Bald 60 Jahre ist es her, dass Max sein Wolfskostüm angezogen und die Mutter auf die Palme getrieben hat. Er ist ohne Essen ins Bett geschickt worden. Was dann passiert ist, erfahren Kinder und Eltern auf der ganzen Welt immer wieder von neuem. Die Rede ist von Maurice Sendaks wunderbarem Buch „Wo die wilden Kerle wohnen“. Die englische Originalausgabe, „Where the Wilde Things Are“ ist 1963 erschienen, 1967 hat Diogenes die gelungene Übersetzung ins Deutsche von Claudia Schmölders herausgebracht und seitdem immer wieder neu aufgelegt.
Diese letzten fünf Wörter treiben mir jedes Mal die Tränen in die Augen. Das wünschen sich kleine und große Menschen, frei zu sein und zugleich geborgen, wütend aufzustampfen und dennoch ein Nachtmahl zu bekommen. Maurice Sendak (1928–2012) ist als Sohn einer Familie polnisch-jüdischer Einwanderer in Brooklyn geboren. Von frühester Kindheit an wollte er Buchillustrator werden, entschloss sich dann, auch selbst Texte zu verfassen. Sowohl seine Zeichnungen wie auch die Texte (ab Mitte der 1950er-Jahre) stießen anfangs auf Widerstand: „Zu abstoßend, zu gewalttätig, zu grauslich“, in den USA waren die „Wilden Kerle“ in manchen Bibliotheken verboten, auch die deutsche Übersetzung hat anfangs bei den Kritiker*innen keine Gnade gefunden. Den angesprochenen jungen Leser*innen oder Betrachter*innen der sprechenden Bilder war die Kritik der Erwachsenen egal, sie waren fasziniert von dem wütenden Max und den großen Zähnen der Wilden Kerle und haben sich selbst erkannt. Das tun sie auch heute noch.Ursprünglich wollte Sendak Max zu den wilden Pferden („Land of Wilde Horses) flüchten lassen, doch dann registrierte er, dass er nicht wusste, wie man ein Pferd richtig zeichnet, und aus den Pferden wurden Kerle. Der Begriff ist vom jiddischen Ausdruck „vilde chaya“ für einen Wildfang inspiriert. Für die Illustration hat Sendak Karikaturen, die er als Jugendlicher von seinen Verwandten gezeichnet hat, verwendet. Die erschienen ihm „komplett verrückt, mit irren Gesichtern, wilden Augen und großen, gelben Zähnen.“ Die Angewohnheit von Tanten und Onkeln, Kinder in die Wange zu zwicken, bis es weh tut, kennen wohl viele Kinder und verabscheuen diesen misslungenen Ausdruck von Zärtlichkeit. Bei der Arbeit an der Opernadaption durch den britischen Komponisten Oliver Knussen 1983 gab Sendak den Monstern den Namen seiner Familienmitglieder: Tzippy, Moishe, Aaron, Emile und Bernard (auch sein 2. Vorname). Sendak hatte offenbar nichts gegen die Adaptionen, die sein Buch ertragen musste, vor allem die Filmindustrie bemächtigte sich des Stoffes. Die Oper (Sendak / Knussen) wurde noch unvollständig 1980 in Brüssel zum ersten Mal aufgeführt; die erste vollständige Aufführung fand 1984 in Glyndebourne statt. 2009 ist der Spielfilm von Spike Jonze weltweit gezeigt worden und mit freundlichem Wohlwollen aufgenommen worden. Sendak war im Produzententeam. Auf die zahlreichen Analysen und Interpretationsversuche samt Hilfestellung für Pädagog*innen und Eltern, kann getrost verzichtet werden. Zu wem Text und Bilder nicht sprechen, dem ist nicht zu helfen. Inspirierten, Nachahmer*innen und Interpret*innen haben sicher erkannt, dass es Bücher gibt, die so perfekt sind, dass es einem Sakrileg gleichkommt, daran zu rühren. Das (übersetzte) Original ist unersetzbar. „Le petit Prince“ von Antoine de Saint-Exupéry (erstmals erschienen 1950 im Karl-Rauch-Verlag) gehört übrigens auch zu diesen unberührbaren Meisterwerken, die in jedem Alter geliebt und verstanden werden. Zum Abschluss ein kurzes Zitat aus dem englischen Original plus anschließender Anekdote:
Sendak mochte es, Briefe von Kindern zu erhalten und beantwortete sie alle. An Jim hat er eine Karte mit einer Zeichnung gesandt und geschrieben: „Lieber Jim, ich habe deine Karte geliebt.“ Dann hat er einen Brief von Jims Mutter erhalten: „Jim liebte deine Karte so sehr, dass er sie gegessen hat.“ „Das war für mich eines der höchsten Komplimente, das ich jemals erhalten hatte. Es war ihm egal, dass es eine Originalzeichnung von Maurice Sendak war oder so. Er hat es gesehen, er hat es geliebt, er hat es gegessen“, erzählt Sendak in einem Interview. (tmlarts.com). Es scheint, als hätte Sendak wenig Wert darauf gelegt, fotografiert zu werden. Selbst der Diogenes-Verlag veröffentlicht kein Foto des Autors und auch in der deutschsprachigen Wikipedia gibt es kein Abbild. Also verzichte ich auch darauf.For more than forty years, the books Maurice Sendak has written and illustrated have nurtured children and adults alike and have challenged established ideas about what children's literature is and should be. The New York Times has recognized that Sendak's work “has brought a new dimension to the American children's book and has helped to change how people visualize childhood.†Parenting recently described Sendak as “indisputably, the most revolutionary force in children's books.†Winner of the 1964 Caldecott Medal for Where the Wild Things Are, in 1970 Sendak became the first American illustrator to receive the international Hans Christian Andersen Award, given in recognition of his entire body of work. In 1983, he received the Laura Ingalls Wilder Award from the American Library Association, also given for his entire body of work. Beginning in 1952, with A Hole Is to Dig by Ruth Krauss, Sendak's illustrations have enhanced many texts by other writers, including the Little Bear books by Else Holmelund Minarik, children's books by Isaac Bashevis Singer and Randall Jarrell, and The Juniper Tree and Other Tales from Grimm. Dear Mili, Sendak's interpretation of a newly discovered tale by Wilhelm Grimm, was published to extraordinary acclaim in 1988. In addition to Where the Wild Things Are (1963), Sendak has both written and illustrated The Nutshell Library (1962), Higglety Pigglety Pop! (1967), In the Night Kitchen (1970), Outside Over There (1981), and, We Are All in the Dumps with Jack and Guy (1993). He also illustrated Swine Lake (1999), authored by James Marshall, Brundibar (2003), by Tony Kushner, Bears (2005), by Ruth Krauss and, Mommy? (2006), his first pop-up book, with paper engineering by Matthew Reinhart and story by Arthur Yorinks. Since 1980, Sendak has designed the sets and costumes for highly regarded productions of Mozart's The Magic Flute and Idomeneo, Janacek's The Cunning Little Vixen, Prokofiev's The Love for Three Oranges, Tchaikovsky's The Nutcracker, and Hans Krása's Brundibár. In 1997, Sendak received the National Medal of Arts from President Clinton. In 2003 he received the first Astrid Lindgren Memorial Award, an international prize for children's literature established by the Swedish government. Maurice Sendak was born in Brooklyn in 1928. He now lives in Connecticut.
Um was geht es? Das bildstarke Buch versetzt sich ganz in die kindliche Welt, in der die Fantasie regiert. Es spricht Kinder in dem Alter an, in welchem sie zwar schon gut zwischen Realität und Fiktion unterschieden können, sich aber dennoch gern in imaginäre Welten zurückziehen. Kinder können sich wohl auch darum so gut mit Max identifizieren, weil auch sie es lieben, in verschiedene Rollen zu schlüpfen. In jedem Kind steckt ein «wilder Kerl», der gerne König wäre, aber es weiss auch jedes, wie es ist, sich nach einem Abenteuer nach der Geborgenheit des Zuhauses, der Mutter zu sehnen. Entstehung In seinen Bilderbüchern versucht Maurice Sendak deshalb, die Schrecken, welche die Kindheit mit sich bringen kann, zu anerkennen. Dabei gelingt es ihm, die Welt durch die Augen des Kindes zu schildern, er bleibt somit stets kindgerecht und verständlich – mit ein Grund, weshalb ihn Kinder und Erwachsene rund um die Welt verehren. Vorbild für die Monster im Bilderbuch waren ihm übrigens seine Verwandten, die ihm als Kind äusserst furchterregend schienen. Weitere Infos Maurice Sendak erhielt unter anderem die Caldecot-Medal (die höchste Auszeichnung für einen Kinderbuchkünstler) sowie den internationalen Hans-Christian-Andersen-Preis. 1997 wurde ihm vom US-Präsidenten Bill Clinton die «National Medal of Arts» verliehen, die höchste künstlerische Auszeichnung der Vereinigten Staaten. Er lebt mit seinem Schäferhund Herman in Connecticut. Zu guter Letzt Das Bilderbuch «Wo die wilden Kerle wohnen» von Maurice Sendak eignet sich für Kinder ab 4 Jahren und ist auf Deutsch beim Diogenes Verlag erhältlich. Die Geschichte wurde für einen Spielfilm adaptiert und kam 2009 in die Kinos. Der Kommentar der Expertinnen Aber diese Freiheit hat ihren Preis: Sie bietet nicht die Liebe, Geborgenheit und Wärme an, die er zu Hause erhält. Darum entschliesst sich Max, die Heimreise anzutreten, zurück übers Meer und durch den Wald in sein Zimmer, wo das Essen für ihn bereitsteht. «Und es ist noch warm.» Kein anderer Satz könnte sinnlicher zusammenfassen, was es heisst, geliebt zu werden. Die wilden Kerle, deren König Max für eine Weile war, haben nicht dafür gesorgt, dass er warm hatte und etwas zu essen bekam. So wie Max geht es ganz vielen Kindern: Nur im Ausprobieren der Freiheiten, in der Grenzüberschreitung, im Ausleben von Allmachtsfantasien kann die Sinnhaftigkeit von Regeln erfahren werden und wird spürbar, dass Elternliebe hält, durch alle Stürme hindurch. Bild und Text spielen in dieser existenziellen Geschichte kongenial zusammen. Je weiter sich Max in seiner Fantasie von zu Hause entfernt, je näher er der fremden Monsterwelt kommt, je heftiger er seine Aggressionen ausleben kann, desto bildhafter wird die Erzählung. In der Mitte des Buches schliesslich erzählt Sendak in randabfallenden Bildern ganz ohne Text von seinen Abenteuern bei den wilden Kerlen. Mit der Rückkehr von Max in sein Zimmer kehren auch die Worte zurück, und die Bilder werden wieder kleiner. Am Schluss steht der bereits zitierte Satz auf einer weissen Seite. Die Mutter von Max, die ihn zuvor ohne Nachtessen ins Bett schicken wollte, akzeptiert seine Trotzreaktion ohne Gegenleistung. In «Wo die wilden Kerle wohnen» kehrt Sendak das Innere von Max nach aussen, seine Machtfantasien, seine Widerständigkeit. Diese Gefühle werden aber nicht mehr unter Strafe gestellt – im Unterschied etwa zu Heinrich Hoffmanns «Struwwelpeter». Sendak zeichnet also bereits 1963 – noch vor den radikalen Veränderungen, die die 1968-er-Jahre auch im Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen gebracht haben – ein Kindheitsbild, das den Entwicklungsphasen von Kindern Rechnung trägt und ihre Trotzphasen als notwendige Durchgangsstationen zu eigenverantwortlichem, selbstbewusstem Handeln sieht. «Wo die wilden Kerle wohnen» ist in diesem Sinn zeitlos modern. Ein Buch, das in jede Kinderstube gehört. Bewertung: ***** Bewertungsschema: ***** = Ein echter Klassiker! **** = sehr empfehlenswert *** = empfehlenswert ** = Zeitverschwendung * = Ab in die Brockenstube damit! Unsere Expertinnen Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM Zeltweg 11, 8032 Zürich Tel. 043 268 39 00 www.sikjm.ch |