Auf die kunstkammer wo sie noch zu sehen

  • Autor: Andersen, Hans Christian

Auf die kunstkammer wo sie noch zu sehen

[von Hans Christian Andersen]

Es war einmal ein Prinz, der wollte heiraten, aber es sollte eine wirkliche Prinzessin sein. Da reiste er in der ganzen Welt herum, um eine solche zu finden. Prinzessinnen gab es ja genug, aber ob er eine wirkliche Prinzessin vor sich hatte, konnte er nie herausfinden. Immer war da etwas, was nicht in Ordnung schien. So kehrte er wieder nach Hause zurück und war ganz traurig, denn er wollte doch gerne eine wirkliche Prinzessin haben.

Eines Abends zog ein furchtbares Wetter auf. Es blitzte und donnerte, der Regen stürzte herab, und es war ganz entsetzlich. Da klopfte es am Schlosstor, und der alte König ging selber hin, um aufzumachen.

Es war eine Prinzessin, die von dem Unwetter überrascht worden war. Das Wasser lief ihr von den Haaren und Kleidern nur so herab, und am Absatz der Schuhe tropfte es unaufhörlich heraus. Sie sah wirklich mitgenommen aus, doch sie bestand darauf, eine wirkliche Prinzessin zu sein.

"Das werden wir ja in Erfahrung bringen", dachte die alte Königin, sagte aber nichts. Sie ließ eine Schlafkammer herrichten, nahm heimlich alles Bettzeug ab und legte eine Erbse auf den Boden der Bettstelle.

Auf die kunstkammer wo sie noch zu sehen

Dann nahm sie zwanzig Matratzen, legte sie auf die Erbse und dann noch zwanzig Daunendecken oben darauf. Hier sollte die Prinzessin nun die ganze Nacht über liegen. Und so geschah es auch.

Am frühen Morgen wurde sie dann gefragt, ob sie gut geschlafen hätte. "Oh, entsetzlich schlecht!", antwortete die Prinzessin. "Ich habe fast die ganze Nacht kein Auge zugetan! Gott weiß, was in meinem Bett gewesen ist. Ich habe auf etwas Hartem gelegen, sodass ich am ganzen Körper mit gelben und blauen Flecken übersät bin. Das muss ja schrecklich aussehen!"

Nun war die Königin aber fest überzeugt, dass sie eine wirkliche Prinzessin vor sich hatte. Denn es ist eine wahrhaft königliche Gabe, eine Erbse durch zwanzig Matratzen und zwanzig Daunendecken so schmerzhaft zu spüren.

Nun konnte der Prinz auch mit gutem Gewissen die Prinzessin zur Frau nehmen, denn niemand wagte es, die Worte der alten Königin anzuzweifeln. Und die Erbse kam in die Kunstkammer, wo sie auch heute noch zu sehen ist, wenn sie niemand gestohlen hat.

Hans Christian Andersen

Sämmtliche Märchen, 1862

Es war einmal ein Prinz, der wollte eine Prinzessin heiraten; aber es sollte eine wirkliche Prinzessin sein. Da reiste er in der ganzen Welt herum, um eine solche zu finden, aber überall war etwas im Wege. Prinzessinnen gab es genug, aber ob es wirkliche Prinzessinnen waren, konnte er nicht herausbringen. Immer war etwas, was nicht so ganz in der Ordnung war. Da kam er denn wieder nach Hause und war ganz traurig, denn er wollte doch so gern eine wirkliche Prinzessin haben. Eines Abends zog ein schreckliches Gewitter auf; es blitzte und donnerte, der Regen strömte herunter, es war ganz entsetzlich! Da klopfte es an das Stadtthor, und der alte König ging hin, um aufzumachen. Es war eine Prinzessin, die draußen vor dem Tore stand. Aber, o Gott! wie sah die von dem Regen und dem bösen Wetter aus! Das Wasser lief ihr von den Haaren und Kleidern herunter; es lief in die Schnäbel der Schuhe hinein und an den Hacken wieder heraus. Und doch sagte sie, daß sie eine wirkliche Prinzessin sei. "Ja, das werden wir schon erfahren!" dachte die alte Königin. Aber sie sagte nichts, ging in die Schlafkammer hinein, nahm alle Betten ab und legte eine Erbse auf den Boden der Bettstelle; darauf nahm sie zwanzig Matratzen und legte sie auf die Erbse, und dann noch zwanzig Eiderdunen-Betten oben auf die Matratzen. Da mußte nun die Prinzessin die ganze Nacht liegen. Am Morgen wurde sie gefragt, wie sie geschlafen habe. "O, erschrecklich schlecht!" sagte die Prinzessin. "Ich habe meine Augen fast die ganze Nacht nicht geschlossen! Gott weiß, was da im Bette gewesen ist! Ich habe auf etwas Hartem gelegen, sodaß ich ganz braun und blau über meinen ganzen Körper bin! Es ist ganz entsetzlich!" Nun sahen sie ein, daß es eine wirkliche Prinzessin war, da sie durch die zwanzig Matratzen und die zwanzig Eiderdunen-Betten hindurch die Erbse verspürt hatte. So empfindlich konnte Niemand sein, als eine wirkliche Prinzessin. Da nahm der Prinz sie zur Frau, denn nun wußte er, daß er eine wirkliche Prinzessin besitze; und die Erbse kam auf die Kunstkammer, wo sie noch zu sehen ist, wenn Niemand sie gestohlen hat. Sieh, das war eine wahre Geschichte.

Hans Christian Andersen (1805-1875)

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kicker.de ,  9 minutes ago

Auf die kunstkammer wo sie noch zu sehen
Es war einmal ein Prinz, der wollte eine Prinzessin heiraten. Aber das sollte eine wirkliche Prinzessin sein. Da reiste er in der ganzen Welt herum, um eine solche zu finden, aber überall fehlte etwas. Prinzessinnen gab es genug, aber ob es wirkliche Prinzessinnen waren, konnte er nie herausfinden. Immer war da etwas, was nicht ganz in Ordnung war.

Da kam er wieder nach Hause und war ganz traurig, denn er wollte doch gern eine wirkliche Prinzessin haben. Eines Abends zog ein furchtbares Wetter auf; es blitzte und donnerte, der Regen stürzte herab, und es war ganz entsetzlich. Da klopfte es an das Stadttor, und der alte König ging hin, um aufzumachen.

Es war eine Prinzessin, die draußen vor dem Tor stand. Aber wie sah sie vom Regen und dem bösen Wetter aus! Das Wasser lief ihr von den Haaren und Kleidern herab, lief in die Schnäbel der Schuhe hinein und zum Absatz wieder hinaus. Sie sagte, dass sie eine wirkliche Prinzessin wäre.

Ja, das werden wir schon erfahren!‘, dachte die alte Königin, aber sie sagte nichts, ging in die Schlafkammer hinein, nahm alles Bettzeug ab und legte eine Erbse auf den Boden der Bettstelle. Dann nahm sie zwanzig Matratzen, legte sie auf die Erbse und dann noch zwanzig Eiderdaunendecken oben auf die Matratzen. Hier sollte nun die Prinzessin die ganze Nacht über liegen. Am Morgen wurde sie gefragt, wie sie geschlafen hätte.

„Oh, entsetzlich schlecht!“, sagte die Prinzessin. „Ich habe fast die ganze Nacht kein Auge geschlossen! Gott weiß, was in meinem Bett gewesen ist. Ich habe auf etwas Hartem gelegen, so dass ich am ganzen Körper ganz braun und blau bin! Es ist ganz entsetzlich!“

Daran konnte man sehen, dass sie eine wirkliche Prinzessin war, da sie durch die zwanzig Matratzen und die zwanzig Eiderdaunendecken die Erbse gespürt hatte. So feinfühlig konnte niemand sein außer einer echten Prinzessin.

Da nahm sie der Prinz zur Frau, denn nun wusste er, dass er eine wirkliche Prinzessin gefunden hatte. Und die Erbse kam auf die Kunstkammer, wo sie noch zu sehen ist, wenn sie niemand gestohlen hat.

Seht, das war eine wirkliche Geschichte!

Hans Christian Andersen Quelle: projekt.gutenberg.de

Im Zuge der Einheitlichkeit und der besseren Lesbarkeit wurden alle Übersetzungen der internationalen Märchen an die neue Rechtschreibung angepasst.