebensächliche stilistische Kleinigkeiten, die völ-

lig organisch wirken und in nahezu jedem, auch dem künstlerisch wertlose-

sten Film zu finden sind. Ohne sie würde ein moderner Film simpel, würdelos,

geistleer wirken.. In der ,Melodie der Welt’ ist fast jede Reportage mit der

nächsten durch irgend eine optische oder akustische Assoziations-Über-

blendung verbunden .. . Ich sprach mit dem in Paris lebenden irischen Schrift-

steller James Joyce, dessen merkwürdiges und erschütterndes Buch . Ulysses’

großes Aufsehen erregt hat. Es schildert den Alltag eines einfachen Bürgers,

aber mit allen subtilen Regungen des Unterbewußtseins ein Buch, das ohne

Berührung mit Freuds Gedankenwelt niemals konzipiert worden wäre. Wir

unterhielten uns über die filmische Realisation eines solchen Stiles, die mir

sehr am Herzen liegt. Denn ich glaube, daß der Tonfilm nur Daseinsberech-

tigung hat, wenn das Bild die äußere Erscheinung, der Ton aber das .Unter-

bewußte’ ausdrückt; nur dann kann plastische Wirkung entstehen, wenn

Ton und Bild nicht das gleiche Motiv darstellen, sondern einen Vorgang

kontrapunktlich von zwei Seiten her anpacken, der physischen und der psy-

chischen. Diese Möglichkeit hat der Film Freud zu verdanken; es wäre unver-

antwortlich, wollte man sie ungenutzt lassen.«

Der Nervenarzt und Astrologe Dr. Heimsoth meint, »daß Psychoanalyse und

Astrologie sich ergänzen können, ohne daß jemals die Psychoanalyse oder

die Astrologie sich gegenseitig ausschalten, ersetzen oder gar überflüssig

machen werden.«

Von den Beiträgen des Dortmunder »Generalanzeiger« sei noch einer

erwähnt. Die Schriftleitung hat, wie sie mitteilt, Prof. Freud um einen persön-

lichen Beitrag gebeten. Sie erhielt darauf eine handschriftliche Karte Freuds

folgenden Inhaltes:

Uchtspringer Schriften

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53

Geehrte Schriftleitung,

Ich bin kein Dichter und bin nicht versucht, die Öffentlichkeit für meine

Privata zu interessieren.

Hochachtend Freud

Die Zeitung gibt nun diese Karte im Faksimile wieder und veröffentlicht dazu

ein ausführliches graphologisches Gutachten über die Handschrift. Für das

Gutachten zeichnet Dr. Herbert Frenzel, doch die Schriftleitung fügt hinzu,

daß sich hinter dem Pseudonym ein Philosoph verbirgt, der Wert darauf legt,

daß von seinen charakterologischen Arbeiten in Verbindung mit seinem ei-

gentlichen Namen vorerst nicht gesprochen werde. Aus dieser Schriftanalyse

zitieren wir einige Stellen: »Eine Verbindung von Geradheit und Kultiviertheit,

die man nicht oft antrifft. Vornehmheit der Gesinnung spricht aus den im

einzelnen klaren Typen aller Buchstaben und aus den herben Anfangs-

schwüngen der Groß- und Langbuchstaben, deren Hochgerecktheit zudem

nicht wenig Stolz verrät ... Innere Reserve ... Besondere Nähe zur Trieb-

sphäre ... Eine seelisch-geistige Feinspürigkeit, wie sie nur aus der fast ab-

standslosen Nähe zum Gegenstand oder einem sich immer wieder wiederho-

lenden Hineintauchen in wirre, unbekannte, dunkle Tiefen sich ergibt ... Über-

all geht Freud auf das Einzelne, auch seine Gedankengänge beruhen auf

psychologischer Einzelkombination ... Kritisch aggressive Tendenzen. Die

ersteren wirken sich aus in der Form einer schonungslosen Selbstanalyse

und sind Zeugnis einer disharmonischen, überall wund sich fühlenden, un-

ausgeglichenen Natur. Seine Analysen sind also keine interessanten Liebha-

bereien, sondern entspringen einer inneren Tapferkeit, die gerade angesichts

der zugrundeliegenden fast animalischen Weichheit bemerkenswert ist ...

Empfindlichkeit und Schärfe in persönlichen Dingen.«

Diese Analyse der Freudschen Persönlichkeit und die obengenannte

»Nachdenkliche Gratulation« von Reik sind auch in der Königsberger

»Hartungschen Zeitung« (6. Mai) abgedruckt.

Im »Westfälischen Volksblatt«, Paderborn, im »Münsterischen An-

zeiger« und in anderen katholischen Tageszeitungen versucht Dr. C. A. Roos,

Halle a. S., die Psychoanalyse in eine Heilmethode und eine Weltanschau-

ung zu zerlegen. Letztere wird abgelehnt, »da die weltanschaulichen Grund-

lehren der Psychoanalyse sachlich in der längst widerlegten Lehre Schopen-

hauers vom allmächtigen aber blinden Weltwillen wurzeln.«

»Weser-Zeitung« (Bremen): »Tatsächlich ist die heutige Kunst, Lite-

ratur, Publizistik, Völkerbund, Pädagogik und unsere Sexualmoral ganz ohne

Uchtspringer Schriften

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Psychoanalyse kaum zu denken und auch die katholische Kirche beginnt

durch einzelne geschulte Geistliche die Methoden der Psychoanalyse in ihr

Gebäude einzufügen.« (Dr. Viktor Fendrich.)

In den »Dresdener Neuesten Nachrichten« (5. Mai) und im »Darmstädter

Tagblatt« (5. Mai) würdigt Dr. Georg Kaufmann den »Begründer der Psycho-

analyse«.

Ein Aufsatz von Prof. Dr. C. Fries (Berlin) im »Aachener Anzeiger« (6.

Mai) schließt: »Er hat unendlichen Segen gestiftet und zahllose Seelenleiden

geheilt.«

In der »Leipziger Volkszeitung« (6. Mai) und in der »Breslauer Volks-

wacht« (8. Mai) schreibt Richard Lehmann mit Hinweis auf Freuds zwei jüng-

ste kulturpsychologische Schriften: »Wer bis dahin noch versuchen konnte,

die Methoden und Befunde psychoanalytischer Forschungsarbeit im Dienst

kleinbürgerlicher Ideologien zu verniedlichen und so zur Aufrechterhaltung

des Burgfriedens zwischen den Klassen zu mißbrauchen, dem hatte hier der

Altmeister selbst die Waffen aus der Hand geschlagen ... Statt im Alter ver-

söhnlicher, kompromißlicher zu werden, wird Freud womöglich noch schär-

fer, klarer, härter.«

Als ein Mitstreiter Nietzsches wird Freud im »Hamburger Fremden-

blatt« von Georg Meyer charakterisiert: »Das Lebenswerk Sigmund Freuds,

des wohl genialsten Psychologen, dessen unsere Zeit sich rühmen kann,

strahlt wenig wärmende Sonne aus. Und man erinnert sich bei einer sichten-

den, ordnenden Überschau jenes merkwürdigen Hegel-Wortes: von der Eule

der Minerva, die erst in der Dämmerung ihren Flug beginnt eine Gestalt des

Lebens, so heißt es da, ist abgestorben, und mit Philosophie kann man sie

nicht verjüngen, sondern nur erkennen. Das heißt, auf Freuds Leistung be-

zogen: man mißversteht ihn gründlich, wenn man aus ihm einen Propheten

macht. Sein Werk spiegelt die sich zersetzende abklingende Epoche in einer

Schärfe und Oberbelichtung, wie das Werk kaum eines zweiten Mannes,

wenigstens aus dem engeren Kreise der Gelehrten. Denn und das ist das

Großartige an Freud : er verschmäht es, sich den Träumen hinzugeben und

aus einer Stimmung heraus etwas auszusprechen, was seinem unbestechlich

kritischen Verstand gegenüber sich nicht als gesicherte, unerschütterliche

Tatsache auszuweisen vermag. Dieser auch sich selbst gegenüber unheim-

lich mißtrauische Seelendetektiv liegt jeden Moment auf der Lauer, um Hoff-

nungen und Sehnsüchte, die sich den Mantel der Echtheit oder Wissen-

schaftlichkeit umgehängt haben, ohne Erbarmen als trügerischen Schein zu

entlarven darin Nietzsche zu vergleichen, dessen (scheinbaren) Nihilismus

er weitertreibt und mit den Mitteln exakter Methoden radikal zu Ende führt.«

Uchtspringer Schriften

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Das »Prager Tagblatt« druckte am 6. Mai einen Teil des Essays ab,

den Alfred Döblin anläßlich des 70. Geburtstages Freuds geschrieben hatte

(siehe »Almanach der Psychoanalyse 1927«).

In Olmütz (Mähren) veranstaltete die »Gesellschaft für zeitgenössi-

sche Kultur« eine Freud-Feier im Deutschen Kasino. Die Festrede hielt Ober-

sanitätsrat Dr. A. Kofranyi. (Ausführliche Berichte darüber in der »Deut-

schen Zeitung«, Olmütz und im »Mährischen Tagblatt«).

Im mährischen Städtchen Freiberg wurde beschlossen, Freuds Ge-

burtshaus mit einer Gedenktafel zu versehen. Ein Bildhauer wurde mit der

Modellierung- einer Porträtplakette betraut.

Von Äußerungen in der jüdischen Presse seien erwähnt: »Jüdisch-

Liberale Zeitung«, Berlin, 13. Mai (»Das Judentum dürfe auf diesen Mann

stolz sein ... er habe aber viel Irrtümer und Übertreibungen im Gefolge ... habe

über Religion leicht widerlegliche Ansichten entwickelt«). »Der jüdische Ar-

beiter«, Wien, 18. Mai (»ein ihm geistesverwandter großer Jude der Gegen-

wart, Karl Kraus« ... mißverstehe leider Freud. Für die Fruchtbarkeit des

Freudschen Erklärungsprinzips ist das Werk Karl Kraus’ selbst ein großarti-

ger Beweis«).

»Ilustratiunea Evreasca«, Bukarest, 5. Juni (ein größerer Artikel von

Doz. Dr. Radovici).

Im »Tidevarvet« (Stockholm, 2. Mai) und in Göteborgs »Handels-

och Sjöfartstidning« (5. Mai) würdigt Alfhild Tamm Freuds Bedeutung in

größeren Aufsätzen.

Von den norwegischen Pressestimmen führen wir ein Feuilleton von

Sigurd Hoel in »Arbeiderbladet« (Oslo, 6. Mai) an.

Aus Holland liegt uns ein eingehender Aufsatz von H. G. Cannegieter

im »Haarlemsche Courant« (2. Mai) vor.

Aus der Schweiz führen wir an einen Geburtstagartikel von Philipp

Sarasin in den »Basler Nachrichten« (5. Mai) und zwei Artikel von Hans

Zulliger in den Berner Zeitungen »Bund« und »Tagwacht« (beide am 6. Mai).

In »L’Europe Nouvelle« (16. Mai) erörtert Marie Bonaparte die Be-

deutung Freuds und seines Werkes für die Menschheit.

In New York fand anläßlich des 75. Geburtstages Freuds ein Bankett

im Ritz-Carlton-Hotel statt, über das wir nach New Yorker Zeitungen berich-

ten. Zweihundert Personen nahmen am Dinner unter dem Vorsitze von Dr. W.

A. White, Direktor der Staatsirrenanstalt in Washington und Professor an

der Georgetown-Universität, teil. White verglich Freud in seiner Festrede mit

Kopernikus, Newton und Pasteur. Es sei ein Glück, daß wir nicht im Mittelal-

ter leben. Sonst hätte man Freud verbrannt. So mußte man gegen ihn mit

anderen Mitteln kämpfen, die ihn nicht verhindern können, seine Entdeckun-

Uchtspringer Schriften

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56

gen zu Ende zu führen. Dr. Alvin Johnson, der Leiter der »New School for

Social Research«, hebt hervor, daß die Menschheit es Freud verdankt, daß

sie sich erkennen und verstehen und danach richten kann. Clarence Darrow

schildert in seiner Ansprache Freuds Bedeutung für die Strafjustiz, Rechts-

anwalt Jerome Frank die für das Rechtsleben im Allgemeinen. Dr. A. A. Brill

spricht über Freuds Bedeutung für die Psychiatrie (wobei er Freud mit Spino-

za vergleicht). Mrs. Jessica Cosgrave, die Leiterin der Finch and Lennox

Schulen, über die für die Erziehung. Weitere Ansprachen hielten Dr. B. Glück,

Dr. Smith Ely Jelliffe, Dr. Fritz Wittels, Prof. Miles, Dr. Frankwood Williams

und Prof. Jastrow. Der Dichter Theodor Dreiser, der verhindert war, an der

Feier teilzunehmen, sandte ein Zuschrift, die von Brill vorgelesen wurde. (In

deutscher Übersetzung wird dieser Brief Dreisers im »Almanach der Psycho-

analyse 1932« abgedruckt werden.)

Die auf dem New Yorker Bankett gehaltenen Reden von W. A. White,

A. A. Brill, Jerome Frank und die Zuschrift von Dreiser sind im Juliheft der

von White und Jelliffe herausgegebenen »Psychoanalytic Review« (Wa-

shington) veröffentlicht.

Die »Deutsche Medizinische Gesellschaft der Stadt New York« hielt

am 4. Mai anläßlich des Geburtstages Freuds eine Sitzung ab, in der Dr.

Dorian Feigenbaum unter dem Titel »Die Psychoanalyse und der praktische

Arzt« einen mit viel Interesse und Beifall aufgenommenen Vortrag hielt.

Aus: Die Psychoanalytische Bewegung 3(1931), S. 368-381.

Uchtspringer Schriften

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Stefan Zweig

Bildnis Sigmund Freuds

»Aufrichtigkeit ist die Quelle aller Genialität«.

Boerne

Die strenge Tür eines Wiener Miethauses verschließt seit einem halben Jahr-

hundert Sigmund Freuds Privatleben: beinahe wäre man versucht zu sagen,

er habe überhaupt keines gehabt, so bescheiden hintergründig verläuft sei-

ne Existenz. Eine beinahe vollkommene Unsichtbarkeit der öffentlichen Er-

scheinung, ein beinahe philiströs regelmäßiger Daseinsgang ohne scharfe

Veränderungen und ohne Verwandlungen (die steilen Kurven liegen innen

auf der geistigen Fläche), niemals eine Lebensäußerung, die Anlaß zum Auf-

horchen oder zu einer Anekdote gibt. Siebzig Jahre in der gleichen Stadt,

mehr als vierzig.

Jahre im gleichen Hause. Dort wieder die Ordination im selben Räume,

die Lektüre auf demselben Sessel, die literarische Arbeit vor demselben

Schreibtisch. Pater familias von sechs Kindern, persönlich völlig bedürfnis-

los, ohne andere Passionen als die des Berufs und der Berufung. Kein Gran

seiner gleichzeitig sparsamen und verschwenderisch ausgewerteten Zeit je-

mals vertan an ekle Repräsentation, an Ämter und Würden, niemals ein agi-

tatorisches Vortreten des schöpferischen Menschen vor das geschaffene

Werk: bei diesem Manne unterwirft sich der Lebensrhythmus völlig und

einzig dem pausenlosen, gleichmäßig und geduldig strömenden Rhythmus

der Arbeit. Jede Woche der tausend und abertausend seiner fünfundsiebzig

Jahre umschreibt den gleichen runden Kreis geschlossener Tätigkeit, jeder

Tag verläuft Zwillingshaft ähnlich dem ändern: in seiner akademischen Zeit

einmal in der Woche Vorlesung in der Universität, immer einmal am Mittwoch

abends nach sokratischer Methode ein geistiges Symposion in der Runde

der Schüler, einmal am Samstag nachmittag eine Kartenpartie – sonst immer

von morgens bis abends oder vielmehr bis spät in die Mitternacht, jede

Minute bis zur letzten Sekunde ausgenützt für den fugenlos ineinanderpas-

senden Ablauf von Analyse, Behandlung, Studium, Lektüre und gelehrter

Gestaltung. Dieser unerbittliche Arbeitskalender kennt kein leeres Blatt, der

weitgespannte Tag Freuds innerhalb eines halben Jahrhunderts keine ungei-

stig verbrachte Stunde. Ständiges Tätigsein ist diesem immer motorischen

Hirn so selbstverständlich, wie dem Herzen der blutumschaltende Schlag;

Arbeit erscheint bei ihm nicht als willensunterworfenes Tun, sondern durch-

aus als natürliche, als ständige und strömende Funktion. Eben aber diese

Pausenlosigkeit der Wachheit und Wachsamkeit ist zugleich das Erstaun-

Uchtspringer Schriften

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lichste seiner geistigen Erscheinung: hier wird Normalität zum Phänomen.

Seit vierzig Jahren nimmt Freud täglich acht, neun, zehn, manchmal sogar elf

Analysen vor, das will sagen: neun-, zehn-, elf mal konzentriert er je eine

ganze Stunde lang sich mit äußerster, mit einer beinahe bebenden Spannung

in einen Fremden hinein, behorcht und wägt jedes Wort, während gleichzei-

tig sein nie versagendes Gedächtnis die Aussage dieser Psychoanalyse mit

jener aller früheren Sitzungen vergleicht. Er lebt also ganz innen in dieser

fremden Persönlichkeit, während er sie gleichzeitig von außen seelen-

diagnostisch betrachtet. Und mit einem Ruck muß er sich sofort am Ende der

Stunde aus diesem einen in einen ändern Menschen, den nächsten Patien-

ten, umschalten und mit der gleichen Zusammengefaßtheit, und eine andere

Schicht des Gedächtnisses aufschließend, auf einen gänzlich andersartigen

Fall, achtmal, neunmal in einem Tag umstellen, hundert und aberhundert

Schicksale also ohne Notizen und Erinnerungshilfen in sich gesondert be-

wahrend und bis in die feinsten Verästelungen überschauend. Eine so stän-

dig sich umschaltende Arbeitskontinuität erfordert eine geistige Wachheit,

eine seelische Bereitschaft und Nervenspannung, der ein anderer nach zwei

oder drei Stunden nicht mehr gewachsen wäre. Aber die erstaunliche Vitalität

Freuds, diese seine Überkraft innerhalb der geistigen Kraft kennt kein Er-

schlaffen und Ermüden. Ist spät abends die analytische Tätigkeit, der Neun-

oder Zehnstundendienst am Menschen beendet, dann erst beginnt seine

eigene schöpferische Arbeit, die denkerische Ausgestaltung der Resultate,

jene Arbeit also, welche die Welt als seine einzige oder eigentliche vermeint.

Und all diese riesenhafte, diese pausenlose, an tausenden Menschen prak-

tisch wirkende und zu Millionen Menschen fortwirkende Leistung geschieht

ein halbes Jahrhundert lang ohne Helfer, ohne Sekretär, ohne Assistenten;

jeder Brief ist mit der eigenen Hand geschrieben, jede Untersuchung allein zu

Ende geführt, jedes Werk allein zur Form gestaltet. Nur diese grandiose Kon-

tinuität der schöpferischen Kraft verrät hinter der banalen Außenfläche sei-

nes Daseins die wahrhafte Dämonie. Erst aus der Sphäre des Geschaffenen

enthüllt sich dieses anscheinend normalen Lebens Einmaligkeit und

Unvergleichlichkeit.

Ein solches nie versagendes, innerhalb von Jahrzehnten nie ausset-

zendes und abweichendes Präzisionsinstrument der Arbeit ist nur denkbar

bei vollendetstem stofflichen Material. Wie bei Händel, bei Rubens und Bal-

zac, den gleichfalls strömend Schaffenden, stammt bei Freud das geistige

Übermaß aus einem vollkommenen Gleichgewicht des Körpers, aus einer

urgesunden Natur. Dieser große Arzt war bis zu seinem achtundsechzigsten

Jahre niemals ernstlich krank, dieser feinste Beobachter des Nervenspiels

niemals nervös, dieser hellsichtige Durchforscher aller Seelenabnormitäten,

Uchtspringer Schriften

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dieser vielverschrieene Sexualist in allen seinen persönlichen Lebens-

äußerungen ein Leben lang unheimlich einlinig und gesund. Auch sein

psycho-physischer Habitus stellt wie seine Lebensform äußerlich einen

Schulfall der Normalität dar, und nichts von den Krisen, Verstrickungen, Stau-

ungen und Hemmungen der Menschenseele, die er so meisterlich geschil-

dert und erklärt, hatte er je Gelegenheit an sich selber zu erlernen, denn von

eigener Erfahrung her kennt dieser Körper nicht einmal die gewöhnlichsten,

die alltäglichsten Störungen geistiger Arbeit, fast nie Kopfschmerzen und

Müdigkeit. Jahrzehntelang hat Freud nie einen ärztlichen Kollegen zu Rate

ziehen, nie eine einzige Stunde wegen Unpäßlichkeit absagen müssen – erst

im patriarchalischen Alter versucht eine tückische Krankheit diese geradezu

polykratische Gesundheit zu brechen. Aber vergebens. Sofort und völlig

unvermindert setzt, mit kaum vernarbter Wunde, die alte Tatkraft wieder ein,

Gesundsein ist für ihn identisch mit Atmen, Wachsein mit Arbeiten, Schaffen

mit Leben. Und genau so intensiv und dicht wie seine Spannung bei Tag, so

vollkommen ist bei diesem eisern gehämmerten Körper die Entspannung in

der Nacht. Ein kurzer, aber fest in sich geschlossener Schlaf erneuert von

Morgen zu Morgen diese großartig normale und gleichzeitig großartig über-

normale Spannkraft des Geistes. Freud schläft sehr tief, wenn er schläft, und

er ist unerhört wach in seinem Wachsein.

Diesem völligen Ausgewogensein der innern Kräfte widerspricht auch nicht

das äußerliche Wesenbild. Auch hier eine vollkommene Proportion in jedem

Zuge, ein durchaus harmonischer Habitus. Nicht zu groß, nicht zu klein die

Figur, nicht zu schwer, nicht zu locker der Körper: immer und überall zwischen

Extremen geradezu vorbildliche Mitte. Jahre und Jahre verzweifeln vor sei-

nem Antlitz alle Karikaturisten, denn nirgends finden sie in diesem völlig

ebenmäßig ausgeformten Oval rechten Ansatz für die zeichnerische Über-

treibung, eine scharf vorspringende und attakierbare Charakterlinie. Verge-

bens legt man sich die Bilder seiner jüngeren Jahre nebeneinander, ihnen

irgend einen prominenten Zug, etwas charakterologisch Wichtiges abzu-

spähen. Aber die Züge des Dreißigjährigen, Vierzig- und Fünfzigjährigen

sind so verschlossen wie sein äußeres Leben. Sie sagen nicht mehr als: ein

schöner Mann, ein männlicher Mann, ein Herr mit regelmäßigen, beinahe

allzuregelmäßigen Zügen. Wohl deutet das dunkle, gesammelte Auge den

geistigen Menschen an, aber nicht viel mehr. Ratlos blickt man in die Photo-

graphien hinein und findet immer eben nur eines jener von gepflegtem Bart

umrahmten Arztantlitze idealisch männlicher Art, wie sie Lenbach und Makart

zu malen liebten, dunkel, weich und ernst, aber im Letzten nicht aufschluß-

reich. Auch vor seinem Antlitz steht ablehnend jene verschlossene Tür und

schon meint man, von Photographie zu Photographie blätternd, jeden cha-

Uchtspringer Schriften

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60

rakterologischen Versuch vor diesem in seine eigene Harmonie eingeschlos-

senen Antlitz aufgeben zu müssen. Da beginnen plötzlich die letzten Bilder

zu sprechen. Erst das Alter, das sonst bei den meisten Menschen die indivi-

duellen Wesenszüge auflöst und zu grauem Lehm zerbröckelt, erst die patri-

archalische Zeit setzt bei Freud den bildnerischen Meißel an. Erst die Krank-

heit und Greisenjahre meißeln unwidersprechlich eine Physiognomie aus ei-

nem bloßen Gesicht. Seit das Haar ergraut, der Bart nicht mehr so voll das

harte Kinn und nicht mehr so tief den scharfen Mund verschattet, seit sein

knochig plastischer Unterbau seines Antlitzes zutage tritt, enthüllt sich et-

was Hartes, unbedingt Offensives; der unerbittlich und fast verbissen vor-

dringende Wille seiner Natur. Und tiefer her, dringlicher, schraubender bohrt

sich jetzt der früher bloß betrachtende Blick entgegen, eine bittere Mißtrauens-

falte schneidet wie eine Wunde scharf die freigelegte und gefurchte Stirn

hinab. Hart gespannt wie über einem »Nein« oder »Das ist nicht wahr« schlie-

ßen sich die schmalen Lippen. Zum erstenmal spürt man die Vehemenz und

die Strenge des freudischen Wesens in seinem Antlitz und spürt auch: nein,

dies ist kein good grey old man, sanft und umgänglich geworden im Alter,

sondern ein harter unerbittlicher Prüfer, der sich von nichts täuschen läßt

und über nichts täuschen lassen will. Ein Mensch, vor dem man Furcht hätte

zu lügen, weil er mit diesem argwohnumschatteten, gleichsam aus dem Dun-

kel treffenden Pfeilschützenblick jede ausweichende Wendung verfolgt und

jeden Schlupfwinkel im voraus sichtet, - ein bedrückendes Antlitz vielleicht

mehr als ein befreiendes, aber prachtvoll belebt von erkennerischer Intensi-

tät, Antlitz nicht eines bloßen Betrachters, sondern eines unbarmherzigen

Durchdringers. Und so wie an geistiger Weitgespanntheit die düstern, des-

illusionistischen aber welthaltigen Alterswerke den Einzelerkenntnissen sei-

ner Jugend überlegen sind, so spricht auch das Antlitz des Siebzigjährigen

charakterologisch den letzten Sinn seines Wesens, die freudische Unbe-

dingtheit, plastischer aus als alle der Frühzeit.

Aus: Almanach der Psychoanalyse 1931, S. 9-15.

Uchtspringer Schriften

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Theodore Dreiser

Bemerkungen am 6. Mai

Tischrede Th. Dreisers anläßlich des Festessens zu Ehren des 75. Geburts-

tages von Prof. Sigm. Freud. In Abwesenheit des verhinderten Autors

vorgelesen von Dr. A. A. Brill, New York, am 6. Mai 1931.

Ich habe Freud als Kopernikus der Psychologie begrüßen hören. Also als

eine Art von Gegenstück zu Darwin in der Welt revolutionärer Gedankenar-

beit. Mir erscheint er eher als ein Napoleon oder Hannibal des Geistes, der

mit der unerhört durchdringenden Schärfe und Strategie seines Verstandes

alles vor sich hergefegt hat.

Nie werde ich die erste Begegnung mit seinen »Drei Abhandlungen

zur Sexualtheorie«, seinem »Totem und Tabu«, seiner »Traumdeutung« ver-

gessen. Damals und auch heute noch wurde mir jeder Abschnitt zur Erleuch-

tung - ein helles, klärendes Licht in den dunkelsten Fragen, die mich und

mein Werk bedrängten und verstörten. Die Lektüre Freuds hat mir bei meinen

Studien über Leben und Menschen geholfen. Ich sagte damals, und wieder-

hole es heute, daß er mich an den Eroberer gemahnte, der eine Stadt erstürmt

hat, der die uralten, grauen Gefängnisse dieser Stadt edelmütig öffnete und

aus düsteren, verrosteten Kerkern die Gefangenen jener Formeln, Vorurteile

und Irrmeinungen freiließ, die den Menschen hunderte und tausende von

Jahren gequält und erschöpft haben. Ich denke heute noch so.

Das Licht, das er dem Menschengeist gebracht hat! Die mächtige

Hilfe gegen Trug und verblendetes Vorurteil! Ein ungeheures, ein herrliches

Ereignis!

Aber es befinden sich unter Ihnen so viele, die seine erstaunlichen

Beiträge zum menschlichen Geistesleben aus intimer Kenntnis und in glän-

zender Form zu würdigen vermögen mein Freund Dr. Brill zum Beispiel - daß

ich lieber verstumme und lausche. Aber ich betrachte es als ein ehrenvolles

Vorrecht, gleich vielen Andern hierher berufen zu sein, um auszusprechen,

was ich Freuds unschätzbarem Werk zu danken habe. Auch, ihm Gesundheit,

Kraft und eine glückliche Zukunft zu wünschen. Immense wisdom he has.

Aus: Almanach 1931, S. 11-12.

Uchtspringer Schriften

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Uchtspringer Schriften

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Thomas Mann

Ritter zwischen Tod und Teufel

Ein Brief von Thomas Mann an die Redaktion der »Vossischen Zeitung« am

6. Mai 1931

Sie haben recht, einen Gruß und Glückwunsch an Sigmund Freud zu seinem

fünfundsiebzigsten Geburtstag von mir zu verlangen. Die aufrichtigste Be-

wunderung für den großen Forscher im Menschlichen und sein Wahrheits-

rittertum gehört längst zu meinem inneren Bestände. Ja, er hat viel von Dürers

Ritter zwischen Tod und Teufel, auf den Nietzsche anzuspielen scheint, wenn

er von einem anderen Verwandten Freuds, von Schopenhauer, sagt: »Ein

Mann und Ritter mit erzenem Blick, der den Mut zu sich selber hat, der allein

zu stehen weiß und nicht erst auf Vordermänner und höhere Winke wartet.«

Er hat nie Rücksicht darauf genommen, daß der Mensch nur vernimmt, was

ihm schmeichelt, hat nicht mit dem Frommen von der Tugend Lohn gespro-

chen, mit Ixion von der Wolke, mit Königen vom Ansehen der Person und

von Freiheit und Gleichheit mit dem Volke. Er hat Illusionen zerstört, die

Menschheit mit Erkenntnissen skandalisiert, deren radikaler Naturalismus

ihre »Würde« zu bedrohen schien, und Widerstände hervorgerufen, deren

Gründe ihm offen lagen. Aber alle Kritik an seinem Werk – ich meine natürlich

jene Kritik, die nicht über die Analyse hinaus, sondern hinter sie zurückwill –

hat etwas unendlich Müßiges und Steriles, auch da noch, wo sie recht hat,

und es ist schwer zu verstehen, daß diejenigen, die sich spottend und schel-

tend damit abmühen, der Nutzlosigkeit ihres Tuns nicht inne werden.

Freuds Werk, dies persönlichkeitsgeborene und weltverändernde Werk

eines tiefen Vorstoßes ins Menschliche von der Seite der Krankheit her, ist

heute schon eingegangen ins Leben und in unser aller Bewußtsein, und ich

sagte gewiß nicht zuviel, als ich es, am Ende einer ausführlicheren essayisti-

schen Ehrerweisung, einen der wichtigsten Bausteine nannte, die beigetra-

gen worden sind zum Fundament der Zukunft der Wohnung einer freieren

und wissenderen Menschheit.

Ich bin froh, daß ich doch einmal, wenn auch zu spät, als daß noch

irgendwelches Verdienst damit hätte verbunden sein können, ein solches

Bekenntnis zu ihm abgelegt habe –, froh namentlich deshalb, weil es den

großen alten Mann gefreut hat. Seine Erkenntlichkeit dafür, daß ich ihn »in

den Zusammenhang des deutschen Geisteslebens eingereiht hätte«, ihn,

»der für diese Nation ein Fremdkörper zu sein vermeinte«, hat mich tief ergrif-

fen. Ich wäre sehr versucht, aus dem großartigen Briefe, den er mir damals

schrieb, mehreres Charakteristische und Aufschlußreiche mitzuteilen, darf es

aber nicht ohne seine Erlaubnis. Nur einen Satz noch daraus anzuführen, will

Uchtspringer Schriften

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ich mir die Freiheit nehmen, weil doch den Lesern ein unbekanntes Wort

Freuds willkommener sein muß, als jedes Wort über ihn: »Ich habe immer

Dichter bewundert und – beneidet, besonders, wenn sie wie das Ideal meiner

Jugend, Lessing, ihre Kunst dem Denken unterwarfen und sie in dessen

Dienst stellten.«

Aus: Almanach der Psychoanalyse 1932, S. 9-11

Uchtspringer Schriften

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Kurt Tucholsky

Elf Bände, die die Welt erschütterten

Die Gesamtausgabe der Freudschen Schriften ist da. Elf Bände, die die Welt

erschütterten.

Einer der wenigen Männer, die diesen Mann richtig sehn, scheint

Freud zu sein. Mit dem Lorbeergemüse seines Ruhmes kann er die faulen

Äpfel seiner Tadler garnieren, und wenn er weise ist, sieht er die Schar seiner

Schüler an und denkt sich sein Teil. Lassen wir die schlechten Schüler, halten

wir uns an die guten und halten wir uns an ihn.

Es ist das Schicksal der Wahrheiten, hat Schopenhauer gesagt, daß

sie erst paradox erscheinen und dann trivial. An Freud ist das genau zu

studieren. Die Gesamtausgabe seiner Schriften zeigt aber noch etwas ande-

res. Langsam beginnt sich das Fleisch von diesem Werk zu lösen, das

Zufällige, das Alltägliche - und es bleibt das Skelett. Wir können nicht sehen,

was davon noch im Jahre 1995 erhalten sein wird, und ob überhaupt noch

etwas erhalten sein wird, nämlich in der Form, die er ihm gegeben hat. Fort-

wirken wird es, das kann man sagen. Er hat eine Tür aufgemacht, die bis

dahin verschlossen war.

Es gibt Partien in diesen elf Bänden, besonders in den ersten, die

muten an wie ein spannender Kriminalroman. Wie da die Theorien langsam

keimen und aus den platzenden Hüllen kriechen, wie sie sich scheu ans Licht

wagen, ins Helle sehen und plötzlich sehr bestimmt und fest auftreten: nun

sind sie da und leben und wirken. Die Darstellungskunst Freuds ist fast

überall die gleiche: in den grundlegenden Schriften, in den kleinen Aufsät-

zen, so in dem wunderschönen Gedächtnisartikel für Charcot – überall ist ein

klarer, methodisch ordnender Geist am Werk? Das Modische an diesen Schrif-

ten wird vergehen; die kindische Freude der Amerikaner und sonstiger puri-

tanisch verbildeter Völker, nun einmal öffentlich über Sexualität sprechen zu

können ... das hat mit Freud nicht viel zu tun. Bleiben wird der große Erneue-

rer alter, verschütteter Wahrheiten – dieser Wahrheit: der Wille des Men-

schen ist nicht frei.

Das schön gedruckte und gut gebundene Werk ist im Internationalen

Psychoanalytischen Verlag zu Wien erschienen. Es finden sich darin auch

die jüngsten Schriften Freuds, auf die immer wieder hingewiesen werden

muß, als letzte die »Zukunft einer Illusion«. Es fehlt noch das »Unbehagen in

der Kultur«; ein zwölfter Band wird erscheinen. Die Grenzen Freuds werden

in seinem Gesamtwerk erkenntlich. Er ist nicht der liebe Gott, doch hat er uns

gelehrt, wie viel Krankheitsgeschichte in den gereizten Kritiken über ihn zu

Uchtspringer Schriften

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finden ist. Für halbgebildete Katholiken sei gesagt: es ist die Bibel der Gott-

losen. (Josef Wirth darf das falsch zitieren.) Man versteht die Welt nicht,

wenn man diese Bände nicht kennt. Sigmund Freud wird am sechsten Mai

fünfundsiebzig Jahre alt. Wir grüßen ihn voller Liebe und Respekt.

Aus: Almanach der Psychoanalyse 1932, S. 13-14.

Zuerst erschienen in: »Die Weltbühne«; Mai 1931 - anläßlich des 75. Ge-

burtstags Freuds.

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Der 80. Geburtstag

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Glückwunschadresse mit den Unterschriften von Virginia Woolf,

Jules Romain, Romain Rolland, Thomas Mann, Stefan Zweig und

H.G.. Wells

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Glückwunschadresse zum 80. Geburtstag Sigmund Freuds

Stefan Zweigs hatte folgendes Schreiben an namhafte Persönlichkeiten ge-

richtet:

»Das Comité für die Glückwunschadresse an Prof. Dr. Sigmund Freud zum 6.

Mai 1936 legt Schriftstellern und Künstlern den Text des Glückwunsches vor.

Es wird gebeten, im Fall der Zustimmung dem Comité eine Mitteilung zu

machen. Der Glückwunsch wird – im Namen aller, die unterzeichnet haben –

Prof. Freud zum 6. Mai 1936 vom Comité übersandt und auch zu diesem Tag

der Presse übergeben. Die Angelegenheit soll vertraulich behandelt werden,

damit Prof. Freud vor dem Geburtstag von der Ehrung nichts erfährt.«

Die Glückwunschadresse selbst wurde von Thomas Mann verfaßt und hat

folgenden Wortlaut:

»Der 80. Geburtstag Sigmund Freuds sei uns willkommener Anlaß, um dem

Initiator eines neuen und tieferen Wissens vorn Menschen unseren Glück-

wunsch und unsere Ehrfurcht auszusprechen. In jeder Sphäre seines Wir-

kens bedeutend, als Arzt und Psychologe, als Philosoph und Künstler, ist

dieser mutige Erkenner und Heiler ein Wegweiser für zwei Generationen ge-

wesen in bisher ungeahnte Welten der menschlichen Seele. Ein ganz auf sich

selbst gestellter Geist, ein »Mann und Ritter mit erzenem Blick«, wie Nietz-

sche von Schopenhauer sagt, ein Denker und Forscher, der allein zu stehen

wußte und dann freilich viele an sich und mit sich zog, ist er seinen Weg

gegangen und zu Wahrheiten vorgestoßen, die deshalb gefährlich erschie-

nen, weil sie ängstlich Verdecktes enthüllen und Dunkelheiten erleuchteten.

Allerorts legte er neue Probleme frei und änderte die alten Maße; er hat im

Suchen und Finden den Raum der geistigen Forschung vervielfacht und

auch seine Gegner sich verpflichtet durch den schöpferischen Denkantrieb,

den sie von ihm erfuhren. Mögen künftige Zeiten dieses oder jenes Ergebnis

seiner Forschung modeln und einschränken, nie mehr sind die Fragen, die

Sigmund Freud der Menschheit gestellt hat, zum Schweigen zu bringen, sei-

ne Erkenntnisse können nicht dauernd verneint oder getrübt werden. Die

Begriffe, die er gestaltet, die Worte, die er für sie wählt, sind schon als selbst-

verständlich eingegangen in die lebendige Sprache; auf allen bieten der Gei-

steswissenschaft, in Literatur- und Kunstforschung, Religionsgeschichte

und Prähistorie, Mythologie, Volkskunde und Pädagogik, nicht zuletzt in der

Dichtung selbst, ist die tiefe Spur seines Wirkens zu sehen, und wenn eine

Tat unseres Geschlechtes, so wird, wir sind dessen gewiß, seine Erkenntnis-

tat der Seelenkunde unvergeßlich bleiben.

Uchtspringer Schriften

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Wir, die wir sein kühnes Lebenswerk aus unserer geistigen Welt nicht wegzu-

denken vermögen, sind glücklich, diesen großen Unermüdlichen unter uns

zu wissen und mit ungebrochener Kraft am Werke zu sehen. Möge unser

dankbares Empfinden den verehrten Mann noch lange begleiten dürfen.«

Die Glückwunschadresse haben unterzeichnet:

Alf Ahlberg Erik Ahlmann

Uno Åhren Alberto Albertini

Manuel Altolaguira Jo van Ammers Küller

Eva Andén Cäsar von Arx

Ernst von Aster Raoul Auernheimer

Claude Aveline Azorin (José Martinez Ruiz)

Oskar Baum Edmund Philipp Beck

Richard Beer-Hofmann Robert Berény

Elisabeth Bergner Hugo Bieber

Erik Blomberg Björn Bjoernson

Henri Bonnet Svend Borberg

Jacques Boulanger Karin Boye

Menno ter Braak Charles Braibant

Henry Noel Brailsford Bernard von Brentano

Hermann Broch Max Brod

Jakob Bührer Otto Buek

Adolf Busch Fritz Busch

Hermann Busch

Américo Castro André Chamson

Richard Coudenhove-Kalergi

Salvador Dali E. Deleuran

L. Denoël Bonamy Dobrée

Alfred Döblin Slatan Dudow

Edouard Dujardin Lenah Elgström

Havelock Ellis

Robert Faesi Guglielmo Ferrero

Lion Feuchtwanger Ottokar Fischer

Mihél Földi Emilia Fogelklou-Norlind

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Bruno Frank Leonhard Frank

Alexander Moritz Frey Milán Füst

Eduard Fuchs

Roger Martin du Gard David Garnett

Oszkar Gellert André Gide

Paul Gjesdahl Louis Golding

Claire Goll Ivan Goll

Oskar Maria Graf Yvette Guilbert

A. Gyergay

Charlotte Haldane Janos Hammerschlag

Knut Hamsun Walter Hasenclever

Konrad Heiden Max Herrmann-Neisse

Wilhelm Herzog Hermann Hesse

Kurt Hiller Kai Hoffmann

Arthur Holitscher Josef Hora

R. J. Humm Lord Allan of Hurtwood

Aldous Huxley

Hugo Ignotus

Jo Jacobsen Heinrich Jacoby

G.A. Jaederholm Edmond Jaloux

Pierre Jean Jouve James Joyce

Hanns H. Kamm Marta Karlweis-Wassermann

Ludwig Kassar Karoly Kernstock

Hermann Kesten Egon Erwin Kisch

Konrad Karel Paul Klee

Franz Körmendi Janusz Korezak

Isidor Kosztolánji Helge Krog

Rudolf Jeremias Kreutz

Selma Lagerlöf John Landquist

Frantisek Langer Wolfgang Langhoff

Else Lasker-Schüler Emanuel Lessner

Anna Lesznai L. Levy-Bruhl

L. Levy-Dhurmer André Lhote

Peter Lipman-Wulf Cécile Ines Loos

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Rose Macaulay Miles Malleson

Golo Mann Heinrich Mann,

Klaus Mann Thomas Mann

Sándor Márai Ludwig Marcuse

Sven Markelius Frans Masereel

Boh. Mathesius William Somerset Maugham

André Maurois Walter Mehring

Karin Michaëlis Jean-Richard Moch

Edouard Monod-Herzen Frau Monod-Herzen

Tamás Moly Paul Morand

Robert Musil Gunnar Myrdal

Lajos Nagy Hans Natonek

Ebbe Neergard Oscar Némon

Alfred Neumann Robert Neumann

C.R.W. Nevinson

Rudolf Olden Karl Olivecrona

Arnulf Øverland

Pál Pátzay Pablo Picasso

Gustave Pittaluga Willliam Plomer

Alfred Polgar Guy de Pourtalès

Llewelyn Powys

Léon Pierre Quint

Herbert Read Ludwig Renn

Révész Béla Hans Richter

Romain Rolland Jules Romains

Jean Rostand Elisabeth Rotten

Felix Salten René Schickele

Leon Schiller Max Schiller

Jean Schlumberger Georg Schmidt

Erwin Schrödinger Herbert Schlesinger

S. Carvallo Schülein J. W. Schülein

Baron Ernest Seillière Sten Selander

Ramón de la Serna Ramón Gomez de la Serna

Rudolf Serkin, Nils Silfverskioeld

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Ignazio Silone Frans Eemil Sillanpää

Sacheverell Sitwell Zoltán Solmyó

Fred Stauffer Frida Steenhoff

Adrian Stephen Karin Stephen

Géza Szilágyi

Einar Tegen Elisabeth Thommen

Ernst Toller Guillermo de Torre

R.C. Trevelyan Jan Tschichold

Karl Tschuppik Adrien Turel

Emil Utitz

Joseph Vágó Georges Vantongerloo für die

Gruppe Abstraction/Creation (Pais)

S. Vestdijk J. Moreno Villa

Lydia Wahlström Bruno Walter

Ernst Weiß G. P. Wells

H. G. Wells Felix Weltsch

Franz Werfel Paul Westheim

Thornton Wilder Ludwig Winder

Leonard Woolf Virgina Woolf

Hermynia von Zur Mühlen Arnold Zweig

Stefan Zweig

Folgende Schriftsteller haben sich der Glückwunschadresse später ange-

schlossen:

Nils Antoni Tudor Arghesi

József Attila Wystan Auden

Beauchant Johannes R. Becher

Edouard van Beinum Göb Bergsten

Tristan Bernard Georg Bernhard

Ernst Bieri Jacob Billstrom

Edouard Bourdet Bertolt Brecht

R. Bredius

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Elise Menagé Challa Ed. Claparéde

Le Corbusier

L. Dinkin Sem Dresden

Paul Dubi Luc Durtain

Victor Eftimiu Hanns Eisler

Julius Epstein Max Ernst

B.J. van Eyk

Gabriel Gaál Louis van Gasteren

J. Geers Goldenholm

E.J. Gumbel

Willy Haak Lilly Heber

Wolfgang Heinz Ferdinand Helman

Alexandré Hérenger T. Hernando

Nic Hoel Gunnar Holmgren

Israel Holmgren

Josué Jéhouda Hans A. Joachim

Emerich Kádar Erwin Kalser

Alfred Kantorowcz Wilhelm Keilhau

T.M. Keynes Nell Knoop

Lotte Koch Herman Kruyt

Yrjö Kulovesi

Guillaume Landré Raphael Lanes

Ernst Leonard Rudolf Leonard

Henri Lichtenberger Bertus van Lier

Leopold Lindtberg F. London

Salvador de Madariaga Erika Mann-Auden

Hans Marchwitza René Maublanc

George Richards Minot Karl Molter

Sigurd Näsgaard Ada Nilsson

Felix de Nobel J.Nicolas

Joep Nicolas Suzanne Nicolas

Willem van Otterloo

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Erwin Parker Fritz Pauli

Willem Pijper Heinz Pol

Ola Raknes Liviu Rebreanu

Gustav Regler Hubert Ripka

Betsy Rijkens-Culp Anni Roland-Holst

Andries Roodenburg Joseph Roth

Hans Sahl Joh. Scharffenberg

Fritz Schiff Carl Schioetz

Harald Schjelderup Kristian Schjelderup

Rob Schürch Schutzverband Deutscher Schrift

steller (Paris)

Anna Seghers Haakon Sethre

J. Slauerhoff J.J. Slauerhoff

Rosa Spier Georg Steenhoff

Lucié Steffens Emil Stöhr

Helene Stöcker Alma Sundqu

Aron Tamasi

J.J.Vosknil Viktor E.van Vriesland

Louis Zimmermann

Thomas Mann übergab die Glückwünschadresse am 8. Mai 1936 in Wien

an Sigmund Freud. Am selben Tag hielt er seinen Festvortrag »Freud und

die Zukunft« vor dem »Akademischen Verein für medizinische Psycholo-

gie«.

Abgedruckt nach den Dokumnenten im Freud Museum London.

Uchtspringer Schriften

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Thomas Mann

Freud und die Zukunft

Festvortrag im Wiener Akademischen Verein für medizinische Psychologie

zu Sigm. Freuds 80. Geburtstag

Meine Damen und Herren!

Was legitimiert einen Dichter, den Festredner zu Ehren eines großen For-

schers zu machen? Oder, wenn er die Gewissensfrage auf andere abwälzen

darf, die glaubten, ihm diese Rolle übertragen zu sollen: wie rechtfertigt es

sich, daß eine gelehrte Gesellschaft, in unserem Fall eine akademische Verei-

nigung für medizinische Psychologie, nicht einen ihres Zeichens, einen Mann

der Wissenschaft bestellt, damit er den hohen Tag ihres Meisters im Worte

begehe, sondern einen Dichter, das heißt also doch einen Menschengeist,

der wesentlich nicht auf Wissen, Scheidung, Einsicht, Erkenntnis, sondern

auf Spontaneität, Synthese, aufs naive Tun und Machen und Hervorbringen

gestellt ist und so allenfalls zum Objekt förderlicher Erkenntnis werden kann,

ohne seiner Natur und Bestimmung nach zu ihrem Subjekt zu taugen? Ge-

schieht es vielleicht in der Erwägung, daß der Dichter als Künstler, und zwar

als geistiger Künstler, zum Begehen geistiger Feste, zum Festefeiern über-

haupt berufener, daß er von Natur ein festlicherer Mensch sei als der Erken-

nende, der Wissenschaftler? Ich will dieser Meinung nicht widersprechen.

Es ist wahr, der Dichter versteht sich auf Lebensfeste; er versteht sich sogar

auf das Leben als Fest, womit ein Motiv zum erstenmal leise und vorläufig

berührt wird, dem es bestimmt sein mag, in der geistigen Huldigungsmusik

dieses Abends eine thematische Rolle zu spielen. Aber der festliche Sinn

dieser Veranstaltung liegt nach der Absicht ihrer Veranstalter wohl eher in

der Sache selbst, das heißt: in der solennen und neuartigen Begegnung von

Objekt und Subjekt, des Gegenstandes der Erkenntnis mit dem Erkennenden,

einer saturnalischen Umkehrung der Dinge, in welcher der Erkennende und

Traumdeuter zum festlichen Objekt träumerischer Erkenntnis wird, und auch

gegen diesen Gedanken habe ich nichts einzuwenden: schon darum nicht,

weil auch in ihm bereits ein Motiv aufklingt, das eine bedeutende symphoni-

sche Zukunft hat. Voller instrumentiert und verständlicher wird es wieder-

kehren, denn ich müßte mich sehr täuschen oder gerade die Vereinigung von

Subjekt und Objekt, ihr Ineinanderfließen, ihre Identität, die Einsicht in die

geheimnisvolle Einheit von Welt und Ich, Schicksal und Charakter, Gesche-

hen und Machen, in das Geheimnis also der Wirklichkeit als eines Werkes der

Seele oder, sage ich, gerade dies wäre das A und O aller psychoanalytischen

Initiation ...

Uchtspringer Schriften

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Auf jeden Fall: Entschließt man sich, einen Dichter zum Lobredner

eines genialen Forschers zu ernennen, so sagt das etwas aus über den einen

wie den anderen; es ist kennzeichnend für beide. Ein besonderes Verhältnis

des zu Feiernden zur Welt der Dichtung, der Literatur geht ebenso daraus

hervor wie eine eigentümliche Beziehung des Dichters, des Schriftstellers zu

der Erkenntnissphäre, als deren Schöpfer und Meister jener vor der Welt

steht; und das wiederum Besondere und Merkwürdige bei diesem Wechsel-

verhältnis, diesem Einandernahesein ist, daß es beiderseits lange Zeit

ungewußt, im »Unbewußten« blieb: in jenem Bereich der Seele also, dessen

Erkundung und Erhellung, dessen Eroberung für die Humanität die

eigentlichste Sendung gerade dieses erkennenden Geistes ist. Die nahen

Beziehungen zwischen Literatur und Psychoanalyse sind beiden Teilen seit

längerem bewußt geworden. Das Festliche dieser Stunde aber liegt, wenig-

stens in meinen Augen und für mein Gefühl, in der wohl zum ersten Male sich

ereignenden öffentlichen Begegnung der beiden Sphären, in der Manifesta-

tion jenes Bewußtseins, dem demonstrativen Bekenntnis zu ihm.

Ich sagte, die Zusammenhänge, die tiefreichenden Sympathien seien

beiden Teilen lange Zeit unbekannt geblieben. Und wirklich weiß man ja, daß

der Geist, den zu ehren uns angelegen ist, Sigmund Freud, der Begründer der

Psychoanalyse als Therapeutik und allgemeiner Forschungsmethode, den

harten Weg seiner Erkenntnisse ganz allein, ganz selbständig, ganz nur als

Arzt und Naturforscher gegangen ist, ohne der Trost- und Stärkungsmittel

kundig zu sein, die die große Literatur für ihn bereit gehalten hätte. Er hat

Nietzsche nicht gekannt, bei dem man überall Freudsche Einsichten blitzhaft

vorweggenommen findet; nicht Novalis, dessen romantisch-biologische Träu-

mereien und Eingebungen sich analytischen Ideen oft so erstaunlich annä-

hern; nicht Kierkegaard, dessen christlicher Mut zum psychologisch Äußer-

sten ihn tief und förderlich hätte ansprechen müssen; und gewiß auch Scho-

penhauer nicht, den schwermütigen Symphoniker einer nach Umkehr und

Erlösung trachtenden Triebphilosophie... Es mußte wohl so sein. Auf eigenste

Hand, ohne die Kenntnis intuitiver Vorwegnahmen mußte er wohl seine Ein-

sichten methodisch erobern: die Stoßkraft seiner Erkenntnis ist durch solche

Gunstlosigkeit wahrscheinlich gesteigert worden, und überhaupt ist Einsam-

keit von seinem ernsten Bilde nicht wegzudenken, jene Einsamkeit, von der

Nietzsche spricht, wenn er in seinem hinreißenden Essay »Was bedeuten

asketische Ideale?« Schopenhauer einen »wirklichen Philosophen« heißt,

einen »wirklich auf sich gestellten Geist, einen Mann und Ritter mit erzenem

Blick, der den Mut zu sich selber hat, der allein zu stehn weiß und nicht erst

auf Vordermänner und höhere Winke wartet«. Im Bilde dieses »Mannes und

Ritters«, eines Ritters zwischen Tod und Teufel, habe ich den Psychologen

Uchtspringer Schriften

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des Unbewußten zu sehen mich gewöhnt, seit seine geistige Figur in meinen

Gesichtskreis rückte.

Es geschah spät; viel später, als man bei der Verwandtschaft des

dichterisch-schriftstellerischen Impulses überhaupt und meiner Natur im

besonderen mit dieser Wissenschaft hätte erwarten sollen. Zwei Tendenzen

sind es vor allem, die diese Verwandtschaft ausmachen: Die Liebe zur Wahr-

heit erstens, ein Wahrheitssinn, eine Empfindlichkeit und Empfänglichkeit

für die Reize und Bitterkeiten der Wahrheit, welche sich hauptsächlich als

psychologische Reizbarkeit und Klarsicht äußert, bis zu dem Grade, daß der

Begriff der Wahrheit fast in dem der psychologischen Wahrnehmung und

Erkenntnis aufgeht; und zweitens der Sinn für die Krankheit, eine gewisse

durch Gesundheit ausgewogene Affinität zu ihr und das Erlebnis ihrer pro-

duktiven Bedeutung.

Was die Wahrheitsliebe betrifft, die leidend-moralistisch gestimmte

Liebe zur Wahrheit als Psychologie, so stammt sie aus der hohen Schule

Nietzsches, bei dem in der Tat das Zusammenfallen von Wahrheit und psy-

chologischer Wahrheit, des Erkennenden mit dem Psychologen in die Augen

springt: sein Wahrheitsstolz, sein Begriff selbst von Ehrlichkeit und intellek-

tueller Reinlichkeit, sein Wissensmut und seine Wissensmelancholie, sein

Selbstkennertum, Selbsthenkertum all dies ist psychologisch gemeint, hat

psychologischen Charakter, und ich vergesse nie die erzieherische Bekräfti-

gung und Vertiefung, die eigene Anlagen durch das Erlebnis von Nietzsches

psychologischer Passion erfuhren. Das Wort »Erkenntnisekel« steht im

»Tonio Kröger«. Es hat gut Nietzschesches Gepräge, und seine Jünglings-

schwermut deutet auf das Hamlethafte in Nietzsches Natur, in der die eigene

sich spiegelte, einer Natur, zum Wissen berufen, ohne eigentlich dazu gebo-

ren zu sein. Es sind jugendliche Schmerzen und Traurigkeiten, von denen ich

da spreche, und die von den reifenden Jahren ins Heiterere, Ruhigere über-

führt worden sind. Aber die Neigung, Wahrheit und Wissen psychologisch

zu verstehen, sie mit Psychologie gleichzusetzen, psychologischen

Wahrheitswillen als den Willen zur Wahrheit überhaupt und Psychologie als

Wahrheit im eigentlichsten und tapfersten Sinn des Wortes zu empfinden

diese Neigung, die man wohl naturalistisch nennen und der Erziehung durch

den literarischen Naturalismus zuschreiben muß, ist mir geblieben, und sie

bildet eine Vorbedingung der Aufgeschlossenheit für die seelische Natur-

wissenschaft, die den Namen »Psychoanalyse« trägt.

Die zweite, sagte ich, ist der Sinn für die Krankheit, genauer: für die

Krankheit als Erkenntnismittel; und auch ihn könnte man von Nietzsche her-

leiten, der wohl wußte, was er seiner Krankheit verdankte, und auf jeder Seite

zu lehren scheint, daß es kein tieferes Wissen ohne Krankheitserfahrung gibt

Uchtspringer Schriften

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und alle höhere Gesundheit durch die Krankheit hindurchgegangen sein

muß. Auch diesen Sinn also könnte man auf das Erlebnis Nietzsches zurück-

führen, wenn er nicht mit dem Wesen des geistigen Menschen überhaupt

und des dichterischen zumal, ja mit dem Wesen aller Menschheit und Mensch-

lichkeit, von der der Dichter ja nur ein auf die Spitze getriebener Ausdruck ist,

eng verschwistert wäre. »L’humanite« hat Victor Hugo gesagt, »s’affirme par

l’infirmite« ein Wort, das die zarte Verfassung aller höheren Menschlichkeit

und Kultur, ihre Kennerschaft auf dem Gebiet der Krankheit mit stolzer Offen-

heit eingestellt. Der Mensch ist das »kranke Tier« genannt worden um der

belastenden Spannungen und auszeichnenden Schwierigkeiten willen, die

seine Stellung zwischen Natur und Geist, zwischen Tier und Engel ihm aufer-

legt. Was Wunder, daß von der Seite der Krankheit her der Forschung die

tiefsten Vorstöße ins Dunkel der menschlichen Natur gelungen sind, daß

sich die Krankheit, nämlich die Neurose, als ein anthropologisches Erkenntnis-

mittel ersten Ranges erwiesen hat?

Der Dichter dürfte der letzte sein, sich darüber zu wundern. Es dürfte

ihn eher erstaunen, daß er, bei so starker allgemeiner und persönlicher

Disponiertheit, so spät der sympathischen Beziehungen seiner Existenz zur

psychoanalytischen Forschung und dem Lebenswerke Freuds gewahr wur-

de: zu einer Zeit erst, als es sich bei dieser Lehre längst nicht mehr bloß um

eine anerkannte oder umstrittene Heilmethode handelte, als sie vielmehr dem

bloß medizinischen Bezirk längst entwachsen und zu einer Weltbewegung

geworden war, von der alle möglichen Gebiete des Geistes und der Wissen-

schaft sich ergriffen zeigten: Literatur- und Kunstforschung, Religionsge-

schichte und Prähistorie, Mythologie, Volkskunde, Pädagogik und was nicht

alles, nämlich dank dem ausbauenden und anwendenden Eifer von Adepten,

die um ihren psychiatrisch-medizinischen Kern diese Aura allgemeinerer

Wirkungen gelegt hatten. Sogar wäre es zuviel gesagt, daß ich zur Psycho-

analyse gekommen wäre: sie kam zu mir. Durch das freundliche Interesse, das

sie durch einzelne ihrer Jünger und Vertreter immer wieder, vom »Kleinen

Herrn Friedemann« bis zum »Tod in Venedig«, zum »Zauberberg« und zum

Josephsroman, meiner Arbeit erwies, gab sie mir zu verstehen, daß ich etwas

mit ihr zu tun hätte, auf meine Art gewissermaßen »vom Bau« sei, machte mir,

wie es ihr denn wohl zukam, die latent vorhandenen, die »vorbewußten«

Sympathien bewußt; und die Beschäftigung mit der analytischen Literatur

ließ mich im Denk- und Sprachgewande naturwissenschaftlicher Exaktheit

vieles Urvertraute aus meinem früheren geistigen Erleben wiedererkennen.

Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, in diesem autobiographi-

schen Stil ein wenig fortzufahren, und verargen Sie mir nicht, wenn ich, statt

von Freud zu reden, scheinbar von mir rede! Über ihn zu sprechen, getraue

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ich mich kaum. Was sollte ich über ihn der Welt Neues zu sagen hoffen

können? Ich spreche zu seinen Ehren, auch und gerade, wenn ich von mir

spreche und Ihnen erzähle, wie tief und eigentümlich vorbereitet ich durch

entscheidende Bildungseindrücke meiner Jugend auf die von Freud kom-

menden Erkenntnisse war. Mehr als einmal, in Erinnerungen und Geständnis-

sen, habe ich von dem erschütternden, in merkwürdigster Mischung zu-

gleich berauschenden und erziehlichen Erlebnis berichtet, das die Bekannt-

schaft mit der Philosophie Arthur Schopenhauers dem Jüngling bedeutete,

der ihm in seinem Roman von den Buddenbrooks ein Denkmal gesetzt hat.

Der unerschrockene Wahrheitsmut, der die Sittlichkeit der analytischen Tie-

fenpsychologie ausmacht, war mir in dem Pessimismus einer naturwissen-

schaftlich bereits stark gewappneten Metaphysik zuerst entgegengetreten.

Diese Metaphysik lehrte in dunkler Revolution gegen den Glauben von Jahr-

tausenden den Primat des Triebes vor Geist und Vernunft, sie erkannte den

Willen als Kern und Wesensgrund der Welt, des Menschen so gut wie aller

übrigen Schöpfung, und den Intellekt als sekundär und akzidentell, als des

Willens Diener und schwache Leuchte. Nicht aus antihumaner Bosheit tat

sie das, die das schlechte Motiv geistfeindlicher Lehren von heute ist, son-

dern aus der strengen Wahrheitsliebe eines Jahrhunderts, das den Idealis-

mus aus Idealismus bekämpfte. Es war so wahrhaftig, dieses 19. Jahrhundert,

daß es durch Ibsen sogar die Lüge, die »Lebenslüge«, als unentbehrlich

anerkennen wollte, und man sieht wohl: es ist ein großer Unterschied, ob

man aus schmerzlichem Pessimismus und bitterer Ironie, von Geistes wegen,

die Lüge bejaht oder aus Haß auf den Geist und die Wahrheit. Dieser Unter-

schied ist heute nicht jedermann deutlich.

Der Psycholog des Unbewußten nun, Freud, ist ein echter Sohn des

Jahrhunderts der Schopenhauer und Ibsen, aus dessen Mitte er entsprang.

Wie nahe verwandt ist seine Revolution nach ihren Inhalten, aber auch nach

ihrer moralischen Gesinnung der Schopen-hauerschen! Seine Entdeckung

der ungeheueren Rolle, die das Unbewußte, das »Es« im Seelenleben des

Menschen spielt, besaß und besitzt für die klassische Psychologie, der Be-

wußtheit und Seelenleben ein und dasselbe ist, die gleiche Anstößigkeit, die

Schopenhauers Willenslehre für alle philosophische Vernunft- und Geist-

gläubigkeit besaß. Wahrhaftig, der frühe Liebhaber der »Welt als Wille und

Vorstellung« ist bei sich zu Hause in der bewunderungswürdigen Abhand-

lung, die zu Freuds Neuen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse

gehört und »Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit« heißt. Da ist

das Seelenreich des Unbewußten, das »Es« mit Worten beschrieben, die

ebenso gut, so vehement und zugleich mit demselben Akzent intellektuellen

und ärztlich kühlen Interesses Schopenhauer für sein finsteres Willensreich

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hätte gebrauchen können. Das Gebiet des Es, sagt er, »ist der dunkle, unzu-

gängliche Teil unserer Persönlichkeit; das wenige, was wir von ihm wissen,

haben wir durch das Studium der Traumarbeit und der neurotischen Symptom-

bildung erfahren«. Er schildert es als ein Chaos, einen Kessel brodelnder

Erregungen. Das »Es«, meint er, sei sozusagen »am Ende gegen das Somati-

sche offen und nehme da die Triebbedürfnisse in sich auf, die in ihm ihren

psychischen Ausdruck finden unbekannt, in welchem Substrat. Von den Trie-

ben her erfülle es sich mit Energie; aber es habe keine Organisation, bringe

keinen Gesamtwillen auf, nur das Bestreben, den Triebbedürfnissen unter

Einhaltung des Lustprinzips Befriedigung zu schaffen. Da gelten keine logi-

schen Denkgesetze, vor allem nicht der Satz des Widerspruchs. Gegensätzli-

che Regungen bestehen nebeneinander, ohne einander aufzuheben oder sich

von einander abzuziehen, höchstens, daß sie unter dem herrschenden öko-

nomischen Zwang zur Abfuhr der Energie zu Kompromißbildungen zusam-

mentreten...« Sie sehen, meine Damen und Herren, das sind Zustände, die

nach unserer zeitgeschichtlichen Erfahrung sehr wohl auf das Ich selbst, ein

ganzes Massen-Ich, übergreifen können, nämlich dank einer moralischen

Erkrankung, die durch die Anbetung des Unbewußten, die Verherrlichung

seiner allein »lebenfördernden Dynamik«, die systematische Verherrlichung

des Primitiven und Irrationellen erzeugt wird. Denn das Unbewußte, das Es,

ist primitiv und irrational, es ist rein dynamisch. Wertungen kennt es nicht,

kein Gut und Böse, keine Moral. Es kennt sogar nicht die Zeit, keinen zeitli-

chen Ablauf, keine Veränderung des seelischen Vorgangs durch ihn. »Wunsch-

regungen«, sagt Freud, »die das Es nie überschritten haben, aber auch Ein-

drücke, die durch Verdrängung ins Es versenkt worden sind, sind virtuell

unsterblich, verhalten sich nach Dezennien, als ob sie neu vorgefallen wä-

ren. Als Vergangenheit erkannt, entwertet und ihrer Energiebesetzung be-

raubt können sie erst werden, wenn sie durch die analytische Arbeit bewußt

geworden sind.« Und darauf, fügt er hinzu, beruhe vornehmlich die Heilwir-

kung der analytischen Behandlung. Wir verstehen danach, wie antipathisch

die analytische Tiefenpsychologie einem Ich sein muß, das, berauscht von

einer Religiosität des Unbewußten, selbst in den Zustand unterweltlicher

Dynamik geraten ist. Es ist nur allzu klar, daß und warum ein solches Ich von

Analyse nichts wissen will und der Name Freud vor ihm nicht genannt wer-

den darf.

Was nun das Ich selbst und überhaupt betrifft, so steht es fast rüh-

rend, recht eigentlich besorgniserregend damit. Es ist ein kleiner, vorgescho-

bener, erleuchteter und wachsamer Teil des »Es« – ungefähr wie Europa eine

kleine, aufgeweckte Provinz des weiten Asien ist. Das Ich ist jener Teil des

Es, »der durch die Nähe und den Einfluß der Außenwelt modifiziert wurde, zu

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Reizaufnahme und Reizschutz eingerichtet, vergleichbar der Rindenschicht,

mit der sich ein Klümpchen lebender Substanz umgibt«. Ein anschauliches

biologisches Bild. Freud schreibt überhaupt eine höchst anschauliche Pro-

sa, er ist ein Künstler des Gedankens wie Schopenhauer und wie er ein euro-

päischer Schriftsteller. Die Beziehung zur Außenwelt ist nach ihm für das Ich

entscheidend geworden, es hat die Aufgabe, sie beim Es zu vertreten zu

dessen Heil! Denn ohne Rücksicht auf diese übergewaltige Außenmacht

würde das Es in seinem blinden Streben nach Triebbefriedigung der Vernich-

tung nicht entgehen. Das Ich beobachtet die Außenwelt, es erinnert sich, es

versucht redlich, das objektiv Wirkliche von dem zu unterscheiden, was Zu-

tat aus inneren Erregungsquellen ist. Es beherrscht im Auftrage des Es die

Hebel der Motilität, der Aktion, hat aber zwischen Bedürfnis und Handlung

den Aufschub der Denkarbeit eingeschaltet, während dessen es die Erfah-

rung zu Rate zieht, und besitzt eine gewisse regulative Überlegenheit gegen-

über dem im Unbewußten schrankenlos herrschenden Lustprinzip, das es

durch das Realitätsprinzip korrigiert. Aber wie schwach ist es bei alldem!

Eingeengt zwischen Unbewußtem, Außenwelt und dem was Freud das »Über-

Ich« nennt, dem Gewissen, führt es ein ziemlich nervöses und geängstigtes

Dasein. Mit seiner Eigen-Dynamik steht es nur matt. Seine Energien entlehnt

es dem Es und muß im ganzen dessen Absichten durchführen. Es möchte

sich wohl als den Reiter betrachten und das Unbewußte als das Pferd. Aber

so manches Mal wird es vom Unbewußten geritten, und wir wollen nur lieber

hinzufügen, was Freud aus rationaler Moralität hinzuzufügen unterläßt, daß

es auf diese etwas illegitime Weise unter Umständen am weitesten kommt.

Freuds Beschreibung aber des Es und Ich ist sie nicht aufs Haar die

Beschreibung von Schopenhauers »Wille« und »Intellekt«, eine Überset-

zung seiner Metaphysik ins Psychologische? Und wer nun ohnedies schon,

nachdem er von Schopenhauer die metaphysischen Weihen empfangen, bei

Nietzsche die schmerzlichen Reize der Psychologie gekostet hatte, wie hät-

ten den nicht Gefühle der Vertrautheit und des Wiedererkennens erfüllen

sollen, als er sich, von Ansässigen ermutigt, erstmals umsah im psychoana-

lytischen Reich? Er machte auch die Erfahrung, daß die Bekanntschaft damit

aufs stärkste und eigentümlichste zurückwirkt auf jene früheren Eindrücke,

wenn man sie nach solcher Umschau erneuert. Wie anders, nachdem man bei

Freud geweilt, wie anders liest man im Licht seiner Erkundungen eine Be-

trachtung wieder wie Schopenhauers großen Aufsatz »Über die anscheinende

Absichtlichkeit im Schicksal des Einzelnen«! Und hier, meine Damen und

Herren, bin ich im Begriff, auf den innigsten und geheimsten Berührungs-

punkt zwischen Freuds naturwissenschaftlicher und Schopenhauers philo-

sophischer Welt hinzuweisen der genannte Essay, ein Wunder an Tiefsinn

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und Scharfsinn, bildet diesen Berührungspunkt. Der geheimnisvolle Gedan-

ke, den Schopenhauer darin entwickelte, ist, kurz gesagt, der, daß genau wie

im Traume unser eigener Wille, ohne es zu ahnen, als unerbittlich-objektives

Schicksal auftritt, alles darin aus uns selber kommt und jeder der heimliche

Theaterdirektor seiner Träume ist, so auch in der Wirklichkeit, diesem großen

Traum, den ein einziges Wesen, der Wille selbst, mit uns allen träumt, unsere

Schicksale das Produkt unseres Innersten, unseres Willens sein möchten

und wir also das, was uns zu geschehen scheint, eigentlich selbst veranstal-

teten. Ich fasse sehr dürftig zusammen, meine Herrschaften, in Wahrheit sind

das Ausführungen von stärkster Suggestivkraft und mächtiger Schwingen-

breite. Nicht nur aber, daß die Traumpsychologie, die Schopenhauer zu Hilfe

nimmt, ausgesprochen analytischen Charakter trägt sogar das sexuelle Ar-

gument und Paradigma fehlt nicht; so ist der ganze Gedankenkomplex in dem

Grade eine Vordeutung auf tiefenpsychologische Konzeptionen, in dem Gra-

de eine philosophische Vorwegnahme davon, daß man erstaunt! Denn um zu

wiederholen, was ich anfangs sagte: in dem Geheimnis der Einheit von Ich

und Welt, Sein und Geschehen, in der Durchschauung des scheinbar Objek-

tiven und Akzidentellen als Veranstaltung der Seele glaube ich den innersten

Kern der analytischen Lehre zu erkennen.

Es kommt mir da ein Satz in den Sinn, den ein kluger, aber etwas

undankbarer Sprößling dieser Lehre, C. G. Jung, in seiner bedeutenden Einlei-

tung zum Tibetanischen Totenbuch formuliert. Es ist so viel »unmittelbarer,

auffallender, eindrücklicher und darum überzeugender«, sagt er, »zu sehen,

wie es mir zustößt, als zu beobachten, wie ich es mache.« Ein kecker, ja toller

Satz, der recht deutlich zeigt, mit welcher Gelassenheit heute in einer be-

stimmten psychologischen Schule Dinge angeschaut werden, die noch Scho-

penhauer als ungeheuere Zumutung und »exorbitantes« Gedankenwagnis

empfand. Wäre dieser Satz, der das »Zustoßen« als ein »Machen« entlarvt,

ohne Freud denkbar? Nie und nimmer! Er schuldet ihm alles. Beladen mit

Voraussetzungen, ist er nicht zu verstehen und hätte gar nicht hingesetzt

werden können ohne all das, was die Analyse über Versprechen und Ver-

schreiben, das ganze Gebiet der Fehlleistungen, die Flucht in die Krankheit,

den Selbstbestrafungstrieb, die Psychologie der Unglücksfälle, kurz über die

Magie des Unbewußten ausgemacht und zutage gefördert hat. Ebensowe-

nig aber wäre jener gedrängte Satz, einschließlich seiner psychologischen

Voraussetzungen, möglich geworden ohne Schopenhauer und seine noch

unexakte, aber traumkühne und wegbereitende Spekulation. Vielleicht ist dies

der Augenblick, meine Damen und Herren, festlicherweise ein wenig gegen

Freud zu polemisieren. Er achtet nämlich die Philosophie nicht sonderlich

hoch. Der Exaktheitssinn des Naturwissenschaftlers gestattet ihm kaum, eine

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Wissenschaft in ihr zu sehen. Er macht ihr zum Vorwurf, daß sie ein lückenlos

zusammenhängendes Weltbild liefern zu können sich einrede, den Erkennt-

niswert logischer Operationen überschätze, wohl gar an die Intuition als

Wissensquelle glaube und geradezu animistischen Neigungen fröne, indem

sie an Wortzauber und an die Beeinflussung der Wirklichkeit durch das Den-

ken glaube. Aber wäre dies wirklich eine Selbstüberschätzung der Philoso-

phie? Ist je die Welt durch etwas anderes geändert worden als durch den

Gedanken und seinen magischen Träger, das Wort? Ich glaube, daß tatsäch-

lich die Philosophie den Naturwissenschaften vor- und übergeordnet ist und

daß alle Methodik und Exaktheit im Dienst ihres geistesgeschichtlichen Wil-

lens steht. Zuletzt handelt es sich immer um das Quod erat demonstrandum.

Die Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft ist ein moralisches Faktum

oder sollte es sein. Geistig gesehen, ist sie wahrscheinlich das, was Freud

eine Illusion nennt. Die Sache auf die Spitze zu stellen, könnte man sagen, die

Wissenschaft habe nie eine Entdeckung gemacht, zu der sie nicht von der

Philosophie autorisiert und angewiesen gewesen wäre.

Dies nebenbei. Lassen Sie uns zweckmäßig noch einen Augenblick

bei dem Gedanken Jungs verweilen, der mit Vorliebe und so auch in jener

Vorrede analytische Ergebnisse zur Herstellung einer Verständigungsbrücke

zwischen abendländischem Denken und östlicher Esoterik benutzt. Niemand

hat so scharf wie er die Schopenhauer-Freudsche Erkenntnis formuliert, daß

der Geber aller Gegebenheiten in uns selber wohnt eine Wahrheit, die trotz

aller Evidenz in den größten sowohl wie in den kleinsten Dingen nie gewußt

wird, wo es doch nur zu oft so nötig, ja unerläßlich wäre, »es zu wissen«. Eine

große und opferreiche Umkehr, meinte er, sei wohl nötig, um zu sehen, »wie

die Welt aus dem Wesen der Seele gegeben« wird; denn das animalische

Wesen des Menschen sträube sich dagegen, sich als den Macher seiner

Gegebenheiten zu empfinden. Es ist wahr, daß sich der Osten in der Überwin-

dung des Animalischen von jeher stärker erwiesen hat als das Abendland,

und wir brauchen uns daher nicht zu wundern, wenn wir hören, daß seiner

Weisheit zufolge auch die Götter zu den »Gegebenheiten« gehören, die der

Seele entstammen und mit ihr eins sind Schein und Licht der Menschenseele.

Dies Wissen, das man nach dem Totenbuch dem Verstorbenen mit auf den

Weg gibt, ist für den abendländischen Geist ein Paradoxon, das seiner Logik

widerstreitet; denn diese unterscheidet zwischen Subjekt und Objekt und

sträubt sich, dieses in jenes hineinzuverlegen oder aus ihm hervorgehen zu

lassen. Zwar kannte die europäische Mystik solche Anwandlungen, und

Angelus Silesius hat gesagt:

»Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben; Werd’ ich

zunicht, er muß vor Not den Geist aufgeben.«

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Im ganzen aber wäre eine psychologische Auffassung Gottes, die Idee einer

Gottheit, die nicht reine Gegebenheit, absolute Realität, sondern mit der See-

le eins und an sie gebunden wäre, abendländischer Religiosität unerträglich,

sie würde Gott dabei einbüßen. Und doch heißt Religiosität gerade Gebun-

denheit, und in der Genesis ist von einem »Bunde« zwischen Gott und

Mensch die Rede, dessen Psychologie ich in dem mythischen Roman »Jo-

seph und seine Brüder« zu geben versucht habe. Ja, lassen Sie mich hier auf

dieses mein eigen Werk zu sprechen kommen vielleicht hat es ein Recht,

genannt zu werden in einer Stunde festlicher Begegnung zwischen dichten-

der Literatur und der psycho-analytischen Sphäre. Merkwürdig genug und

vielleicht nicht nur für mich, daß darin eben jene psychologische Theologie

herrschend ist, die der Gelehrte der östlichen Eingeweihtheit zuschreibt: Die-

ser Abram ist gewissermaßen Gottes Vater. Er hat ihn erschaut und hervor-

gedacht; die mächtigen Eigenschaften, die er ihm zuschreibt, sind wohl Got-

tes ursprüngliches Eigentum, Abram ist nicht ihr Erzeuger, aber in gewissem

Sinn ist er es dennoch, da er sie erkennt und denkend verwirklicht. Gottes

gewaltige Eigenschaften und damit Gott selbst sind zwar etwas sachlich

Gegebenes außer Abram, zugleich aber sind sie auch in ihm und von ihm; die

Macht seiner eigenen Seele ist in gewissen Augenblicken kaum von ihnen zu

unterscheiden, verschränkt sich und verschmilzt erkennend in eins mit ih-

nen, und das ist der Ursprung des Bundes, den der Herr dann mit Abram

schließt und der nur die ausdrückliche Bestätigung einer inneren Tatsache

ist. Er wird als im beiderseitigen Interesse geschlossen charakterisiert, dieser

Bund, zum Endzwecke beiderseitiger Heiligung. Menschliche und göttliche

Bedürftigkeit verschränken sich derart darin, daß kaum zu sagen ist, von

welcher Seite, der göttlichen oder der menschlichen, die erste Anregung zu

solchem Zusammenwirken ausgegangen sei. Auf jeden Fall aber spricht sich

in seiner Errichtung aus, daß Gottes Heiligwerden und das des Menschen

einen Doppelprozeß darstellen und auf das innigste aneinander »gebun-

den« sind. Wozu, lautet die Frage, wohl sonst ein Bund?

Die Seele als Geberin des Gegebenen ich weiß wohl, meine Damen

und Herren, daß dieser Gedanke im Roman auf eine ironische Stufe getreten

ist, die er weder als östliche Weisheit noch als analytische Einsicht kennt.

Aber die unwillkürliche und erst nachträglich entdeckte Obereinstimmung

hat etwas Erregendes. Muß ich sie Beeinflussung nennen? Sie ist eher Sym-

pathie, eine gewisse geistige Nähe, die der Psychoanalyse, wie billig, früher

bewußt war, als mir, und aus der eben jene literarischen Aufmerksamkeiten

hervorgingen, die ich ihr von früh an zu danken hatte. Die letzte davon war

die Übersendung eines Sonderdrucks/ aus der Zeitschrift »Imago«, die Ar-

beit eines Wiener Gelehrten aus der Schule Freuds, betitelt »Zur Psychologie

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älterer Biographik«, eine recht trockene Überschrift, in der sich die Merkwür-

digkeiten kaum ankündigen, denen sie als Etikett dient. Der Verfasser zeigt

da, wie die ältere, naive, von der Legende und vom Volkstümlichen her ge-

speiste und bestimmte Lebensbeschreibung, namentlich die Künstler-

biographie, feststehende, schematisch-typische Züge und Vorgänge, bio-

graphisches Formelgut sozusagen konventioneller Art in die Geschichte ih-

res Helden aufnimmt, gleichsam um sie sich dadurch legitimieren, sich als

echt, als richtig ausweisen zu lassen als richtig im Sinne des »Wie es immer

war« und »Wie es geschrieben steht«. Denn dem Menschen ist am Wieder-

erkennen gelegen; er möchte das Alte im Neuen wiederfinden und das Typi-

sche im Individuellen. Darauf beruht alle Traulichkeit des Lebens, welches

als vollkommen neu, einmalig und individuell sich darstellend, ohne daß es

die Möglichkeit böte, Altvertrautes darin wiederzufinden, nur erschrecken

und verwirren könnte. Die Frage jener Schrift geht nun aber dahin, ob sich

denn die Grenze zwischen dem, was Formelgut legendärer Biographik, und

dem, was Lebenseigentum des Künstlers ist, zwischen dem Typischen und

dem Individuellen also, scharf und unzweideutig ziehen lasse, eine Frage,

verneint wie gestellt. Das Leben ist tatsächlich eine Mischung von formel-

haften und individuellen Elementen, ein Ineinander, bei dem das Individuelle

gleichsam nur über das Formelhaft-Unpersönliche hinausragt. Vieles Außer-

persönliche, viel unbewußte Identifikation, viel Konventionell-Schematisches

ist bestimmend für das Erleben nicht nur des Künstlers, sondern des Men-

schen überhaupt. »Viele von uns«, sagt der Verfasser, »leben auch heute

einen biographischen Typus, das Schicksal eines Standes, einer Klasse, ei-

nes Berufes ... Die Freiheit in der Lebensgestaltung des Menschen ist offen-

bar enge mit jener Bindung zu verknüpfen, die wir als »gelebte Vita bezeich-

nen.« Und pünktlich, zu meiner Freude nur, kaum auch zu meiner Überra-

schung, beginnt er, auf den Josephsroman zu exemplifizieren, dessen Grund-

motiv geradezu diese Idee der gelebten »Vita« sei, das Leben als Nachfolge,

als ein In-Spuren-Gehen, als Identifikation, wie besonders Josephs Lehrer

Eliezer sie in humoristischer Feierlichkeit praktiziert: Denn durch Zeitauf-

hebung rücken in ihm sämtliche Eliezers der Vergangenheit zum gegenwärti-

gen Ich zusammen, so daß er von Eliezer, Abrahams ältestem Knecht, ob-

gleich er realiter dieser bei weitem nicht ist, in der ersten Person spricht.

Ich muß zugeben: Die Gedankenverbindung ist außerordentlich legi-

tim. Der Aufsatz bezeichnet haargenau den Punkt, wo das psychologische

Interesse ins mythische Interesse übergeht. Er macht deutlich, daß das Typi-

sche auch schon das Mythische ist und daß man für gelebte »Vita« auch

gelebter »Mythos« sagen kann. Der gelebte Mythos aber ist die epische

Idee meines Romans, und ich sehe wohl, daß, seit ich als Erzähler den Schritt

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vom Bürgerlich-Individuellen zum Mythisch-Typischen getan habe, mein

heimliches Verhältnis zur analytischen Sphäre sozusagen in sein akutes Sta-

dium getreten ist. Das mythische Interesse ist der Psychoanalyse genau so

eingeboren, wie allem Dichtertum das psychologische Interesse eingeboren

ist. Ihr Zurückdringen in die Kindheit der Einzelseele ist zugleich auch schon

das Zurückdringen in die Kindheit des Menschen, ins Primitive und in die

Mythik. Freud selbst hat bekannt, daß alle Naturwissenschaft, Medizin und

Psychotherapie für ihn ein lebenslanger Um- und Rückweg gewesen sei zu

der primären Leidenschaft seiner Jugend fürs Menschheitsgeschichtliche,

für die Ursprünge von Religion und Sittlichkeit, diesem Interesse, das auf der

Höhe seines Lebens in »Totem und Tabu« zu einem so großartigen Aus-

bruch kommt. In der Wortverbindung »Tiefenpsychologie« hat »Tiefe« auch

zeitlichen Sinn: Die Urgründe der Menschenseele sind zugleich auch Urzeit,

jene Brunnentiefe der Zeiten, wo der Mythos zu Hause ist und die Urnormen,

Urformen des Lebens gründet. Denn Mythos ist Lebensgründung; er ist das

zeitlose Schema, die fromme Formel, in die das Leben eingeht, indem es aus

dem Unbewußten seine Züge reproduziert. Kein Zweifel, die Gewinnung der

mythisch-typischen Anschauungsweise macht Epoche im Leben des Erzäh-

lers, sie bedeutet eine eigentümliche Erhöhung seiner künstlerischen Stim-

mung, eine neue Heiterkeit des Erkennens und Gestaltens, welche späten

Lebensjahren vorbehalten zu sein pflegt; denn im Leben der Menschheit

stellt das Mythische zwar eine frühe und primitive Stufe dar, im Leben des

einzelnen aber eine späte und reife. Was damit gewonnen wird, ist der Blick

für die höhere Wahrheit, die sich im Wirklichen darstellt, das lächelnde Wis-

sen vom Ewigen, Immerseienden, Gültigen, vom Schema, in dem und nach

dem das vermeintlich ganz Individuelle lebt, nicht ahnend in dem naiven

Dünkel seiner Erst- und Einmaligkeit, wie sehr sein Leben Formel und Wie-

derholung, ein Wandeln in tief ausgetretenen Spuren ist. Der Charakter ist

eine mythische Rolle, die in der Einfalt illusionärer Einmaligkeit und Origina-

lität gespielt wird, gleichsam nach eigenster Erfindung und auf eigenste Hand,

dabei aber mit einer Würde und Sicherheit, die dem gerade obenauf gekom-

menen und im Lichte agierenden Spieler nicht seine vermeintliche Erst- und

Einmaligkeit verleiht, sondern die er im Gegenteil aus dem tieferen Bewußt-

sein schöpft, etwas Gegründet-Rechtmäßiges wieder vorzustellen und sich,

ob nun gut oder böse, edel oder widerwärtig, jedenfalls in seiner Art muster-

haft zu benehmen. Tatsächlich wüßte er sich, wenn seine Realität im Einma-

lig-Gegenwärtigen läge, überhaupt nicht zu benehmen, wäre haltlos, ratlos,

verlegen und verwirrt im Verhältnis zu sich selbst, wüßte nicht, mit welchem

Fuße antreten und was für ein Gesicht machen. Seine Würde und Spiel-

sicherheit aber liegt unbewußt gerade darin, daß etwas Zeitloses mit ihm

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wieder am Lichte ist und Gegenwart wird; sie ist mythische Würde, welche

auch dem elenden und nichtswürdigen Charakter noch zukommt, ist natürli-

che Würde, weil sie dem Unbewußten entstammt.

Dies ist der Blick, den der mythisch orientierte Erzähler auf die Er-

scheinungen richtet, und Sie sehen wohl: es ist ein ironisch überlegener

Blick; denn die mythische Erkenntnis hat hier ihren Ort nur im Anschauen-

den, nicht auch im Angeschauten. Wie aber nun, wenn der mythische Aspekt

sich subjektivierte, ins agierende Ich selber einginge und darin wach wäre,

so daß es mit freudigem oder düsterem Stolze sich seiner »Wiederkehr«,

seiner Typik bewußt wäre, seine Rolle auf Erden zelebrierte und seine Würde

ausschließlich in dem Wissen fände, das Gegründete im Fleisch wieder vor-

zustellen, es wieder zu verkörpern? Erst das, kann man sagen, wäre »gelebter

Mythos«; und man glaube nicht, daß es etwas Neues und Unerprobtes ist:

das Leben im Mythos, das Leben als weihevolle Wiederholung ist eine histo-

rische Lebensform, die Antike hat so gelebt. Ein Beispiel ist die Gestalt der

ägyptischen Kleopatra, die ganz und gar eine Ischtar-Astarte-Gestalt, Aphro-

dite in Person ist, wie denn Bachofen in seiner Charakteristik des bacchi-

schen Kultes, der dionysischen Kultur in der Königin das vollendete Bild

einer dionysischen Stimula sieht, die, nach Plutarch, weit mehr noch durch

erotische Geisteskultur als durch körperliche Reize das zu Aphrodites irdi-

scher Verkörperung entwickelte Weib repräsentiert habe. Dieses ihr

Aphroditentum, ihre Rolle als Hathor-Isis ist aber nicht nur etwas Kritisch-

Objektives, das erst von Plutarch und Bachofen über sie ausgesprochen

worden wäre, sondern es war der Inhalt ihrer subjektiven Existenz, sie lebte in

dieser Rolle. Ihre Todesart deutet darauf hin: Sie soll sich ja getötet haben,

indem sie sich eine Giftnatter an den Busen legte. Die Schlange aber war das

Tier der Ischtar, der ägyptischen Isis, die auch wohl in einem schuppigen

Schlangenkleid dargestellt wird, und man kennt eine Statuette der Ischtar,

wie sie eine Schlange am Busen hält. War also Kleopatras Todesart diejenige

der Legende, so wäre sie eine Demonstration ihres mythischen Ichgefühls

gewesen. Trug sie nicht auch den Kopfputz der Isis, die Geierhaube, und

schmückte sie sich nicht mit den Insignien der Hathor, den Kuhhörnern mit

der Sonnenscheibe dazwischen? Es war eine bedeutende Anspielung, daß

sie ihre Antonius-Kinder Helios und Selene nannte. Kein Zweifel, sie war

eine bedeutende Frau im antiken Sinn »bedeutend«, die wußte, wer sie war

und in welchen Fußstapfen sie ging!

Das antike Ich und sein Bewußtsein von sich war ein anderes als das

unsere, weniger ausschließlich, weniger scharf umgrenzt. Es stand gleich-

sam nach hinten offen und nahm vom Gewesenen vieles mit auf, was es

gegenwärtig wiederholte, und was mit ihm wieder »da« war. Der spanische

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Kulturphilosoph Ortega y Gasset drückt das so aus, daß der antike Mensch,

ehe er etwas tue, einen Schritt zurücktrete, gleich dem Torero, der zum Todes-

stoß aushole. Er suche in der Vergangenheit ein Vorbild, in das er wie in eine

Taucherglocke schlüpfe, um sich so, zugleich geschützt und entstellt, in das

gegenwärtige Problem hineinzustürzen. Darum sei sein Leben in gewisser

Weise ein Beleben, ein archaisierendes Verhalten. Aber eben dies Leben als

Beleben, Wiederbeleben ist das Leben im Mythos. Alexander ging in den

Spuren des Miltiades, und von Caesar waren seine antiken Biographen mit

Recht oder Unrecht überzeugt, er wolle den Alexander nachahmen. Dies

»Nachahmen« aber ist weit mehr, als heut in dem Worte liegt; es ist die

mythische Identifikation, die der Antike besonders vertraut war, aber weit in

die neue Zeit hineinspielt und seelisch jederzeit möglich bleibt. Das antike

Gepräge der Gestalt Napoleons ist oft betont worden. Er bedauerte, daß die

moderne Bewußtseinslage ihm nicht gestatte, sich für den Sohn Jupiter-

Amons auszugeben, wie Alexander. Aber daß er sich, zur Zeit seines orienta-

lischen Unternehmens, wenigstens mit Alexander mythisch verwechselt hat,

braucht man nicht zu bezweifeln, und später, als er sich fürs Abendland

entschieden hatte, erklärte er: »Ich bin Karl der Große.« Wohl gemerkt – nicht

etwa: »Ich erinnere an ihn«; nicht: »Meine Stellung ist der seinen ähnlich«.

Auch nicht: »Ich bin wie er«; sondern einfach: »Ich bin’s«. Das ist die Formel

des Mythos.

Das Leben, jedenfalls das bedeutende Leben, war also in antiken

Zeiten die Wiederherstellung des Mythos in Fleisch und Blut; es bezog und

berief sich auf ihn; durch ihn erst, durch die Bezugnahme aufs Vergangene

wies es sich als echtes und bedeutendes Leben aus. Der Mythos ist die

Legitimation des Lebens; erst durch ihn und in ihm findet es sein Selbstbe-

wußtsein, seine Rechtfertigung und Weihe. Bis in den Tod führte Kleopatra

ihre aphroditische Charakterrolle weihevoll durch, und kann man bedeuten-

der, kann man würdiger leben und sterben, als indem man den Mythos zele-

briert? Denken Sie doch auch an Jesus und an sein Leben, das ein Leben war,

damit erfüllet werde, was »geschrieben steht«. Es ist nicht leicht, bei dem

Erfüllungscharakter von Jesu Leben zwischen den Stilisierungen der Evan-

gelisten und seinem Eigenbewußtsein zu unterscheiden; aber sein Kreuzes-

wort um die neunte Stunde, dies »Eli, Eli, lama asabthani?« war ja, gegen den

Anschein, durchaus kein Ausbruch der Verzweiflung und Enttäuschung,

sondern im Gegenteil ein solcher höchsten messianischen Selbstgefühls.

Denn dieses Wort ist nicht »originell«, kein spontaner Schrei. Es bildet den

Anfang des 22. Psalms, der vom Anfang bis zum Ende Verkündigung des

Messias ist. Jesus zitierte, und das Zitat bedeutete: »Ja, ich bin’s!« So zitierte

auch Kleopatra, wenn sie, um zu sterben, die Schlange an ihren Busen nahm,

und wieder bedeutete das Zitat: »Ich bin’s!«

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Sehen Sie mir, meine Damen und Herren, das Wort »zelebrieren« nach,

das ich in diesem Zusammenhang brauchte. Es ist entschuldbar und selbst

geboten. Das zitathafte Leben, das Leben im Mythos, ist eine Art von

Zelebration; insofern es Vergegenwärtigung ist, wird es zur feierlichen Hand-

lung, zum Vollzuge eines Vorgeschriebenen durch einen Zelebranten, zum

Begängnis, zum Feste. Ist nicht der Sinn des Festes Wiederkehr als Verge-

genwärtigung? Jede Weihnacht wieder wird das welterrettende Wiegenkind

zur Erde geboren, das bestimmt ist, zu leiden, zu sterben und aufzufahren:

Das Fest ist die Aufhebung der Zeit, ein Vorgang, eine feierliche Handlung,

die sich abspielt nach geprägtem Urbild; was darin geschieht, geschieht

nicht zum ersten Male, sondern zeremoniellerweise und nach dem Muster; es

gewinnt Gegenwart und kehrt wieder, wie eben Feste wiederkehren in der

Zeit und wie ihre Phasen und Stunden einander folgen in der Zeit nach dem

Urgeschehen. Im Altertum war jedes Fest wesentlich eine theatralische An-

gelegenheit, ein Maskenspiel, die von Priestern vollzogene szenische Dar-

stellung von Göttergeschichten, zum Beispiel der Lebens- und Leidensge-

schichte des Osiris. Das christliche Mittelalter hatte dafür das Mysterien-

spiel mit Himmel, Erde und greulichem Höllenrachen, wie es noch in Goethes

»Faust« wiederkehrt; es hatte die Fastnachtfarce, den populären Mimus. Es

gibt eine mythische Kunstoptik auf das Leben, unter der dieses als

farcenhaftes Spiel, als theatralischer Vollzug von etwas festlich Vorgeschrie-

benem, als Kasperliade erscheint, worin mythische Charaktermarionetten eine

oft dagewesene, feststehende und spaßhaft wieder Gegenwart werdende

»Handlung« abhaspeln und vollziehen. Und es fehlt nur, daß diese Optik in

die Subjektivität der handelnden Personagen selbst eingeht, in ihnen selbst

als Spielbewußtsein, festlich-mythisches Bewußtsein vorgestellt wird, damit

eine Epik gezeitigt werde, wie sie sich in den »Geschichten Jaakobs« wun-

derlich genug ergibt, besonders in dem Kapitel »Der große Jokus«, worin

zwischen Personen, die alle wohl wissen, was sie sind und in welchen Spuren

sie gehen, zwischen Isaak, Esau und Jaakob, die bitter-komische Geschichte,

wie Esau, der Bote, der genasführte Teufel, geprellt wird um seines Vaters

Segen zum Gaudium des Hofvolks als mythische Festfarce jokos und tra-

gisch sich abspielt. Und ist nicht vor allem der Held dieses Romans ein

solcher Zelebrant des Lebens: Joseph selbst, der mit einer anmutigen Art

von religiöser Hochstapelei den Tammuz-Osiris-Mythos in seiner Person

vergegenwärtigt, sich das Leben des Zerrissenen, Begrabenen und Aufer-

stehenden »geschehen läßt« und sein festliches Spiel treibt mit dem, was

gemeinhin nur aus der Tiefe heimlich das Leben bestimmt und formt: dem

Unbewußten? Das Geheimnis des Metaphysikers und des Psychologen, daß

die Geberin alles Gegebenen die Seele ist, dies Geheimnis wird leicht, spiel-

Uchtspringer Schriften

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haft, künstlerisch, heiter, ja spiegelfechterisch und eulenspiegelhaft in Jo-

seph; es offenbart in ihm seine infantile Natur... Und dieses Wort läßt uns zu

unserer Beruhigung gewahr werden, wie wenig wir uns bei scheinbar so

großen Ausbeugungen von unserem Gegenstande, dem Gegenstande unse-

rer festlichen Huldigung entfernt wie wenig wir aufgehört haben, zu seinen

Ehren zu reden.

Infantilismus, auf deutsch: rückständige Kinderei welch eine Rolle

spielt dies echt psycho-analytische Element im Leben von uns allen, einen

wie starken Anteil hat es an der Lebensgestaltung der Menschen, und zwar

gerade und vornehmlich in der Form der mythischen Identifikation, des Nach-

lebens, des In-Spu-ren-Gehens! Die Vaterbindung, Vaternachahmung, das

Vaterspiel und seine Übertragungen auf Vaterersatzbilder höherer und geisti-

ger Art wie bestimmend, wie prägend und bildend wirken diese Infantilismen

auf das individuelle Leben ein! Ich sage: »bildend«; denn die lustigste, freu-

digste Bestimmung dessen, was man Bildung nennt, ist mir allen Ernstes

diese Formung und Prägung durch das Bewunderte und Geliebte, durch die

kindliche Identifikation mit einem aus innerster Sympathie gewählten Vater-

bilde. Der Künstler zumal, dieser eigentlich verspielte und leidenschaftlich

kindische Mensch, weiß ein Lied zu singen von den geheimen und doch

auch offenen Einflüssen solcher infantilen Nachahmung auf seine Biogra-

phie, seine produktive Lebensführung, welche oft nichts anderes ist als die

Neubelebung der Heroenvita unter sehr anderen zeitlichen und persönlichen

Bedingungen und mit sehr anderen, sagen wir: kindlichen Mitteln. So kann

die imitatio Goethes mit ihren Erinnerungen an die Werther-, die Meister-

Stufe und an die Altersphase von Faust und Diwan noch heute aus dem

Unbewußten ein Schriftstellerleben führen und mythisch bestimmen, ich sage:

aus dem Unbewußten, obgleich im Künstler das Unbewußte jeden Augen-

blick ins lächelnd Bewußte und kindlich-tief Aufmerksame hinüberspielt.

Der Joseph des Romans ist ein Künstler insofern er spielt, nämlich mit

seiner imitatio Gottes auf dem Unbewußten spielt, und ich weiß nicht, wel-

ches Gefühl von Zukunftsahnung, Zukunftsfreude mich ergreift, wenn ich

dieser Erheiterung des Unbewußten zum Spiel, dieser seiner

Fruchtbarmachung für eine feierliche Lebensproduktion, dieser erzählerischen

Begegnung von Psychologie und Mythos nachhänge, die zugleich eine fest-

liche Begegnung von Dichtung und Psychoanalyse ist. »Zukunft« ich habe

das Wort in den Titel meines Vertrages aufgenommen, einfach, weil der Be-

griff der Zukunft derjenige ist, den ich am liebsten und unwillkürlichsten mit

dem Namen Freuds verbinde. Aber während ich zu Ihnen sprach, mußte ich

mich fragen, ob ich mich nicht mit meiner Ankündigung einer Irreführung

schuldig gemacht: »Freud und der Mythus«, das wäre nach dem, was ich bis

Uchtspringer Schriften

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93

jetzt zum Schluß gesagt, etwa der richtige Titel gewesen. Und dennoch hängt

mein Gefühl an der Verbindung von Name und Wort und möchte einen Zu-

sammenhang dieser Formel wahrhaben mit dem, was ich sagte. Ja, so wahr

ich mich zu glauben erkühne, daß in dem Spiel der Psychologie auf dem

Mythos, worin jener der Freudschen Welt befreundete Roman sich übt, Kei-

me und Elemente eines neuen Menschheitsgefühls, einer kommenden Hu-

manität beschlossen liegen, so vollkommen bin ich überzeugt, daß man in

Freuds Lebenswerk einmal einen der wichtigsten Bausteine erkennen wird,

die beigetragen worden sind zu einer heute auf vielfache Weise sich bilden-

den neuen Anthropologie und damit zum Fundament der Zukunft, dem Hau-

se einer klügeren und freieren Menschheit. Dieser ärztliche Psycholog wird

geehrt werden, so glaube ich, als Wegbereiter eines künftigen Humanismus,

den wir ahnen, und der durch vieles hindurchgegangen sein wird, von dem

frühere Humanismen nichts wußten, eines Humanismus, der zu den Mächten

der Unterwelt, des Unbewußten, des »Es« in einem keckeren, freieren und

heitereren, einem kunstreiferen Verhältnis stehen wird, als es einem in neuro-

tischer Angst und zugehörigem Haß sich mühenden Menschentum von heu-

te vergönnt ist. Freud hat zwar gemeint, die Zukunft werde wahrscheinlich

urteilen, daß die Bedeutung der Psychoanalyse als Wissenschaft des Unbe-

wußten ihren Wert als Heilmethode weit übertreffe. Aber auch als Wissen-

schaft des Unbewußten ist sie Heilmethode, überindividuelle Heilmethode,

Heilmethode großen Stils. Nehmen Sie es als Dichterutopie, aber alles in

allem ist der Gedanke nicht unsinnig, daß die Auflösung der großen Angst

und des großen Hasses, ihre Überwindung durch Herstellung eines ironisch-

künstlerischen und dabei nicht notwendigerweise unfrommen Verhältnisses

zum Unbewußten einst als der menschheitliche Heileffekt dieser Wissen-

schaft angesprochen werden könnte.

Die analytische Einsicht ist weltverändernd; ein heiterer Argwohn ist

mit ihr in die Welt gesetzt, ein entlarvender Verdacht die Verstecktheiten und

Machenschaften der Seele betreffend, welcher, einmal geweckt, nie wieder

daraus verschwinden kann. Er infiltriert das Leben, untergräbt seine rohe

Naivität, nimmt ihm das Pathos der Unwissenheit, betreibt seine Entpathe-

tisierung, indem er zum Geschmack am »understatement« erzieht, wie die

Engländer sagen, zum lieber untertreibenden als übertreibenden Ausdruck,

zur Kultur des mittleren, unaufgeblasenen Wortes, das seine Kraft im Mäßi-

gen sucht ... Bescheidenheit vergessen wir nicht, daß sie von Bescheid wis-

sen kommt, daß ursprünglich das Wort diesen Sinn führte und erst über ihn

den zweiten von modestia, moderatio angenommen hat. Bescheidenheit aus

Bescheid wissen nehmen wir an, daß das die Grundstimmung der heiter er-

nüchterten Friedenswelt sein wird, die mit herbeizuführen die Wissenschaft

vom Unbewußten berufen sein mag.

Uchtspringer Schriften

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Die Mischung, die in ihr das Pionierhafte mit dem Ärztlichen eingeht,

rechtfertigt solche Hoffnungen. Freud hat seine Traumlehre einmal ein Stück

»wissenschaftlichen Neulandes« genannt, dem Volksglauben und der My-

stik »abgewonnen«. In diesem »abgewonnen« liegt der kolonisatorische

Geist und Sinn seines Forschertums. »Wo Es war, soll Ich werden«, sagt er

epigrammatisch. Und selber nennt er die psychoanalytische Arbeit ein Kultur-

werk, vergleichbar der Trockenlegung der Zuidersee. So fließen uns zum

Schluß die Züge des ehrwürdigen Mannes, den wir feiern, hinüber in die des

greisen Faust, den es drängt, »das herrische Meer vom Ufer auszuschließen,

der feuchten Breite Grenze zu verengen«.

»Eröffn’ ich Räume vielen Millionen,

Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen.

Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn,

Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.«

Es ist das Volk einer angst- und haßbefreiten, zum Frieden gereifte» Zukunft.

Aus: Almanach der Psychoanalyse 1937, S. 22-53.

Uchtspringer Schriften

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Robert Wälder

Die Bedeutung des Werkes Sigm. Freuds für die Sozial- und

Rechtswissenschaften

Zu Sigm. Freuds 80. Geburtstag, 6. Mai 1936

Sigmund Freud ist der Begründer der Psychoanalyse. Seine Beiträge zu die-

sem Wissensgebiet liegen in bisher zwölf Bänden Gesammelter Schriften

vor1). Wir wollen in folgendem mit einigen Bemerkungen über das Wesen der

Psychoanalyse beginnen, um sodann ihre möglichen Anwendungen in Sozi-

alwissenschaften und Rechtswissenschaften zu skizzieren.

I. Vom Wesen der Psychoanalyse

Die Psychoanalyse wurde ursprünglich als ein Verfahren zur Behandlung

hysterisch Erkrankter entdeckt. Sehr bald verstand man unter dem Wort zwei-

erlei: die Methode und die mit ihr gewonnenen Resultate; unter der Methode

verstand man sowohl eine Untersuchungsmethode als auch ein Heilverfah-

ren. Es liegt im Wesen der Psychoanalyse, daß diese beiden Dinge, Untersu-

chungsverfahren und Heilverfahren, weitgehend zusammenfallen.

Von diesem ihrem Ausgangspunkt aus, der Behandlung von Hysteri-

en, ist die Psychoanalyse zu einem System der normalen und pathologischen

Psychologie überhaupt geworden. Es wäre gewiß auch denkbar, daß sie bei

der Beschäftigung mit normal-psychologischen Problemen gefunden wor-

den wäre. Es gilt hier etwas ähnliches wie für die Entdeckung der Elektrizität

durch die Froschschenkelexperimente Galvanis; für die Elektrizitätslehre ist

es nicht wesentlich, daß sie im Verlauf biologischer Versuche geboren wurde.

Die Methode. Die Psychoanalyse verfolgt in der Untersuchung des

menschlichen Seelenlebens eine bestimmte Methode. Diese Methode klingt

einfach und beinahe selbstverständlich. Es wird mit der Versuchsperson, wie

man in der Sprache der Experimentalpsychologie sagen würde, oder mit dem

Analysanden, wie man in der Psychoanalyse zu sagen pflegt, ein Überein-

kommen geschlossen: er wird darauf verpflichtet, während der Analyse, der

in der Regel eine Stunde täglich gewidmet wird, den ganzen Inhalt seines

Erlebnisstromes auszusprechen, gleichsam laut zu denken. Er verpflichtet

sich damit zur Befolgung einer Regel, alles, was in ihm vorgeht, Gedanken

und Einfälle, Impulse und Affekte, unterschiedslos in der Form auszuspre-

chen, wie es ihm einfällt, d. h. alle bewußten Auswahlprinzipien des Denkens

(z. B. Zugehörigkeit zu einem bestimmten Thema, ästhetische oder ethische

Prinzipien, Relevanzkriterien aller Art) auszuschalten. Dem Impuls zur Unter-

drückung eines Gedankens soll der Analysand dementsprechend nicht nach-

Uchtspringer Schriften

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96

geben, diesen Impuls aber, als einen seelischen Vorgang wie jeden anderen,

aussprechen. In der Analysestunde soll so das Ganze des Erlebnisstromes

ausgebreitet werden und dann mit Hilfe des Analytikers untersucht werden.

Dazu gehören selbstverständlich auch die Erzählungen über gegenwärtiges

und vergangenes Leben. Somit unterscheidet sich die Psychoanalyse schon

in ihrem Ansatz sehr wesentlich von anderen Methoden der Psychologie.

Auch bei anderen psychologischen Methoden werden Versuchspersonen

aufgefordert, Erlebnisse zu Protokoll zu geben, allein es handelt sich stets um

Ausschnitte aus dem Erlebnis, die von der Versuchsperson selbst unter ge-

wissen, ihr mitgeteilten oder von selbst wirkenden Ziel Vorstellungen ausge-

wählt werden. Der Analytiker dagegen ist bestrebt, die Gesamtheit der seeli-

schen Vorgänge kennenzulernen. Es ist selbstverständlich, daß er dem Be-

nehmen des Analysanden, soweit er es entweder direkt beobachten kann

oder aus den Mitteilungen des Analysanden erfährt, die gleiche Aufmerk-

samkeit widmet. Dieses Verfahren scheint schon durch die wissenschaftliche

Exaktheit gerechtfertigt und geboten; solange man nur einen Ausschnitt des

seelischen Lebens kennenlernt, vermag man nicht zu entscheiden, wieviel

Relevantes dabei draußen bleibt. Die Grundforderung der Analyse ist daher

einfach ein Gebot wissenschaftlicher Vollständigkeit.

Dabei erweist sich sehr bald, daß sich der Analysand zwar, unter

Einsicht der Notwendigkeit, auf diese Regel verpflichtet hat, aber doch nur

sehr angenähert nach ihr handelt. Das ganz bewußte Verschweigen von man-

chen Dingen kommt im Anfang der Analyse vor, aber auch später zeigt es

sich, daß die Befolgung der sogenannten »psychoanalytischen Grundre-

gel« gleichsam nur eine unendliche Idee ist und daß in praxi immer wieder

Gedanken übersprungen, als unwichtig nicht ausgesprochen werden, daß

gewisse Dinge, die den Analysanden sehr beschäftigen, ihm gerade in der

Analysenstunde nicht einfallen, u. dgl. m. Es ist nun Aufgabe des Analyti-

kers, gleichsam zu erraten, an welchen Stellen die Regel der Analyse nicht

befolgt ist, um die Kräfte zu verstehen, die hier dem Vorsatz des Analysanden

entgegenwirken. Durch den Versuch, jeweils diese Gegenkräfte zu erfassen,

sich über ihre Motive klar zu werden, schreitet die Analyse allmählich vor-

wärts und begegnet dabei sehr bald den Konflikten des Menschen und den

Lösungsversuchen, die er sich in diesen Konflikten aufgebaut hat. Das Un-

bewußte. Der wichtigste Grundgedanke der Psychoanalyse ist dabei der, daß

gleichsam nur ein Teil der seelischen Vorgänge normalerweise ins Bewußt-

sein ragt, daß ein großer Teil unbewußt abläuft und daß die bewußten Vor-

gänge jeweils Fragmente, oder richtiger gesagt, Ellipsen mit ausgefallenen

Zwischengliedern sind. Es gilt, den vollständigen Gedankengang herzustel-

len, der zu einem System von Tendenzen und Gegentendenzen, von innerer

Rede und Gegenrede führt.

Uchtspringer Schriften

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Das Modell der psychischen Persönlichkeit. Aus außerordentlich zahl-

reichen Einzeluntersuchungen hat sich dabei ein Modell der seelischen Vor-

gänge ergeben, gleichsam ein Rahmen, in den dann die zahlreichen Einzel-

vorgänge eingetragen werden können. Die Psychoanalyse hat zu einem drei-

teiligen Modell des menschlichen Verhaltens geführt. Wir unterscheiden drei

Systeme oder Schichten der menschlichen Persönlichkeit, die als Es, Ich und

Über-Ich bezeichnet werden.

Wir verstehen unter dem Es das menschliche Triebleben. Trieb wird

von Freud definiert als ein »Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somali-

schem, ... als ein Maß der Arbeitsanforderung, die dem Seelischen zufolge

seines Zusammenhanges mit dem Körperlichen auferlegtist.«2 Mit den Trie-

ben taucht der Mensch gleichsam ins Biologische ein.

Das Ich bezeichnet die zentrale Steuerung des Organismus. Es ist

sozusagen das Zentrum der Persönlichkeit, das, was wir eigentlich meinen,

wenn wir »ich« sagen. Es ist jener Teil der Persönlichkeit, der Kontakt mit der

Außenwelt hat und die Funktion der Realitätsprüfung entwickelt (der Prü-

fung, ob etwas real ist oder nicht). Dem Ich kommt weiters die Funktion der

»Antizipation« des Zukünftigen zu: die Folgen einer jetzigen Handlungswei-

se in der Zukunft werden in schwächeren Dosen antizipiert und beeinflussen

damit mein jetziges Handeln. Auf diese Weise wird das für die Triebe gelten-

de Lustprinzip zum Realitätsprinzip modifiziert3. Zu dieser Antizipation ge-

hört die Angst, die in der Gefahr auftritt, als Vorwegnahme der zu gewärtigen-

den Katastrophe in minimaler Dosis; hiedurch wird eine biologische Funkti-

on erfüllt, da das Handeln des Menschen durch diese Antizipation so modi-

fiziert wird, daß er das Eintreten der Katastrophe zu vermeiden vermag. Die

Angst wirkt somit nach Art einer Impfung, in der auch eine abgeschwächte

Dosis der Krankheit gegen die Krankheit immunisieren soll. Durchaus ähn-

lich ist auch der Vorgang beim Denken, das von Freud als eine Art von

Probehandeln mit mikroskopisch kleinen Dosen beschrieben wird; Ȋhnlich

wie die Verschiebung kleiner Figuren auf der Landkarte, ehe der Feldherr

seine Truppenmassen in Bewegung setzt«.4

Außer dem Kontakt mit der Realität und der Funktion der Antizipation

kommt dem Ich die Funktion der Verarbeitung zu, alles, was Methode ist. Wir

werden später darauf zurückkommen.

Die dritte Instanz ist schließlich das Über-Ich. Es umfaßt die inneren

Normen des Menschen. Allgemein gesprochen, handelt es sich um eine Art

Stufenbildung im Ich, um eine Stelle, in der der Mensch sich selbst zum

Gegenstand nimmt: kritisch-strafend (etwa im Gewissen) oder tröstend (wie

etwa beim wahrhaften Humoristen) oder emotionell-neutral (in der Selbst-

beobachtung, in der Ausschaltung des eigenen Standortes; hierher gehört,

Uchtspringer Schriften

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98

was die Philosophen transcendentales ego nennen). Somit fließt das Über-

Ich zusammen mit dem, was die philosophische Anthropologie als Wesen

des Menschen gegenüber dem Tierreich abgrenzt.

Das Ich des Menschen steht nun jeweils vor einer Anzahl von Aufga-

ben. Einerseits werden ihm Aufgaben von den Trieben gestellt, die Befriedi-

gung erheischen. Sodann trägt die Realität in jedem Augenblick Anforderun-

gen an den Menschen heran. Ebenso meldet sich das Über-Ich mit seinen

Anforderungen, die für das Ich gleichfalls den Charakter der Aufgabe haben.

Schließlich, viertens, stellt das Ich sich selbst Aufgaben; es ist nicht bloß der

Diener dieser Nicht-Ich-Instanzen (Es, Über-Ich, Außenwelt), sondern stellt

sich selbst die Aufgabe, diese Welten allmählich in seine Gewalt zu bekom-

men, von sich aus zu steuern.

Diese Aufgaben sind in sich widersprechend. Es scheint nun ein Ge-

setz zu sein, daß das menschliche Ich bestrebt ist, in jedem Augenblick einen

Lösungsversuch zu finden, der mehr oder weniger, schlecht oder recht, die-

sen vielfältigen Aufgaben gerecht wird. In idealer Weise ist das natürlich

unmöglich; es werden stets in einem Akt einige Aufgaben besser gelöst sein

als andere. Dies scheint die Grundlage für die Unrast des menschlichen Da-

seins zu sein, für ein Stück Leiden also, aber auch ein Motor für das ewige

menschliche Streben.

In dieser seiner Tätigkeit, Lösungen für die vielfältigen und widerspruchs-

vollen Aufgaben zu finden, entwickelt nun das Ich eine große Zahl von

Lösungsversuchen oder Lösungsmethoden. Wir schließen damit an den zu-

vor fallen gelassenen Gedanken an, daß alles, was Verarbeitung oder Metho-

de im Seelenleben ist, zum Ich gehört.

Das Ich macht nun einen ungeheuren Entwicklungsweg durch, und

zwar mit jeder seiner Funktionen. Der Kontakt mit der Außenwelt entwickelt

sich von den ersten Tagen immer weiter und geht durch Phasen mythischen

und magischen Denkens zu dem Maße von Realbeziehung, das schließlich

erreicht wird. Die Antizipation des Künftigen entwickelt sich, das gereifte Ich

spannt immer weitere Bogen in die Zukunft hinein. Die Verarbeitungs-

methoden schließlich machen eine Entwicklung durch von den primitiven

Methoden des unreifen Ichs zu den aufgabeadäquaten des gereiften5 Ichs.

Zu den primitiven Lösungsmethoden des unreifen Ichs gehören verschiede-

ne Verhaltungsweisen; eines der einfachsten Beispiele ist das Verhalten ge-

genüber der Gefahr. Es wäre ein Verfahren des zur vollen Reife gelangten

Ichs, die Gefahr in ihrem richtigen Ausmaß einzuschätzen, sie weder zu über-

schätzen noch zu unterschätzen und die zweckmäßigen Mittel anzuwenden,

um ihr zu begegnen. Diesen Zustand der Reifung scheinen nicht allzuviele

Menschen zu erreichen; die Reaktion des primitiven Ichs, wie sie jedenfalls

Uchtspringer Schriften

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99

in der Kindheit vorherrschend ist, ist nicht so. Die Gefahr wird entweder

grotesk überschätzt und es werden übertriebene Maßnahmen zu ihrer Ver-

meidung getroffen oder die Gefahr wird verleugnet oder die Mittel, die zu

ihrer Vermeidung gewählt werden, sind inadäquat. Hierher gehören alle magi-

schen Mittel, sich vor der Gefahr zu schützen; gehören die Einschränkungen

menschlicher Möglichkeiten, die in der Regel der Kaufpreis sind für die An-

passung an die Realität, die die Erziehung dem Kind gegenüber vertritt. Der

Reichtum dieser primitiven Methoden ist geradezu ungeheuer.

Wir haben also im Ich die primitiven Verfahrensweisen und Lösungs-

methoden des primitiven Ichs und die sachadäquaten des gereiften Ichs zu

unterscheiden. Der Terminus »reifes Ich« enthält an und für sich noch keine

Wertung. Er entspricht nur dem Sachverhalt, daß in der Entwicklung des

Individuums das Ich in der Kindheit gewisse Stufen, z. B. der Magie, durch-

läuft und daß diese Reaktionen mit der Erreichung des Erwachsenenalters

zum großen Teil abgebaut und insoweit durch andere ersetzt werden. Es

steht natürlich frei, die kindlichen Strukturen höher und die Reife als Verfall

zu werten. Freilich steht eine solche Wertung in Widerspruch zu der Wertung

»Leben soll sein«, da, wie sich leicht zeigen läßt, eine Gesellschaft, in der sich

alle Menschen nur auf Grund der primitiven Methoden des Ichs verhalten,

unrettbar zugrundegehen müßte. Im übrigen darf man wünschen, daß eine

solche Weltanschauung auf terminologische Tarnung verzichte und konse-

quent Erwachsensein mit negativem Wertakzent versehe. Es gibt nun ver-

schiedene Motivationen des menschlichen Handelns, je nachdem, welche

Aufgaben von den Trieben, von der Außenwelt, vom Über-Ich und vom Ich

her gestellt sind, je nach den Lösungsmethoden und je nachdem, wieweit

diese einzelnen Aufgaben in jedem Akt gelöst werden, sonach je nach Inhalt

und Struktur von Es, Ich und Über-Ich und nach dem relativen Anteil, den

diese Instanzen an dem psychischen Akt nehmen.

Je nachdem, wieweit in einem Lösungsversuch in der vielfältigen

Aufgabesituation die vierte Aufgabe, die das Ich sich selbst stellt, gelöst

erscheint, sprechen wir von Stärke oder Schwäche des Ichs im seelischen

Haushalt.

All das ist freilich nur ein Rahmen. Hier setzt nun die Einzelforschung

an: das Studium der Triebe, ihre Ziele und Objekte und ihrer Intensität bei

jedem Menschen, ihrer Entwicklung und Schicksale, die besondere Art des

Über-Ichs, seine Inhalte, seine Strenge, den Grad seiner Festigkeit, oder Ab-

hängigkeit von Objekten der Außenwelt, seine Bestechlichkeit oder Unbe-

stechlichkeit, die Lösungsmethoden des Ichs, die Stärke oder Schwäche des

Ichs gegenüber den anderen Instanzen usw. Alle diese Elemente weisen je

nach Konstitution und Umwelteinflüssen eine kaum übersehbare Mannig-

faltigkeit auf.

Uchtspringer Schriften

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100

Die Psychoanalyse zerfällt in zwei Hauptgebiete: in die Trieb-

psychologie, die sich mit der Natur der menschlichen Triebe und mit ihrer

Entwicklung im Lauf des Lebens befaßt, und in die Ichpsychologie, die das

Ich und das Über-Ich erforscht.

Es ist dabei, wesentlich, daß es die Psychoanalyse niemals mit dem

isolierten Individuum zu tun hat. In der vorfreudschen Psychologie wurde im

Grunde immer die Abstraktion des isolierten Individuums studiert; sei es die

frei, schwebende Intelligenz oder das frei schwebende Netzwerk des Geistes

wie in der alten Schulpsychologie; seien es Affekte, die im Laboratorium

künstlich erzeugt werden, mit geringem Bezug zu dem, was die Person eigent-

lich berührt, wie in der neueren Affektpsychologie; sei es das einsam medi-

tierende Individuum wie bei Kierkegaard. Die Psychoanalyse hat es hinge-

gen stets mit dem Menschen in allen seinen sozialen Bezügen zu tun; es sei

nur als Beispiel auf die Wichtigkeit der Familiensituation des Kindes für die

Ausbildung von Verhaltungsstrukturen hingewiesen.

Wertprobleme. Wie aus dieser Skizze zu entnehmen ist, befaßt sich

die Psychoanalyse sonach nur mit den Tatsachen des Seelenlebens; sie nimmt,

als solche, nicht wertend zu ihnen Stellung. Die Psychoanalyse ist bestrebt,

dem Postulat der Ideologiefreiheit in ihrer Wissenschaft Genüge zu leisten.

Ein Stück der Gegnerschaft, die sie gefunden hat, ist darauf zurückzuführen,

daß manche psychoanalytische Erkenntnisse gewisse Ideologien zu bedro-

hen schienen; teils darum, weil diese Ideologien selbst eine Aussage über

Tatsächliches enthalten, teils weil sie eine Erkenntnis gewisser Tatsachen

unerwünscht erscheinen lassen, teils schließlich, weil man, in Mißverständ-

nis der wissenschaftlichen Intentionen der Psychoanalyse, vermutete, die

Psychoanalyse wolle ein Sein für ein Sollen setzen und ihre wissenschaftli-

chen Sätze würden entweder an und für sich oder unter einseitiger und aus-

schließlicher Berufung auf hygienische Zielsetzungen als Weltanschauung

auftreten wollen. Der Psychoanalytiker freilich, der den Kranken behandelt,

steht dabei unter der Norm einer Berufsethik, doch ist diese Norm nicht der

Psychoanalyse entnommen. Freilich scheint eine gewisse Weltanschauung

der praktischen Ausübung der Psychoanalyse besonders nahe zu liegen: es

ist die, die Freud in dem klassischen Satz formuliert hat: »Wo Es war, soll Ich

werden«.6 Es ist die Zielsetzung der Stärke des Ichs innerhalb der psychi-

schen Systeme, die Vorstellung, der Mensch solle mehr leben als gelebt wer-

den und die Notwendigkeiten aus freiem Entschluß auf sich nehmen, d. h.

das Handeln solle wesentlich vom reifen Ich her gesteuert sein und weniger

von den Nicht-Ich-Instanzen oder den Schichten des primitiven Ichs.7

Uchtspringer Schriften

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101

II. Die Bedeutung der Psychoanalyse für die soziologischen Wissenschaf-

ten

Freud vertritt den Standpunkt, daß die Soziologie angewandte Psychologie

sei. Er sagt darüber: »Auch die Soziologie, die vom Verhalten der Menschen

in der Gesellschaft handelt, kann nichts anderes sein als angewandte Psy-

chologie. Streng genommen, gibt es nur zwei Wissenschaften, Psychologie,

reine und angewandte, und Naturkunde«.8

Freuds sozialwissenschaftliche Schriften. Freud hat sich mit sozial-

wissenschaftlichen Fragen zuerst im Jahr 1912 ausführlich auseinanderge-

setzt9, und zwar mit ethnologischen und urgeschichtlichen Problemen. »To-

tem und Tabu« enthält zwei Theorien, eine Theorie der Tabuvorschriften ein

der Psychoanalyse zugängliches Material, die Zwangsneurose, weist gleich-

sam private Tabus auf und einen Erklärungsversuch des Totemismus, eine

urgeschichtliche Hypothese. Während des Krieges erschien ein Beitrag, der

den Problemen des Sterbens und Tötens gewidmet war10, mit vielen Ausblik-

ken auf Kulturprobleme. Das Jahr 1921 brachte das Werk über Massen-

psychologie.11 Die Kulturprobleme traten nunmehr in Freuds Schaffen im-

mer wieder in den Vordergrund. Eine Schrift befaßt sich mit den psychologi-

schen Grundlagen des religiösen Glaubens12 . Eine spätere Schrift erörtert

das Problem der kulturellen Schicksale des menschlichen Aggressionstriebes

und den wachsenden inneren Druck, der eine Folge der kulturellen Absper-

rung seiner Befriedigungsmöglichkeiten nach außen ist13 . Schließlich hat

Freud auch zum Problem der Psychologie von Krieg und Frieden in einem

Briefwechsel mit Albert Einstein Stellung genommen, der über Veranlassung

des Institut International de Cooperation Intellectuelle zustandegekommen

ist14 .Die Psychologie in der Soziologie. Die Frage des Verhältnisses von

Soziologie und Psychologie kann im Rahmen dieser Arbeit nicht in voller

Ausführlichkeit erörtert werden; wir müssen uns auf einige Hinweise be-

schränken. Die Psychoanalyse ist eine empirische Wissenschaft vom mensch-

lichen Verhalten; die Soziologie hat es in ultima analyst mit diesem Verhalten

zu tun15 . Das ist Grundlage für die Forderung Freuds, die Soziologie auf

diese Psychologie zu begründen. Das steht in Widerspruch zu den meisten

landläufigen Abgrenzungen der Wissenschaftsgebiete, die der Psychologie

allenfalls einen gewissen Einfluß auf die Behandlung soziologischer Frage-

stellungen einräumen wollen, im übrigen aber am autonomen Charakter der

soziologischen Wissenschaft gegenüber der Psychologie festhalten. Man

weist darauf hin, daß man es in der Soziologie durchgängig mit Gruppen und

nicht mit Individuen zu tun hat. Die scharfe Scheidung zwischen der Wissen-

Uchtspringer Schriften

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102

schaft von der Gruppe und der Wissenschaft vom Individuum geht nun auf

eine Zeit zurück, da sich die Psychologie mit dem isolierten Individuum be-

schäftigte. Von diesem Abstraktionsgebilde führt nun freilich kein Weg zu

Gruppenphänomenen, weder durch Summation noch durch Integration. Im

Hinblick auf diese Psychologie ihrer Zeit hat z. B. die Durckheimsche Schule

alle Gruppenerscheinungen in den Bereich der Soziologie gewiesen. Die Lage

der Psychoanalyse ist grundsätzlich verschieden: sie beschäftigt sich nicht

mit der Abstraktion des isolierten Individuums, sondern mit dem konkreten

Menschen in all seinen sozialen Bezügen. Der Unterschied zwischen Psy-

chologie und Soziologie erscheint im psychoanalytischen Studium des Indi-

viduums aufgehoben. Man könnte auch von der Soziologie des Individuums

sprechen. Die so gewonnenen Einsichten über das Individuum in seinem

sozialen Feld sind dann auch für das Verständnis von Gruppenphänomenen

brauchbar.

Ähnliches gilt von einer anderen Erwägung, die finden autonomen Charakter

der Soziologie ins Treffen geführt wird: daß die Soziologie mit gewissen

Kategorien die Psychologie transzendiere, wie z. B. der Kategorie der Institu-

tion, der Beziehung zu Wertproblemen u. dgl. m. Aber diese Problematik ist

auch in der Psychoanalyse des Individuums voll gegenwärtig. Schließlich

beschränkt sich die Psychoanalyse auch keineswegs auf intramentale Er-

scheinungen. Eine Teilung des menschlichen Verhaltens in der Weise, daß

die intramentale Seite einer Wissenschaft und die soziale einer anderen zuge-

wiesen wird, ist eine durchaus künstliche und müßte die Entstehung einer

wirklichen Wissenschaft vom menschlichen Verhalten geradezu verhindern.

Gesetze in der Soziologie. Als Beispiel für ein Problem, das, wie es

scheint, von der Psychoanalyse her gefördert werden kann, sei das der

Gesetzesbildung in der Soziologie genannt. Wenn die Psychologie im Sinn

des früher Gesagten als Grundwissenschaft der Soziologie anerkannt wird,

so ist das für die Gesetzmäßigkeit in der Psychoanalyse Geltende auch für die

Frage der Gesetzesbildung in der Soziologie anwendbar.

Wir wissen, daß es in der Psychologie nicht so ist wie in der Physik;

es gibt nur selten einen Fall, in dem wir sagen können, daß in einer bestimm-

ten Situation eine und nur diese Reaktion eintreten müsse. Zumeist muß man

sich bescheiden sagen, daß in einer gegebenen Situation eine von mehreren

Möglichkeiten eintreten werde, die größere oder geringere Wahrscheinlich-

keit haben. Dementsprechend sind auch im allgemeinen Gesetze von der Art

der physikalischen, nach denen einem Zustand in der Zeit t ein Zustand in

der Zeit t-f eindeutig zugeordnet wird, auf dem Gebiet menschlichen Verhal-

tens nicht oft anzutreffen. Wir haben in der Psychoanalyse vielmehr gewisse

Regelmäßigkeiten, ferner Zuordnungen mehrerer Lösungsversuche zu ei-

nem bestimmten Zustand aufstellen können.

Uchtspringer Schriften

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103

Aber damit hat es nicht sein Bewenden. Man hat in der Psychoanaly-

se die Erfahrung gemacht, daß zwar im allgemeinen eindeutige Zuordnungen

des folgenden Zustandes zu dem gegenwärtigen nicht möglich sind, daß es

aber bestimmte Fälle gibt, in denen man dennoch bündige Gesetzmäßigkei-

ten menschlichen Verhaltens aufstellen kann; dann ist das Verhalten auch

prognostizierbar. An Hand des vorher skizzierten Modells der psychischen

Persönlichkeit sind diese Fälle genau angebbar.

Einmal handelt es sich um jene Fälle, in denen das Verhalten nur vom

reifen Ich her gesteuert ist. Dann handelt der Mensch entsprechend den

Notwendigkeiten der Sache und die Gesetze der Sache gelten für sein Han-

deln. Wenn dann diese Gesetze der Sache die Notwendigkeiten der

Sachstruktur bündig sind, ist sein Verhalten auch voraussagbar. Hierher ge-

hört etwa das wirtschaftliche Handeln, mit dem es die Nationalökonomie zu

tun hat; ferner das Verhalten eines Menschen, der eine mathematische Auf-

gabe zu lösen hat und mit den dazu einzuschlagenden Wegen vertraut ist,

oder das eines Ingenieurs vor einer technischen Aufgabe, deren Lösung ihm

bekannt ist. Des weiteren gehört hierher, was durch die Sitte geregelt ist; so

kann man etwa voraussagen, daß ein normaler Mensch in unseren Regionen

beim Betreten der Kirche den Hut abnehmen wird.

Andererseits gibt es Gesetzmäßigkeiten im menschlichen Verhalten

unter extrem entgegengesetzten Bedingungen. Wir meinen jene Fälle, in de-

nen die Steuerung vom reifen Ich her praktisch vollständig ausgeschaltet ist

und das Handeln daher ausschließlich von biologischen Kräften (Trieben)

und den primitiven Lösungsmethoden des unreifen Ichs gesteuert ist. Das

ist die Grundlage für die Tatsache, daß man eine Prognose bei Geisteskrank-

heiten stellen kann. Aber diese Ausschaltung der Steuerungstendenzen des

reifen Ichs tritt nicht nur im Pathologischen auf; in der Normalpsychologie

gehört hierher etwa das Verhalten der Menschen in der Massensituation, die

auch einer temporären Stillegung der Ich-Steuerung gleichkommt. Eine Vor-

aussage des Verhaltens ist dann in jenen Fällen möglich, in denen die

Steuerungstendenzen durch die primitiven Kräfte im Menschen, d.h. durch

das Es und die Lösungsmethoden des primitiven Ichs, bündig sind und ein

eindeutiges Verhalten erheischen.

Menschliches Verhalten ist sonach Gesetzen unterworfen und vor-

aussagbar, wenn der Reichtum der Determinanten des menschlichen Verhal-

tens verringert ist, entweder auf nichts als Vernunft oder auf nichts als Allzu-

menschliches; erst im Wechselspiel beider verliert sich die Gesetzmäßigkeit.

Die zweite Bedingung der Gesetzmäßigkeit ist dann die, daß jene Determi-

nanten, auf die menschliches Verhalten reduziert ist, eindeutige Lösungen

erheischen, d. h. bei der Reduktion auf Sachstruktur, daß eben diese

Uchtspringer Schriften

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104

Sachstrukturen bündig sind und nur eine Lösung zulassen, und bei der Re-

duktion auf biologische Kräfte, daß diese ein bestimmtes Verhalten erfor-

dern. Daß dies tatsächlich alle Fälle umfaßt, in denen eine Voraussage künf-

tigen Verhaltens möglich ist, scheint aus einer einfachen Besinnung ersicht-

lich. Man kann zeigen, daß in all jenen Fällen, in denen wir versuchen, das

Verhalten eines handelnden Menschen vorauszusagen, wir entweder von

der einen oder von der anderen Voraussetzung ausgehen. Wir nehmen ent-

weder an, daß der Mensch tun wird, was in seiner Situation notwendig ist,

und suchen aus diesen Notwendigkeiten seine künftigen Entscheidungen

vorauszusagen; oder wir nehmen an, daß er von Trieben und Reaktions-

weisen geleitet ist, die sich über alle Grenzen hinwegsetzen, und versuchen,

von hier aus zu einer Voraussage zu kommen16 .

Wendet man nun diese Einsicht auf die Probleme der Soziologie an,

so glaubt man zu verstehen, warum sich gerade an den beiden extremen

Enden der Sozialwissenschaften ihre einzigen Gesetzeswissenschaften ent-

wickelt haben: die Nationalökonomie und die Massenpsychologie.

Der extreme Fall der Reduktion der Bestimmungsstücke menschlichen

Verhaltens kommt wahrscheinlich nur selten vor. Doch gibt es eine große

Zahl von Situationen, die diesen Grenzfällen nahekommen, und man muß

darum nicht allzu pessimistisch von der Entwicklung soziologischer Gesetze

denken.

Die Massenpsychologie. Während nun die meisten Probleme der So-

ziologie auf psychoanalytischer Grundlage noch ihrer systematischen Bear-

beitung harren, liegt in der Massenpsychologie Freuds bereits eine Reihe

durchgearbeiteter Erkenntnisse vor. Die Massenpsychologie scheint von

großer Wichtigkeit für die Soziologie. Man muß dabei nicht nur an die Psy-

chologie des Mobs und der sonstigen transitorischen Massenbildungen

denken; bis zu einem gewissen Grad hat man es bei allen Gruppenbildungen,

auch den stabilsten, auch den hochgewerteten, mit Massensituationen zu

tun. Darin liegt die Bedeutung der Massenpsychologie für Fragen der

Gemeinschaftsbildung, z. B. für die Staatswissenschaften.

Der Grundgedanke der Freudschen Massenpsychologie ist der fol-

gende: Der Mensch in der Masse hat sein Überich zum größeren oder gerin-

geren Teil ausgeschaltet und an seine Stelle den Führer der Masse gestellt.

(Dieser Führer mag nun eine Gestalt aus Fleisch und Blut sein, eine mythi-

sche Gestalt, ein Gott, oder, in der sublimsten Ausformung, eine Idee.) Die

Norm des Handelns kommt nun vom Führer. Auf Grund dieses Prozesses der

Projektion des Über-Ichs auf eine Instanz der Außenwelt, der allen Mitglie-

dern der Masse gemeinsam ist, findet eine Identifizierung unter den Massen-

mitgliedern und ein Stück Liebesbindung zwischen ihnen statt.

Uchtspringer Schriften

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105

Die Abtretung des Über-Ichs an den Führer erklärt, warum das Wort

des Führers an die Stelle tritt, an der beim Menschen außerhalb der Massen-

situation sein Über-Ich steht; man glaubt zu verstehen, warum Massen oft

um so vieles grausamer sind als die einzelnen Menschen, die zu ihnen gehö-

ren, aber auch, warum sie zu Opfern und Leistungen fähig sind, die die Einzel-

nen nicht erbringen.

Da die Norm des Handelns vom Führer kommt, wirkt er zugleich als

Angstschutz in der Gefahr. Der Einzelne außerhalb der Masse trifft Vorkeh-

rungen für seine Sicherheit, je nach seinem Mut oder seiner Ängstlichkeit;

die Zustimmung seines Über-Ichs zu seinem Handeln trägt bei zur Beschwich-

tigung allfälliger Angst. Eine Masse hingegen geht, solange Vertrauen zum

Führer besteht, angstfrei in die Gefahrsituation. Wenn nun der Führer weg-

fällt, ohne daß sofort ein neuer Führer an seine Stelle tritt, so löst sich die

Masse in einen Haufen von Individuen auf; wenn das in einer Gefahrsituation

geschieht, so bricht die Angst als Panik aus. Wenn der Führer die Geführten

nicht zu schützen vermag, sonach als Angstschutz versagt, so ist die Führer-

rolle verspielt und das Massengebilde löst sich auf17. Auch die Störung der

Realitätsprüfung in der Masse wird erklärbar. Einerseits findt in der Massen-

situation eine Spaltung der beiden Grundtriebe des menschlichen Es, Liebe

und Haß, statt, derart, daß alle positiven Regungen den Mitgliedern der

Gemeinschaft und alle negativen den Außenstehenden zugewendet werden,

während der Einzelne außerhalb der Masse seine Neigungen und Abneigun-

gen diffus unter die Menschen verteilt, so daß nahezu jedermann Objekt

beider Regungen wird. Auf dem Boden der Ausschließlichkeit der Liebe für

die Mitglieder der Gemeinschaft und der Ausschließlichkeit der Abneigung

für die Außenstehenden wächst die Trübung der Realitätsprüfung. Hierzu

kommt ein zweites: Das Über-Ich erfüllt eine Leistung für die Realitätsprüfung,

denn es vollzieht durch die Selbstbeobachtung die ständige Scheidung zwi-

schen dem, was zu mir gehört, und dem, was nicht zu mir gehört, zwischen

Phantasie und Realität. Die temporäre Ausschaltung der Über-Ich-Funktion

muß daher auch die Realitätsprüfung beeinträchtigen. Hierher gehört auch,

daß in der Masse das magische und mythische Denken ansteigt, das durch

die anwachsende Über-Ich-Funktion überwunden wurde

18. Beide erörterte

Umstände, die in diesen Fällen den Zerfall der Masse eingeleitet. Man ver-

steht, warum gewisse da und dort versuchte Analogieschlüsse auf Staaten

mit Siegermentalität unrichtig gewesen sind, und darf vermuten, daß sie so

lang unrichtig bleiben werden, als nicht auch in diesen Ländern aus irgend-

welchen Gründen ein Zerfall des Massengebildes eintritt. Die ursprüngliche

mythische Vorstellung ist, daß alles Weiterleben der Seele nach dem Tode der

Fortdauer des materiellen Substrates bedarf. Alle Sorge um die Seele des

Uchtspringer Schriften

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106

Toten muß sich daher in erster Linie der Erhaltung der Mumie zuwenden.

Später entwickelt sich eine andere Idee: Das Schicksal der Seele hängt von

ausschließliche Zuwendung der erotischen Regungen zu einer Gruppe von

Objekten und der aggressiven Regungen zu den übrigen Objekten, sowie die

partielle Übertragung der Über-Ich-Funktion auf eine Gestalt der Außenwelt

wirken so zusammen, um die Störung der Realitätsprüfung entstehen zu las-

sen19.Probleme der Gemeinschaftsbildung. Dies sind nur einige fragmenta-

rische Andeutungen über die psychoanalytische Massenpsychologie und

ihre Wichtigkeit für die Erforschung sozialer Phänomene. In engem Zusam-

menhang damit sei auch eine andere Frage gestreift. Es scheint ein ewiges

Problem der Menschheit zu sein, wie die Menschen zum Gemeinschaftsleben

zu bringen sind. Es gibt zwar in der menschlichen Natur Tendenzen, die sie

immer zur Gemeinschaft hinführen, aber viele Regungen des menschlichen

Wesens widerstreben dem Gemeinschaftsleben, durch das den Trieben des

Individuums ständig Verzichte auferlegt werden. Der reife Mensch ist gewiß

bereit, aus der Einsicht in ihre Notwendigkeit Einschränkungen durch das

Gemeinschaftsleben aus freiem Entschluß auf sich zu nehmen. Wäre bei allen

Menschen innerhalb der psychischen Instanzen das reife Ich hinlänglich

stark und führend gegenüber den anderen Instanzen, so wäre die Sicherung

eines befriedigenden Gemeinschaftslebens kaum ein Problem. Die ganze

Schwere des Problems scheint aber nun darin zu bestehen, daß die Kraft

dieses reifen Ichs bei der weitaus überwiegenden Zahl der Menschen viel zu

gering ist und daß es daher anderer Mittel bedarf, um sie sozial zu machen. Es

muß daher ein Appell an andere Schichten versucht werden:, an das Trieble-

ben, indem ihnen triebhafte Befriedigung geboten wird (z. B. durch Zulas-

sung der Aggression gegen Unterworfene); an die Angst; an das Über-Ich,

indem man versucht, die Gebote der Gemeinschaft zu einem zwanghaft wir-

kenden, der Beeinflussung durch das Ich entzogenen Regulativ zu machen;

und schließlich an die primitiven Arbeitsweisen des Ichs (durch magische

und mythische Gehalte). Es scheint, als ließen sich die großen Probleme der

Gemeinschaftsbildung aus der Unfruchtbarkeit jener Bemühungen verste-

hen, die Gemeinschaft bei einer hinlänglich großen Zahl von Menschen durch

den Entschluß eines reifen Ichs zu sichern21 . Eine verhältnismäßig lange

Wirksamkeit scheinen jene gesellschaftlichen Systeme zu haben, bei denen

mehrere oder alle »nicht-ichhaften« Appelle zur Anwendung gelangen.

III. Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Rechtswissenschaften

Aus dem Umstand, daß die Psychoanalyse eine Tatsachenwissen-schaft ist,

ergibt sich, daß sie auf dem Gebiet der Rechtswissenschaften nur zu einem

Uchtspringer Schriften

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107

Teil der Problematik beitragen kann. Die Ergebnisse der Psychoanalyse ha-

ben offenbar keine Anwendung für die Frage der Geltung oder Wünschbarkeit

einer Norm oder für die Zuordnung eines Einzelfalles zu dem Geltungsbe-

reich einer Norm. Die Psychoanalyse kann zu allen Tatsachenproblemen der

Rechtswissenschaften Aussagen machen, ihre Beiträge sind daher solche

zur Rechtssoziologie. So mag sie etwa zur Beurteilung der Frage herangezo-

gen werden, welches die Psychologie der Normsetzung ist, oder welche

Maßnahmen praktisch geeignet erscheinen, der Realisierung einer Norm för-

derlich zu sein, welches die Wirkungen getroffener Maßnahmen sind, u. dgl.

m. Im folgenden sei versucht, das mögliche Anwendungsgebiet der Psycho-

analyse am Beispiel der Strafrechts Wissenschaft zu demonstrieren. Die Psy-

choanalyse wird hier über die Psychologie aller Figuren des strafrechtlichen

Vorgangs Aussagen machen können, über die Psychologie des Gesetzge-

bers, über die des Verbrechers oder seines Opfers, über die des Richters, des

Anwalts oder des Publikums. Sie wird ferner für die Frage heranzuziehen

sein, welche Mittel geeignet erscheinen, um ein bestimmtes Ziel der Strafge-

setzgebung zu erreichen; und sie wird schließlich nicht außer acht bleiben

dürfen, wenn es gilt zu untersuchen, welche Wirkungen die getroffenen

Maßnahmen neben den angestrebten haben.

Es sei hier das Beispiel der Generalprävention herausgegriffen. Ist die

Strafe geeignet, die Wahrscheinlichkeit von Verbrechen zu vermindern? Wer

das ohne weiteres bejaht, macht sich ein bestimmtes Bild über die psycholo-

gische Entstehung der kriminellen Handlung, dessen Richtigkeit erst zu prü-

fen ist. Wäre der rechtsbrecherische Akt ausschließlich vom Ich her gesteu-

ert, so würde die Drohung der Strafe ein wichtiges Gegenmotiv der verbre-

cherischen Tat bilden, vorausgesetzt, daß der Täter mit seiner Entdeckung

rechnet und Grund hat, an die Anwendung des Gesetzes zu glauben, voraus-

gesetzt also, daß die Strafdrohung im potentiellen Täter die Furcht vor Strafe

erregt. Je schwerer die Strafe wäre, desto geeigneter müßte sie dann für die

Abschreckung von Verbrechen sein. Aber es gibt Fälle, in denen die Straf-

drohung keinen Einfluß auf das Entstehen der verbrecherischen Tat ausübt:

wenn der Täter nicht an die Anwendung der Strafe glaubt oder hofft, verbor-

gen zu bleiben; ferner in allen jenen Fällen, in denen die Tat nicht unter

Steuerung vom Ich her entspringt, sondern unter einer anderen Gewichts-

verteilung zwischen den psychischen Instanzen entsteht. Dies wäre etwa

der Fall bei jenen verbrecherischen Handlungen, die unter der Übermacht

des Triebes entstehen; diese Übermacht ist relativ gegenüber dem Ich zu

verstehen und kann sowohl durch eine besondere Stärke oder Steigerung

des Triebes als auch durch eine Schwäche des Ichs hergestellt werden. Fer-

ner ist solcher Taten zu gedenken, die unter dem wesentlichen Einfluß einer

Uchtspringer Schriften

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108

Über-Ich-Forderung geschehen, wie z. B. der Vollzug der Blutrache in Län-

dern, in denen dies als unabdingbares Gebot der Ehre gilt. Viele revolutionäre

Handlungen gehören hierher, aber auch solche, die unter dem Einfluß einer

Kastenmoral der Verbrecherschicht entstehen, u. dgl. m. Ferner sind jene

Taten zu erwähnen, für welche primitive Ich-Mechanismen maßgebend sind,

z. B. Verbrechen infolge von Aberglauben. Und schließlich gibt es verbre-

cherische Taten, die aus Angst zustande kommen. In allen diesen Fällen wird

die Gefahr der Strafe eine umso geringere präventive Wirkung ausüben, je

geringer die Rolle des reifen Ichs beim Zustandekommen der Tat gewesen ist.

Wenn dies sonach Beispiele dafür sind, daß die Strafe als Generalprävention

versagt, so gibt es schließlich auch Fälle, in denen, so seltsam das dem

populärpsychologischen Denken erscheinen mag, die Strafdrohung geeig-

net ist, die Wahrscheinlichkeit einer verbrecherischen Handlung zu erhöhen.

Unter den Kriminellen scheint es Psychopathen zu geben, auf die die Strafe

selbst eine geheimnisvolle Anziehung ausübt; es sind dies Menschen, die

die Gefängnismauern wie ein Refugium suchen, ferner Masochisten, die die

Strafe lockt, oder Menschen, die durch ein Schuldgefühl, dessen Quelle ih-

nen unbewußt ist, dazu geleitet werden, sich durch die Tat den Anspruch auf

die ersehnte Strafe zu erwerben21.

Man kann also sagen, daß die Strafe präventiv wirkt für die vom Ich

her gesteuerten kriminellen Handlungen, einen geringen oder gar keinen Ein-

fluß ausübt auf das unter Ausschaltung des Ichs zustandekommende Ver-

brechen und anlockend wirkt auf die Taten jener Psychopathen, die bewußt

oder unbewußt die Strafe suchen. Inwieweit sonach die Strafe im ganzen

präventiv wirkt, hängt von der relativen Häufigkeit dieser Motivationen ab;

dies ist eine rein empirische Frage. Man hat wahrscheinlich Recht, zu vermu-

ten, daß die Zahl der ich-gesteuerten kriminellen Handlungen größer ist als

die Zahl der psychopathischen Verbrechen, mit denen der Täter seiner Be-

strafung zustrebt. Aber die genaue Erforschung all dieser Motivationen für

die einzelnen Delikte ist Aufgabe künftiger psychologischer Untersuchung.

Man ist darauf vorbereitet, daß das Ergebnis bei verschiedenen Verbrechen

ein verschiedenes sein wird und dementsprechend die Strafe bei gewissen

Verbrechen in ganz anderem Maße präventiv wirken wird als bei anderen, z.

B. eine größere präventive Wirkung beim Verbrechen der betrügerischen

Krida als bei Sexualverbrechen ausüben wird. Damit ist freilich nur eine Auf-

gabe skizziert und noch keine Lösung gegeben, aber es scheint uns, daß es

eine wichtige Leistung der Psychoanalyse ist, daß sich diese exakten Frage-

stellungen aus ihr ableiten lassen.

Als weiteres Beispiel für die Rolle, die die Psychoanalyse in der

Strafrechtswissenschaft spielen kann, sei das positivistische Strafrechts-

Uchtspringer Schriften

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109

programm erwähnt, wie es etwa im Ferrischen Strafrechtsentwurf in Italien

vorgelegen ist. Den Vertretern der positivistischen Doktrin scheint es wün-

schenswert, daß die Strafe überhaupt fallen gelassen werden solle und durch

Sicherheitsmaßnahmen zur Selbstverteidigung der Gesellschaft gegen den

Rechtsbruch zu ersetzen wäre. Kriterium für die strafrechtlichen Bestimmun-

gen wäre dementsprechend ihre Zweckmäßigkeit für den Schutz der Gesell-

schaft. Über die Wünschbarkeit dieser Militaristischen Zielsetzung an und

für sich kann die Psychoanalyse natürlich keine Aussagen machen; sie bleibt

wie bei allen Weltanschauungsfragen darauf beschränkt, die Psychologie

dieser Weltanschauung zu untersuchen. Daß sie für die Frage der Zweckmä-

ßigkeit der zum Schutz der Gesellschaft anzuwendenden Mittel wenn das

Ziel einmal feststeht wichtige Auskünfte beitragen kann, muß nach dem Vor-

gesagten nicht weiter begründet werden. Die mögliche Leistung der Psycho-

analyse ist aber nicht auf diesen Beitrag beschränkt. Der Psychoanalytiker

wird auf die Unvollständigkeit hinweisen, die solange in der Behandlung des

Gegenstands vorliegt, als man sich nur mit dem aktuellen oder potentiellen

Rechtsbrecher befaßt. Eine vollständige Lösung der Frage eines zweckmäßi-

gen Schutzes der Gesellschaft wird nicht umhin können, alle Figuren des

strafrechtlichen Vorgangs zu berücksichtigen; zu diesen gehören aber nicht

nur der Verbrecher und die Vertreter der sich ihm gegenüber zur Wehr setzen-

den Gesellschaft, sondern auch das Publikum. Was mit dem Rechtsbrecher

geschieht, ist nicht nur ein Verfahren, das sich an diesem Individuum ab-

spielt, sondern auch ein Verfahren, das seine Rückwirkung auf die große

Masse der Nicht-Kriminellen hat. Die Strafe des Rechtsbrechers erleichtert

es dem »anständigen« Menschen, seine asozialen Impulse zu beherrschen;

denn wenn auch nur im Rechtsbrecher die asozialen Impulse bis zur Tat

reifen, so sind doch solche Impulse an und für sich auch in anderen Men-

schen vorhanden. Das Über-Ich des anständigen Menschen fordert die Be-

strafung des Verbrechers; es scheint, daß jedes Verbrechen auf die Men-

schen wie eine Art von Verführung wirkt, wie ein Anreiz für die eigenen

gleichgerichteten Impulse, und daß erst die Bestrafung des Verbrechers das

damit gestörte seelische Gleichgewicht des ehrenhaften Menschen wieder

herstellt. Hie-zu kommt aber ein zweites: die Bestrafung des Verbrechers ist

gleichzeitig eine erlaubte Befriedigung aggressiver Regungen der Menschen,

und man kann nicht ohne weiteres voraussagen, welche Wirkungen es hätte,

wenn diese Befriedigung fortfiele. Sonach ist die Strafe ein Bestandteil der

seelischen Hygiene für alle, die nicht Verbrecher sind, erleichtert ihnen die

Beherrschung ihrer asozialen Triebe22 und. die Überwindung der verführen-

den Wirkung der verbrecherischen Handlung und ermöglicht ihnen ein Stück

erlaubter aggressiver Triebbefriedigung. Diese Tatsache müßte von einer

Uchtspringer Schriften

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110

vollständigen Untersuchung des positivistischen Programms berücksich-

tigt werden. Das ist nun nichts prinzipiell Neues; in den Erörterungen über

die positivistischen Prinzipien wurde immer wieder darauf hingewiesen, daß

die Strafe überhaupt oder eine bestimmte Strafe vom »Rechtsbewußtsein

des Volkes« gefordert werde, daß die Volksstimmung der Abschaffung der

Strafe nicht günstig sei u. dgl. m. In allen diesen Argumenten verbirgt sich,

was wir als die Rolle der Strafe für die psychische Hygiene des Nicht-Verbre-

chers bezeichnen möchten. Wenn also eine vorwissenschaftliche oder po-

pulär-psychologische Einsicht in diese Fragen besteht, so darf doch von der

psychoanalytischen Untersuchung der Probleme an Hand empirischer For-

schung eine Förderung erwartet werden.

Schließlich seien noch als letztes Beispiel für mögliche Anwendun-

gen der Psychoanalyse in der Rechtswissenschaft die Begriffe der Unzu-

rechnungsfähigkeit, beziehungsweise der verminderten Zurechnungsfähig-

keit genannt. Die nicht-psychiatrische Öffentlichkeit ist geneigt zu glauben,

daß es sich dabei um feststehende und psychiatrisch klar definierte Begriffe,

gleichsam um Entitäten handle, und richtet ihre Kritik daher nicht selten

gegen die schwankenden Gutachten der Gerichtspsychiater. In Wahrheit steht

es sehr wenig fest, nach welchen konkreten wissenschaftlichen Tatsachen

gefragt ist, wenn man den Psychiater um sein Gutachten ersucht. Es handelt

sich bei den landläufigen Begriffen der Unzurechnungsfähigkeit als Straf-

ausschließungsgrund oder der verminderten Zurechnungsfähigkeit als Straf-

milderungsgrund um den Niederschlag populärpsychologischer Vorstellun-

gen und einer populären Anthropologie von der schrankenlosen Freiheit des

gesunden Menschen und der Gebundenheit des Kranken. Die Wissenschaft

vom menschlichen Handeln vermag diese Vorstellungen nicht zu den ihrigen

zu machen. Hier liegt auch der Grund für die Schwierigkeit, der der Psychiater

jeweils bei seinem Gutachten gegenübersteht und für die Unbestimmtheit

vieler solcher Gutachten. Juristen scheinen den Begriff der Unzurechnungs-

fähigkeit für einen psychiatrischen Begriff zu halten; die Psychiater hinge-

gen zweifeln nicht daran, daß er eine juristische Kategorie sei23 . An und für

sich ist es natürlich denkbar, vom Standpunkt irgendeiner strafrechtlichen

Zielsetzung aus kriminelle Taten verschieden zu werten und verschiedene

Methoden des Verhaltens der Gesellschaft ihnen gegenüber zu empfehlen, je

nachdem, an welcher Stelle der psychischen Persönlichkeit sie entsprungen

sind, welche Anteile die psychischen Instanzen an ihrem Zustandekommen

haben, wie das Ich dieses Menschen beschaffen ist u. dgl. m. Eine solche

Differenzierung in der moralischen Wertung und in der Technik des Um-

gangs mit dem Rechtsbrecher erscheint gerechtfertigt und erforderlich, so-

wohl für eine moralische als auch für eine utilitaristische Norm. Für die sittli-

Uchtspringer Schriften

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111

che Wertung mag es relevant sein, ob die Tat durch den freien Entschluß

eines Ichs zustande gekommen ist, dem die Einsicht in ihre sittliche Verwerf-

lichkeit zugemutet werden kann, oder ob sie etwa einem Affektsturm ihre

Entstehung verdankt, oder ob sie von einem Menschen vollbracht wurde,

dessen Ich an sich im Gefüge der seelischen Instanzen eine sehr unvollstän-

dige Reifung erlangt hat; die Forderung nach Sühne, Strafe oder Buße mag

dann je nach den Umständen abgestuft sein und gegebenenfalls auch völlig

verschwinden. Nicht minder gerechtfertigt ist im Prinzip diese Differenzie-

rung für ein positivistisches Strafrecht. Die Gefährlichkeit des Täters ist je

nach der Struktur seiner Tat verschieden zu beurteilen, ebenso die verfüh-

rende Wirkung auf andere; andere Methoden des sozialen Schutzes mögen

bei anderen Taten zweckmäßig erscheinen. Die Grundlagen für eine solche

Wertung oder Entscheidung sind aber jedenfalls in einer wissenschaftlichen

Einsicht in die Psychologie der Tat zu suchen.

Es scheint angemessen, nach der Psychologie der Menschen zu fra-

gen, die an den populären Begriffen von Zurechnungsfähigkeit und Unzu-

rechnungsfähigkeit festhalten. Ein Stück Selbstprüfung wird uns darüber

belehren, daß wir zögern, den sogenannten Unzurechnungsfähigen zu ver-

urteilen, da wir verspüren, daß »wir« unter den gleichen Bedingungen nicht

anders gehandelt hätten; wir würden ein Urteil über uns selbst aussprechen,

wenn wir ihn bestraften. So fordern wir den Freispruch des geisteskranken

Täters, denn Geisteskrankheit kann auch uns widerfahren und dann wären

wir gegen Bestrafung nicht gefeit. Wir neigen zur geringeren Bestrafung

eines Menschen mit einem starken Triebimpuls, denn wir fühlen, wären wir

diesem Impuls ausgesetzt, wären auch wir vielleicht zum Verbrecher gewor-

den. Oder wir fordern Strafausschluß oder Strafmilderung für Täter, deren

Intelligenz eine so geringe ist, daß sie die Folgen ihrer Handlung nicht über-

sehen konnten; wäre unsere Intelligenz so mangelhaft, so möchten auch wir

zum Verbrecher werden und würden so uns selbst mit verurteilen, wenn wir

das Verdikt über den schwachsinnigen Täter aussprächen. Es handelt sich

also offenbar um eine partielle Identifizierung des Richters24 mit dem Verbre-

cher. Man identifiziert sich mit dem Verbrecher soweit, daß man gleichsam

eine hypothetische Person konstruiert, welche das Es des Täters enthält,

ferner Teile seines Ichs (seine primitiven Ich-Mechanismen, wie z. B. seinen

Aberglauben, ferner seine Intelligenz und Bildung), und dann hiezu das üb-

rige Ich des Richters setzt. Wir fragen uns dann, ob diese hypothetische

Person die Tat begangen hätte oder nicht; wird diese Frage bejaht, so war der

Täter unzurechnungsfähig oder doch vermindert zurechnungsfähig; haben

wir aber das Gefühl, »wir« hätten die Tat auch dann nicht begangen, so mag

man den Täter getrost als zurechnungsfähig betrachten.

Uchtspringer Schriften

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112

Man sieht, daß der landläufige und im Rechtsbewußtsein des Volkes

tief verwurzelte Begriff der Zurechnungsfähigkeit wenig zu tun hat mit der

wirklichen Untersuchung der psychologischen Natur der Tat und daß die

populärpsychologischen Vorstellungen, auf die er begründet ist, einer Vor-

sichtsmaßregel entspringen, kein Verdikt über uns selbst auszusprechen.

Welches freilich die Gründe sind, daß wir gerade diese partielle Identifizie-

rung vornehmen, d. h. warum wir gerade einen Kern der Person behalten und

gewisse Schichten von der Persönlichkeit des Verbrechers uns im Gedanken-

experiment aneignen, ist ein psychologisches Problem für sich, dessen Erör-

terung an dieser Stelle zu weit führen würde.

Nach dem Gesagten erscheint es begreiflich, daß wir der psychoana-

lytischen Erforschung der Tatstruktur die Aufgabe zuweisen, für jede Art

strafrechtlicher Zielsetzung, moralischer oder utilitaristischer, die Grundla-

gen für einen wissenschaftlichen Begriff der »Zurechnungsfähigkeit« zu

schaffen. Es ist aber eine Frage für sich, die damit noch nicht im geringsten

berührt ist, ob es möglich oder angezeigt erscheint, das geltende System

durch ein solches neues, wissenschaftlich fundiertes, zu ersetzen; denn das

geltende System ist in den psychologischen Bedürfnissen der Menschen

verwurzelt und wir haben in dem früheren Beispiel darauf hingewiesen, daß

und warum jede strafrechtliche Reform nicht umhin kann, alle Konsequenzen

auf die Nicht-Täter in Berücksichtigung zu ziehen. Diese drei Beispiele waren

willkürlich herausgegriffen, um die Natur der möglichen Anwendungen

psycho-analytischer Forschung auf Rechtsprobleme anzudeuten. Wenn wir

an Stelle der definitorischen die exemplarische Kennzeichnung des psycho-

analytischen Anwendungsgebiets gewählt haben, so mag für diesen Man-

gel als Entschuldigung geltend gemacht werden, daß sich die psychoanaly-

tische Problematik in voller Entwicklung befindet und daß eine exakte Ab-

grenzung ihres möglichen Anwendungsbereichs auf andere Wissenschaf-

ten vielleicht verführt ist. Doch möchte auch die Beschreibung durch Bei-

spiele einen Eindruck von der Natur der auftretenden Probleme und Lösungs-

möglichkeiten vermitteln.

Anmerkungen

1 Freud: Ges. Schr., Bd. I bis XII, 1924 bis 1934.

2 Triebe und Triebschicksale, Ges. Schr., Bd. V, S. 447.

3 Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens,

Ges. Schr. Bd. V, S. 409 ff.

4 Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanaly-

se, S. 124; Ges. Schr., Bd. VII, S. 44.

Uchtspringer Schriften

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113

5 Der Terminus reifes Ich" enthält an und für sich noch keine Wertung. Er

entspricht nur dem Sachverhalt, daß in der Entwicklung des Individuums

das Ich in der Kindheit gewisse Stufen, z. B. der Magie, durchläuft und daß

diese Reaktionen mit der Erreichung des Erwachsenenalters zum großen

Teil abgebaut und insoweit durch andere ersetzt werden. Es steht natürlich

frei, die kindlichen Strukturen höher und die Reife als Verfall zu werten.

Freilich steht eine solche Wertung in Widerspruch zu der Wertung Leben

soll sein", da, wie sich leicht zeigen läßt, eine Gesellschaft, in der sich alle

Menschen nur auf Grund der primitiven Methoden des Ichs verhalten,

unrettbar zugrundegehen müßte. Im übrigen darf man wünschen, daß eine

solche Weltanschauung auf terminologische Tarnung verzichte und

konsequent Erwachsensein mit negativem Wertakzent versehe.

6 Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse,

S. 111; Ges. Schr., Bd. XII, S. 234.

7 Die Beziehungen der Psychoanalyse zu Weltanschauungsfragen sind er-

schöpfend erörtert bei Hartmann: Psychoanalyse und Weltproblem, Imago,

Bd. XIV, 1929, S. 421 ff.; Psychoanalyse und Weltanschauung, Psychoanaly-

tische Bewegung, V. Jg., 1933, S. 416 ff.

8 Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse,

S. 250; Ges. Schr., Bd. XII, S. 342.

9 Totem und Tabu, 1. Aufl., 1912; Ges. Schr. Bd. X, S. 3ff.

10 Zeitgemäßes über Krieg und Tod, Imago, Bd. V, 1915; Ges. Schr., Bd. X.

11 Massenpsychologie und Ichanalyse, 1. Aufl., 1921; Ges. Schr., Bd. VI, S.

259 ff.

12 Die Zukunft einer Illusion, 1. Aufl., 1927; Ges. Schr., Bd. XI, S. 411 ff.

13 Das Unbehagen in der Kultur, 1. Aufl., 1930; Ges. Schr., Bd. XII, S. 27 ff.

14 Einstein und Freud: Pourquoi la guerre? (In deutscher, französischer und

englischer Sprache.) Publications de Institut International de Cooperation

Intellectuelle, Societe des Nations, vol. 3, 1933. Der Brief Freuds ist auch

enthalten in Ges. Schr., Bd. XII, S. 347ff.

15 Freilich ist nicht jedes menschliche Verhalten sozial relevant; doch ist das

sozial relevante Verhalten von anderem nicht durch andere Kriterien als eben

das der sozialen Relevanz unterscheidbar, so daß eine Wissenschaft, die sich

nur mit dem sozial relevanten Verhalten beschäftigt, nicht möglich ist.

16 Die Meinungsverschiedenheit über die Frage, ob etwa ein Staatsmann

zum Krieg schreiten wird, reduziert sich oft darauf, welche von diesen beiden

Voraussetzungen für gegeben gehalten wird.

17 Ein Umsturz des politischen Systems ist nach dem Krieg nur in jenen

Staaten erfolgt, in denen die alten Herrschenden eine Niederlage durch den

äußeren Feind erlitten haben. Die Niederlage der Führung hat

Uchtspringer Schriften

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114

18 Man findet ein eindrucksvolles Beispiel für diesen Vorgang in der Entwick-

lung des ägyptischen Mythos, beschrieben von Cassirer: Philosophie der

symbolischen Formen, 2. Teil; Das mythische Denken, 1925, S. 205 f.

19 Die Störung der Realitätsprüfung tritt in extremer Form in den sogenann-

ten Massenpsychosen auf, in geringerem Maß ist sie aber jeder Massen-

situation notwendig eigentümlich. $ ihrem sittlichen Tun ab. Die Gunst des

Osiris, des Totengottes, die in den früheren ägyptischen Texten durch zau-

berische Gebräuche erzwungen wird, erscheint später durch das »Gericht

des Osiris über Gute und Böse ersetzt«. Wir sehen hier ein Stück Überwin-

dung des Mythos durch Ethos; das Schuldgefühl ist gestiegen und mit dem

wachsenden Ichbewußtsein auch eine adäquatere Erfassung der Realität

erreicht. Hier sind z. B. die paranoiden Ideenbildungen zu nennen, die bei den

verschiedenen politischen Parteien auftauchen, wie die Vorstellung von der

geheimnisvollen Macht, z. B. der Jesuiten oder der Freimaurer. Ideen dieser

Art würden bei Individuen außerhalb der Massensituation als Wahnideen

bezeichnet werden; die Massensituation schafft jedoch durch die oben er-

wähnten Umstände Bedingungen, die solche Ideen entstehen lassen, ob-

wohl die Mitglieder der Masse psychisch gesund sind.

20 Hierher gehören z. B. die Probleme, die durch die Erweiterung der Demokra-

tie zur Massendemokratie entstanden sind. Auch die ältesten und

entwickeltsten Demokratien unserer Tage können, wenn sie die Entschei-

dung der Wählermassen aufrufen, massenpsychologischer Mittel nicht

entraten; d. h. aber, daß auch sie nicht die Existenz und Arbeit der Gesell-

schaft allein durch die Entscheidung des reifen Ichs ihrer Bürger sichern

können, sondern jene anderen Mittel zur Anwendung bringen müssen.

21 Eine künstlerische Gestaltung dieses Motivs liegt in Dostojewskis

Raskolnikoff vor.

22 Die Strafe hat den Zweck, den zu bessern, welcher straft das ist die letzte

Zuflucht für die »Verteidiger der Strafe« (Nietzsche).

23 Bezeichnend dafür ist, daß ein sehr berühmter Psychiater in seiner Vorle-

sung seinen Hörern zu sagen pflegte, es gebe nur eine brauchbare Definition

des Begriffs der Unzurechnungsfähigkeit: unzurechnungsfähig sei, wer von

einem ordentlichen Gericht dafür erklärt wurde.

24 Unter »Richter« meinen wir hier natürlich nicht nur den beamteten Funk-

tionär der Rechtsprechung, sondern das ganze Publikum, das mit seinem

»Rechtsbewußtsein« an der Judikatur teilhat.

Aus: Almanach der Psychoanalyse 1937, S. 130-159.

Uchtspringer Schriften

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115

Heinrich Meng

Die Stellung der Wissenschaft zu Freuds 80. Geburtstag

Die Anregung, zu überprüfen, wie, gemessen an den Kundgebungen der

außermedizinischen Welt, sich die Ärzte und Fachpsychologen anläßlich

des 80. Geburtstags Sigmund Freuds geäußert haben, läßt sich jetzt erst

verwerten; es erschienen im Laufe der letzten Wochen immer wieder Ab-

handlungen, die zu dem Menschen Freud und seinem Werk Stellung nah-

men. Im Gegensatz zu den 300 internationalen Dichtern und Künstlern, die in

ihrer gemeinsamen Glückwunschadresse dem Initiator eines neueren und

tieferen Wissens vom Menschen« die Ehrfurcht aussprachen, ist uns nichts

bekannt geworden, was auf eine Ähnliche, einheitliche Aktion der internatio-

nalen Ärzte und Fachpsychologen schließen läßt. Allerdings haben Univer-

sitäten und wissenschaftliche Gesellschaften, in denen Freud Ehrenmitglied

ist, dem Geburtstagskind Glückwunschadressen gesandt. Der Wiener For-

scher ist unter anderem Doctor honoris causa der Clark University, Worcester,

Ehrenmitglied der Nederlandsche Vereenigung voor Psychiatrie en Neurolo-

gie«, des Vereins für Psychiatrie und Neurologic in Wien«, der Royal Society

of Medicine« und der Schweizer Gesellschaft für Neurologie und Psychia-

trie. Die Wiener Universität sandte ein Schreiben des Dekans der Medizi-

nischen Fakultät, Prof. Kerl, das die Glückwünsche des Professorenkollegiums

ausdrückte. Überhaupt scheint in Wien selbst die Kundgebung der Wissen-

schaftler zum 6. Mai am stärksten gewesen zu sein. Wagner-Jauregg, der

erfolgreiche Bekämp-fer der Paralyse und Nobelpreisträger, L. Binswanger,

der schweizerische Psychiater und Philosoph, der Neurologe Otto Marburg

und Otto Pötzl, der Leiter der Wiener Universitätsklinik, ein bekannter Schlaf-

forscher, haben in einer gemeinsamen Kundgebung des Akademischen Ver-

eins für medizinische Psychologie« zu Ehren Freuds gesprochen. In einem

Aufsatz, den Pötzl zum 6. Mai schrieb, heißt es am Schluß: »Freud hat einmal

erklärt, die Psychoanalyse habe für den, der sie betreibt, auch bildende Kraft,

und er hat dies an sich selbst an der Kultur seiner Persönlichkeit in höchstem

Maße bewiesen. Denn dieser unerschöpfliche Mensch ist groß in jeder Si-

tuation, er ist ein Genie, aber am größten ist er im Gespräch. Da empfängt man

von ihm einen überwältigenden Eindruck. Und ich meine, keine bessere Schil-

derung des Erlebnisses geben zu können, das man in seiner Gegenwart hat,

als indem ich freimütig bekenne: Ich habe jedesmal den Eindruck, so bedeut-

sam hat vielleicht der alte Goethe gesprochen.«

Aus Raumgründen wird über die anderen wissenschaftlichen Kundgebun-

gen, die in London, Prag, an der Sorbonne in Paris und andernorts stattfan-

Uchtspringer Schriften

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116

den und aus den Publikationen, die daran anschließend erfolgten, nicht be-

richtet .... Bemerkenswert ist, daß, soweit wir die wissenschaftliche Literatur

und die Tagespresse nachprüfen konnten, in Deutschland der 6. Mai über-

gangen wurde. In den drei letzten Jahren wurde im Dritten Reich Persönlich-

keit und Lehre aufs schärfste bekämpft, ohne daß eine Möglichkeit wissen-

schaftlicher Diskussion gegeben war. Die Bücher selbst stehen auf dem In-

dex und wurden zum Teil verbrannt.

[Es folgen Zusammenfassungen von Sonderheften und Jubiläumsveranstal-

tungen zu Freuds 80. Geburtstag]

Die Durchsicht der Fachpublikationen zeigt, daß die fachwissenschaftliche

Welt den 6. Mai 1936 dazu benützt hat, diesem großen Lebenden den Dank

abzustatten, der sonst meist nur einem Menschen zuteil wird, dessen funda-

mentale Bedeutung erst nach Jahrzehnten seines Wirkens erkannt wird.

Aus: Almanach 1937, S. 252-258.

Uchtspringer Schriften

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Zum Gedenken an

Harro Wendt

Uchtspringer Schriften

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Prof. Dr. med. habil. Harro Wendt

prägte zwischen 1961 und 1986 die Entwicklung des heutigen

Fachkrankenhauses Uchtspringe

Uchtspringer Schriften

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Volkmar Lischka

Abschied in Respekt vor einem großen Lebenswerk

Der langjährige Uchtspringer Krankenhausdirektor Prof. Dr. med. habil.

Harro Wendt ist am 19. Januar 2006 im Alter von 87 Jahren verstorben. Er

leitete zwischen 1961 und 1986 die Geschicke des heutigen Fachkranken-

hauses und hat sich dabei nachwirkende Verdienste erworben, insbeson-

dere bei der systematischen Einführung psychotherapeutischer Behand-

lungsmethoden in die klinischen Konzepte. Gemeinsam mit seinen Familien-

angehörigen nahmen Krankenhausmitarbeiter, Weggefährten und Freunde

am 26. Januar 2006 bei einer Trauerfeier in Uchtspringe Abschied. Der

Verstorbene wurde anschließend mit einem Trauerzug noch einmal durch

seine frühere Wirkungsstätte begleitet, bevor er auf dem Gemeindefriedhof

Uchtspringe die letzte Ruhestätte fand.

Professor Harro Wendt wurde am 7. September 1918 in Arnswalde in der

Neumark, wie er immer zu betonen wusste, geboren. Sein Vater gehörte schon

in der 3. Generation einer Buchdruckerfamilie an und war selbst Zeitungsver-

leger. Harro war der Jüngste von drei Geschwistern. Den Vater schilderte er

oft als einen distanzierten kühlen Menschen. Die Scheidung der Eltern nahm

er bedrückend wahr. Wie er erzählte, sei er in diesem Zusammenhang einmal

kurz in einem Kinderheim gewesen.

In Arnswalde dann besuchte er drei Jahre die Grundschule, daran

anschließend das Reformrealgymnasium, wo er 1937 das Abitur ablegte. Nach

dem Arbeitsdienst trat er 1939 in das Sanitätskorps ein. Er konnte damit das

gewünschte Medizinstudium in Leipzig beginnen, unterbrach das Studium

und wurde als Sanitätsfeldwebel für die Jahre 1942 und 1943 nach Italien

entsandt. Er kehrte von dort wieder zurück nach Leipzig und wurde im Zu-

sammenhang mit den Kriegsereignissen erneut als Sanitätsfeldwebel nach

Wien kommandiert. Trotz der Wirren der schweren Zeit heiratete er 1943

seine Frau Margit, die ebenfalls Medizin studierte.

Nach dem Kriegsende kam Harro Wendt aus Wien zurück nach Leip-

zig, war dort zunächst als Kriegsgefangener ärztlich in Lazaretten tätig. Der

ihm ausgesprochenen »Notapprobation« als Arzt, die er 1945 erhalten hatte,

traute er nicht und legte deshalb freiwillig 1949 in Leipzig ein reguläres Staats-

examen ab. Die Familie vergrößerte sich in diesen Jahren. Im Januar 1945

wurde sein Sohn Volker geboren, im März 1946 sein Sohn Ulrich und im

Januar 1948 seine Tochter Maja.

Nach dem Krieg promovierte er an der Universitätskinderklinik Leip-

zig über ein Thema aus der Kinderneurologie. An den Krankenhäusern Wurzen

Uchtspringer Schriften

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120

und Weißenfels war er als Stationsarzt tätig und versorgte auch in den Jah-

ren 1948 und 1949 eine vakante Allgemeinpraxis eines Leipziger Arztes. Für

diese Zeit erinnere ich Gespräche, in denen er uns schilderte, wie die Not der

Familie durch Hamsterfahrten mit Fahrrad aufs Land gemildert und die Be-

schaffung von Brennmaterial organisiert wurde.

Im Mai 1949 begann Harro Wendt dann seine akademische Laufbahn

an der Universitätsnervenklinik Leipzig, wo er seine nervenärztliche Fach-

arztausbildung aufnahm. 1953 wurde er Oberarzt der psychotherapeutischen

Abteilung der Nervenklinik der Karl-Marx-Universität Leipzig. Mit der Arbeit

»Schlaftherapie als Hilfsmittel der Behandlung von Neurosen« habilitierte er

dort 1960. Schon vorher war er in Forschungsaufgaben »zur höheren Nerven-

tätigkeit« unter Professor Hegemann eingebunden und weilte zu Studienauf-

enthalten in den Nervenkliniken in Bukarest und Tübingen. 1959 war er zum

Dozenten berufen worden und wurde 1965 nebenamtlicher Professor mit Lehr-

auftrag für Psychiatrie und Neurologie an der Medizinischen Fakultät der

Karl-Marx-Universität Leipzig. Das besondere Verdienst von Harro Wendt

lag während der Leipziger Zeit in seiner Aktivität bei der Begründung einer

eigenen Abteilung für Psychotherapie. Hier arbeitete er zusammen mit seiner

Frau Margit, die Oberärztin dieses Bereiches war und mit der er neben der

gemeinsamen Freude über das gedeihliche Aufwachsen der Kinder auch

seine beruflichen Leidenschaften teilte.

Aus Gesprächen weiß ich, dass es aufgrund konzeptioneller Diskre-

panzen zwischen Wendt und dem damaligen Ordinarius der Nervenklinik in

Leipzig Müller-Hegemann zu Spannungen kam. Es waren sowohl die differie-

renden Auffassungen über die Lehrmeinungen Schultz-Henckes wie auch

das sich politisch verschärfende universitäre Klima, womit er nicht mehr

einverstanden war. Wie er einmal sagte: »In das politische Zeremoniell an

den Universitäten und Akademien wollte ich mich nicht mehr weiter einbin-

den lassen und möglichst weit weg von Weisungsinstanzen sein.« Dies war

für die Entwicklung unseres Krankenhauses, für die Mitarbeiter, besonders

aber für die Patienten dieser Region ein großes Glück. So kam die Familie

Wendt am 1. April 1961 in Uchtspringe an.

Die Frage, warum die Wahl gerade auf diese abgelegene Klinik am

Rande der Colbitz-Letzlinger Heide fiel, beantwortete Harro Wendt selbst

einmal so: »Meine Frau hatte die trübe gewordene Großstadt Leipzig satt.

Meine Kinder waren von der Freiheit in der Landschaft begeistert. Mir gefiel

an Uchtspringe die schon von Professor Alt stammende Offenheit der Kli-

nik.« (Quelle: »100 Jahre Uchtspringe«)

Die neue Aufgabe forderte Professor Wendt sehr. Er fand eine Klinik

vor mit sieben Ärzten, darunter ein Zahnarzt und zwei Pathologen bei mehr

als 1800 Patienten.

Uchtspringer Schriften

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121

Er richtete noch in den 60-er Jahren die erste psychotherapeutische

Abteilung der DDR ein, die bevorzugt psychoanalytisch orientiert arbeitete.

Seine Vorlesungen in Leipzig, Gastvorlesungen in Dresden und nicht zuletzt

die Mundpropaganda waren es, die das akademische Personal auf über 30

anwachsen ließ. Aus Leipzig folgten ihm aus Leipzig unsere verstorbene

Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie Frau Dr. Rose-Marie Kummer,

unser später leitender Psychologe Dr. Infrid Tögel und Dr. Konstantin von

der Herberg als ehemaliger Chefarzt der hiesigen Neurologischen Klinik.

Es war seine fachliche Ausstrahlung, die anzog. Wendt war keiner,

der schnell auf die Menschen zuging. Wir hatten alle erst eine gewisse Di-

stanz zu ihm. Es war die Autoritätsschwelle. Wenn man sie überwunden

hatte, erkannte man den gütigen, absolut zuverlässigen und beschirmenden

Menschen. Öffentlich gab er sich meist kantig, aber er war nicht laut. Er

kannte die Spielbreite, die ihm Uchtspringe in der von ihm gesuchten Abge-

schiedenheit von Weisungsebenen zuließ, gut. Das war hilfreich. Professor

Wendt arbeitete als ein Ärztlicher Direktor mit Letztverantwortung für alles,

vom Wasserwerk über die Wohnungsvergabe bis hin zur Versorgung mit

Medikamenten oder medizinischem Verbrauchsmaterial. Seine fachliche Kom-

petenz und das geschickte Heranfinden an Entscheidungsträger sicherten,

dass es die Hauptaufgabe des Hauses blieb, psychisch Kranke zu versorgen

und nicht im Dschungel ideologischer Phrasen und Kampagnen fachlich den

Boden zu verlieren.

Harro Wendt konnte quer denken, lange Gehabtes in Frage stellen,

analysierte jedoch dabei sehr genau, ehe er Veränderungen traf. Bewunde-

rung hat sein ganz persönliches Handeln um die Neuordnung der Betreuung

geistig schwerstgeschädigter Langzeitpatienten gefunden. Auf einer solchen

Station wurde er selbst als Stationsarzt tätig und durchbrach das auf »satt

und sauber« gerichtete Stereotyp der Versorgung und Sicherung. So ent-

deckte z.B. unser Patient Rudi K. Lieblingsbeschäftigungen in der Arbeits-

therapie, lernte Distanz halten, kam auf freundliches Ansprechen zum Schmu-

sen, lernte Freude und Ärger angemessen zu zeigen und war nur noch selten

in Überforderungssituation autoaggressiv.

Wendt war auch ein leidenschaftlicher Verfechter, der, wie man heute

sagen würde, Enthospitalisierung. Wir hatten mit ihm zusammen ein Konzept

entwickelt, wonach diese Klinik bei 1850 Betten nur noch über 480 zur Akut-

versorgung verfügen sollte. Alles andere an psychiatrischer Betreuung der

Region hätte sich in Komplementäreinrichtungen leisten lassen.

Mit der Entwicklung der Außenstellen in Landwirtschaft und Indu-

strie war Uchtspringe führend im rehabilitativ-psychiatrischen Bereich. Die

Entwicklung eines Dispensairesystems mit zahlreichen ambulant tätigen Kran-

Uchtspringer Schriften

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kenhausärzten in den Polikliniken sicherte die Nachbetreuung und verhin-

derte schnelle Wiederaufnahmen. Professor Wendt war der Verfechter einer

konsequent mehrdimensionalen Betrachtungsweise des Krankseins. Seine

Auffassung von der Entwicklung des Krankenhauses war fundiert aus sei-

ner Anschauung, dass die Grundlage unserer Krankenversorgung die Psych-

iatrie und Neurologie sei. Er lehrte uns, dass bei allen Krankheiten in be-

stimmter Weise Psychotherapie indiziert ist. Wir lernten aber auch, dass einer

ausschließlichen Psychotherapie Grenzen gesetzt sind und dass es eine hoch-

spezialisierte Form der Psychotherapie gibt, die ihre bestimmten Indikatio-

nen hat. Die Entwicklung der Abteilung für Psychotherapie, die wir unter der

legendären Bezeichnung »die 37« bis heute wahrnehmen, gehörte zu den

wichtigsten Meilensteinen, die wir Professor Wendt verdanken. Noch heute

sind unter den alten Insidern die Visiten mit ihm ein Begriff. Sie waren ge-

wünscht, verflucht, gefürchtet, ersehnt, zermürbend, beruhigend, belastend,

entlastend, harsch und freundlich, vernichtend und wertschätzend: Sie wa-

ren eben dynamisch. Professor Wendt war nicht eingegrenzt auf spezialisier-

tes psychotherapeutisches Arbeiten. Er verstand es, die Mitarbeiter in ihren

Interessen zu entwickeln und ihre Talente zu erkennen. Professor Wendts

Ausstrahlungskraft auf die Mitarbeiterschaft trug prägend dazu bei, sie mit

psychotherapeutischem Denken auszurüsten und auf Arbeitsgebiete hinzu-

führen, deren Veränderung er als notwendig erkannt hatte. So entstanden die

Stationen zur Behandlung von Suchtkranken, die Fördereinrichtung für ge-

hörlose oligophrene Kinder, eine geschlechtergemischte Station für psych-

iatrische Patienten sowie die tiefenpsychologisch orientiert arbeitende Stati-

on für Kinder und Jugendliche.

Es war ein ungeheurer Arbeitsumfang, den Professor Wendt zu lei-

sten hatte und geleistet hat. Neben dieser seiner praktischen Arbeit behan-

delte er auch immer selbst Patienten und war für alle seine Schüler und Assi-

stenten erreichbar. Die Uchtspringer Problemfallseminare haben in der Fach-

öffentlichkeit der DDR Geschichte geschrieben. In seinem Verzeichnis wis-

senschaftlicher Arbeiten finden sich weit über 100 Vorträge und Publikatio-

nen. Er war Vorsitzender zahlreicher psychiatrischer Fachgesellschaften und

anderer wissenschaftlicher Gremien der DDR.

Wir haben Prof. Wendt in seinem beruflichen Engagement nicht als

karriereorientiert erlebt. Für ihn war es vielmehr wichtig, seine inneren Ziele

zu verwirklichen. So schlug er beispielsweise Berufungen auf Lehrstühle in

Leipzig und Magdeburg aus. Sein wissenschaftliches Interesse richtete sich

vielmehr auf praxisorientierte Fragestellungen und Lösungswege. Dabei war

ihm die wissenschaftliche Literatur, soweit sie ihm in der DDR zugänglich

war, außerordentlich wichtig. Wohl auch deshalb hat Harro Wendt im Alter

unter der zunehmenden Beeinträchtigung seiner Sehkraft sehr gelitten.

Uchtspringer Schriften

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Seine letzte Lebensphase verbrachte er in einem Pflegeheim in Haldens-

leben, das wegen der Nähe zu seiner Tochter ausgesucht war. Die Verände-

rungen, die ihn damit trafen, konnten sich aber nur auf die Regelung physi-

scher Bedürfnisse richten. Er fand in den anderen Lebensrhythmus nicht

recht hinein, wünschte stets die Rückkehr nach Uchtspringe, die ihm aus

eigener Kraft nicht mehr möglich war.

Professor Wendt war eine großartige Persönlichkeit, deren Besonder-

heit sein Schüler Infrid Tögel in einem Interview einmal so beschrieb: »Wendt

ist zuerst Wendt, dann Arzt, dann Psychotherapeut, dann Analytiker.« Als

wissenschaftlicher Lehrer und bis über das Ruhestandsalter hinaus tätiger

Arzt ist er für viele unserer Mediziner und klinisch tätigen Psychologen Leit-

bild geworden. Er war ein kritischer Geist, der Neues aufmerksam analysierte,

aber nie ungeprüft übernahm, weil er den eigenen Visionen, Kompetenzen

und Erfahrungen vertraute. Er war ein Mann, der auch unter widrigen Um-

ständen stets den Mut zur Veränderung fand. Mit seiner unbequemen Be-

harrlichkeit prägte Professor Wendt in Uchtspringe Strukturen, Inhalte und

Werte, die es zu bewahren, zu nutzen und weiter zu entwickeln gilt.

Anschrift des Verfassers: MR Dr. med. Volkmar Lischka, Fachkrankenhaus

Uchtspringe, Kraepelinstr. 6, 39599 Uchtspringe.

E-mail:

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Diskussion

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Michael Schröter

Alexander Etkind über Max Eitingon: Ein kurzer Protest

Alexander Etkind hat in seinem Buch Der Eros des Unmöglichen die 1988

aufgekommene These unterstützt, daß Max Eitingon, der Gründer des Berli-

ner Psychoanalytischen Instituts und langjährige Präsident der Internatio-

nalen Psychoanalytischen Vereinigung, ein Geheimagent Stalins gewesen

sei (vgl. Draper 1988; Schröter 1997). In seinem Beitrag zu Bd. 1 der

Uchtspringer Schriften wiederholt er diese längst widerlegte Legende zwar

nicht direkt, aber er streut weiter Hinweise aus, die in dieselbe Richtung

deuten und den »Fall« Eitingon als »mysteriös« hinstellen (Etkind 2003, S.

82-84). Als Kenner des Lebens und Wirkens von Eitingon (siehe Schröter

2004) fühle ich mich verpflichtet, das Publikum darüber aufzuklären, daß die-

se Hinweise irreführend sind. Ich gehe sie kurz der Reihe nach durch:

1. Daß der Salon, den das Ehepaar Eitingon zeitweise führte (Belege

gibt es eigentlich nur für 1922), »sozialistisch« gewesen sei, wird durch keine

Quelle, die ich kenne, bestätigt – übrigens auch nicht durch diejenigen, die

Etkind in seinem Buch zitiert (1993, S. 316-318).

2. Vermutlich war Max Eitingon in der Tat irgendwie mit Naum Eitingon

verwandt, der als Organisator der Ermordung Trotzkis eine traurige Berühmt-

heit erlangt hat. Aber welcher Art die Verwandtschaft gewesen sein könnte,

ist völlig ungeklärt; über Verbindungen zwischen Naum, der in Rußland leb-

te, und Max, der 1893 mit seiner Familie nach Leipzig emigriert war, wissen wir

nichts. Und was würde eine solche Verwandtschaft beweisen?

3. Daß die weltweit operierende Pelzhandelsfirma der Familie Eitingon

große Geschäfte mit der Sowjetunion machte, wurde schon in den 1920er

Jahren in der New York Times berichtet. Max Eitingon war als Sohn des

Gründers an der Familienfirma beteiligt, aus deren Gewinnen er sein haupt-

sächliches Einkommen bezog, hatte aber mit der Führung der Geschäfte nichts

zu tun. Es bleibt Etkinds Geheimnis, warum die spezielle Tatsache, daß ein

Teil der Eitingonschen Firmengewinne aus dem Import russischer Pelze stamm-

te, für die Geschichte der Psychoanalyse von Belang (»important«) gewesen

sein soll.

4. Etkind vermeidet diesmal die erkennbare Unterstellung, daß Eitingon

mit den sowjetischen Machthabern in einem Komplott zusammengearbeitet

habe, das die Tochter Trotzkis in den Selbstmord trieb (siehe Etkind 1993, S.

475f., Anm. 121). Aber er spricht weiter von einem tödlichen »double bind,

constructed by both the analyst and the Soviet State«, und behauptet: »The

analyst could have been Eitingon himself, or more probably someone under

Uchtspringer Schriften

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his professional influence.« Ich habe schon früher darauf aufmerkam ge-

macht (Schröter 1997, S. 467), daß der »Analytiker« von Sinaida Trotzki Ar-

thur Kronfeld war, ein Anhänger von Adler und professioneller Gegner der

Freudianer (er emigrierte 1936 in die Sowjetunion). Die Konstruktion von

Etkind ist, was Eitingon betrifft, absurd und ein Beweis für seine Bereitschaft

zur Spekulation, ohne Rücksicht auf die historische Evidenz.

Ich bedaure es, daß Etkind auf meinen veröffentlichten Widerspruch

zu seinen Thesen ad Eitingon (Schröter 1997) gar nicht eingeht und lieber

den Ausweg wählt, anstelle der klaren Vorwürfe, die er früher riskierte, eine

vage Aura der Verdächtigung zu verbreiten. Seine Indizien dafür sind so

windig wie eh und je. Er sollte die Eitingon-Legende, solange er keine neuen

Belege hat, endlich dem Vergessen anheimgeben, das sie verdient.

Literatur

Draper, Th. 1988. Das Rätsel des Max Eitingon. Psyche, 51: 428-456.

Etkind, A. 1993. Eros des Unmöglichen. Die Geschichte der Psychoanalyse

in Rußland. Leipzig: (G. Kiepenheuer.

Etkind, A. 2003. To the east of Freud’s Vienna in the previous turn of the

century. In: Ch. Tögel u. J. Frommer (Hg.), Psychotherapie und

Psychoanalyse in Osteuropa, Uchtspringer Schriften, Bd. 1: 71-85.

Schröter, M. 1997. Max Eitingon ein Geheimagent Stalins? Erneuter Protest

gegen eine zählebige Legende. Psyche, 51: 457-470.

Schröter, M. 2004. Der Steuermann. Max Eitingon und seine Rolle in der

Geschichte der Psychoanalyse. Einleitung zu: Freud, S. u. Eitingon,

M.: Briefwechsel 1906-1939, 2 Bde, hg. von M. Schröter, 2 Bde.

Tübingen: edition diskord, S. 1-33.

Anschrift des Verfassers: Dr. Michael Schröter, Taunusstr. 12, 12161 Berlin,

E-mail: .

Uchtspringer Schriften

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Hinweise für Autoren

Beiträge für die Schriftenreihe werden in der Regel in Deutsch (in Ausnahmen-

fällen auch in Englisch) veröffentlicht.

Manuskripte werden in elektronischer Form akzeptiert und können einge-

sandt werden entweder per e-mail an:

oder auf Diskette bzw. CD-ROM an:

Prof. Dr. Christfried Tögel

SALUS-Institut

Sigmund-Freud-Zentrum

Halberstädter Str. 40a

D-39112 Magdeburg

Zur Manuskriptgestaltung:

- Text einzeilig, 10pt, Times New Roman.

- Literaturangaben im Text erscheinen in der Form, z.B.

(Freud 1900a, S. 233)

- Anführungszeichen französisch, z.B.

»Epilepsie«

- Literaturverzeichnis alphabetisch, in folgender Form:

Monographie:

Aichhorn, August. 1925. Verwahrloste Jugend. Leipzig / Wien / Zürich:

Internationaler Psychoanalytischer Verlag.

Beitrag in Sammelband:

Fetscher, Iring. 1987. Masken der Politik Politik als Maske. In Brede, Karola

et al. (Hg.), Befreiung zum Widerstand. Aufsätze über Feminismus, Psycho-

analyse und Politik. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 74-91.

Zeitschriftenartikel:

Aschenbrandt, Theodor. 1883. Die physiologische Wirkung und Bedeutung

des Cocain. muriat. auf den menschlichen Organismus. Deutsche medizini-

sche Wochenschrift, 9: 730-732.