Welches buch muss man gelesen haben

Dieser Beitrag wurde am 12.08.2016 auf bento.de veröffentlicht.

Wer du ab 30 sein wirst, hat mit dem, der du mit 15 warst, so gut wie nichts zu tun. In deinen Teens läufst du wie im Wahn durch die Gegend, säufst, rebellierst und stellst Unsägliches mit deinen Haaren an, um deiner Mutter eins auszuwischen. Jeden Tag bist du jemand anderes.

Erst in deinen Zwanzigern stellt sich langsam heraus, wer du wirklich bist. Du entscheidest dich für ein Studium, für eine Ausbildung, für einen Job. Du wählst einen Wohnort, einen Freundeskreis, einen (zwei, drei, vier) Partner. Du trägst zum ersten Mal die Verantwortung für dein Tun.

Wenn du mit 15 ein Arschloch bist, bist du 15. Wenn du mit 30 ein Arschloch bist, bist du ein Arschloch.

Nutze deine Zwanziger – oder zumindest den kleinen Teil, den du wach, nüchtern und zurechnungsfähig bist – darum weise. Lies zum Beispiel ein paar von diesen Büchern hier. Die sind zwar keine Garantie, dass du nicht trotzdem ein Arsch wirst. Aber immerhin bist du dann halbwegs belesen. Das ist doch auch schon mal was.

Franz Kafka: Die Verwandlung

"Die Verwandlung" hast du wahrscheinlich schon in der Schule gelesen und langweilig gefunden. Unser Tipp: Lies es noch mal! Und vergiss die Käfer-Metaphorik: Die kurze Story handelt von einem, der plötzlich jemand anderes ist und darum von seiner Familie und der gesamten Gesellschaft abgelehnt wird. Es ist die Geschichte jedes Jugendlichen. Es ist "American Beauty", "Edward mit den Scherenhänden" oder "Billy Eliot" ohne das Happy End. Nur eben von Kafka und damit besser geeignet, um bei Partys den Intellektuellen zu geben. (Hier gibt's das Buch.)

David Foster Wallace: Das hier ist Wasser

Dieser kurze Text besteht aus einer berühmten Rede, die Wallace bei einer College-Abschlussfeier gehalten hat. Sie handelt von der Freiheit, die jeder von uns besitzt, die Welt aus ganz verschiedenen Perspektiven zu sehen.

Denn von Natur aus kommt es uns so vor, dass wir der Mittelpunkt jeder Situation sind. Wenn eine Kassiererin dich anschnauzt, nimmst du das automatisch persönlich. Du fragst: "Was habe ich der Frau getan?"

Aber du könntest auch die Perspektive der Kassiererin einnehmen; dich fragen, was für Probleme sie vielleicht zu Hause hat; dich in jemanden hinein fühlen, der seit Jahren denselben, eintönigen Job machen muss, um seine Familie durchzubringen.

Aus deiner Standard-Perspektive auszubrechen, kann sehr schwer sein. Wallace’ Text zu lesen ist dagegen ein Klacks. Und lohnt sich. (Hier gibt's das Buch.)

Dave Eggers: Ein herzzerreissendes Werk von umwerfender Genialität

Du hast wahrscheinlich schon von Dave Eggers gehört. Sein Buch "The Circle" hatte lange Zeit einen Stammplatz auf internationalen Bestsellerlisten. Sein Erstling "Ein herzzerreissendes Werk von umwerfender Genialität" ist in Deutschland weniger bekannt. Besser ist er trotzdem.

Das Buch ist eine Art Autobiographie: Es beschreibt, wie Eggers seinen kleinen Bruder allein aufzieht, nachdem Vater und Mutter früh versterben. Dabei ist es unglaublich ehrlich, unverfälscht und vor allem witzig. Es liest sich auch leicht. Und es sollte jedem Mittzwanziger aus der Seele sprechen, der zwischen den Anforderungen des sogenannten Erwachsenenlebens und dem eigenen Hang zu Hedonismus hin und her gerissen ist. (Hier gibt's das Buch.)

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Karl Ove Knausgård: Lieben

"Lieben" ist ein Brocken: Mehr als 700 Seiten ist das Ding lang, dabei passiert kaum etwas. Unendlich detailreich bekommen wir erzählt, wie der Autor seine Frau kennengelernt hat, wie seine Kinder zur Welt gekommen sind, wie er sich jeden Tag um sie kümmert und wie er manchmal unter seiner Rolle als Vater, seiner Rolle als Ehemann leidet.

Wer Action braucht, muss sich mit diesem Buch gar nicht erst anlegen. Wer aber wissen will, wie es sich wirklich anfühlt, auf einem Kindergeburtstag mit den anderen Eltern abhängen zu müssen – und auf viele von uns wartet diese Erfahrung noch – der sollte Knausgård gelesen haben. So perfekt bekommst du den "Erwachsenen-Alltag" nirgendwo anders geschildert. (Hier gibt's das Buch.)

Joan Didion: Slouching towards Bethlehem (Englisch)

Joan Didion ist eine der größten Autorinnen der USA. In diesem 1968 erschienen Band mit Artikeln und Essays beschreibt sie das Kalifornien dieser Zeit aus vielen verschiedenen Perspektiven: Wir treffen die Spießer, die Hippies, die Revolutionäre. Und wir treffen Didion, die in persönlichen Essays viel von sich preisgibt.

Das ist alles lesenswert, aber für deine Zwanziger ist vor allem der Titel-Essay relevant. Denn da geht es um die Hippies: um junge Leute aller Klassen, die von zu Hause abgehauen sind, um LSD zu nehmen, Sex zu haben und sich selbst zu finden. Dabei trifft der Text irgendwie den Nerv dessen, wie es sich anfühlt, jung zu sein. Auch heute noch. (Hier gibt's das Buch.)

Max Frisch: Fragebogen

Das ist kein Buch, das man einfach so durchliest. Wie der Name schon vermuten lässt, besteht das Werk aus mehreren Fragebögen zu unterschiedlichsten Themen: Ehe, Hoffnung, Humor, Geld, Tod, und einige mehr. Zu jedem Thema gibt Frisch Fragen vor, über die es sich nachzudenken lohnt.

"Hassen Sie leichter ein Kollektiv oder eine bestimmte Person und hassen Sie lieber allein oder im Kollektiv?" "Haben Sie Humor, wenn Sie alleine sind?" "Ist es schon vorgekommen, dass Sie überhaupt gar keine Freundschaft hatten, oder setzen Sie dann Ihre diesbezüglichen Ansprüche einfach herab?"

Die Zwanziger sind die Zeit, in denen du dich kennenlernen solltest. Und wie lernt man sich besser kennen, als wenn man sich Fragen stellt? (Hier gibt's das Buch.)

Ian McEwan: Am Strand

Dieser kurze Roman beschreibt die katastrophale Hochzeitsnacht zweier junger, verliebter Menschen. Die Handlung spielt Anfang der Sechzigerjahre und natürlich hat sich seitdem einiges getan: Wir stolpern nicht mehr ganz so blauäugig und unbedarft in diese Situation – oder zumindest reden wir uns das gerne ein.

Aber "Am Strand" handelt von Liebe, von gesellschaftlichem Druck und davon, wie man damit umgeht. Es handelt von Sexualität und den Vorstellungen, die wir uns von den Vorstellungen anderer Menschen machen; nicht zuletzt handelt es von unserer Unfähigkeit, miteinander zu reden. Das sind Themen, die heute so aktuell sind wie damals. Und darum ist das Buch heute so hilfreich wie eh und je. (Hier gibt's das Buch.)

Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe

Dieses Buch ist als eine Art Lexikon aufgebaut. Zu allen Aspekten und Facetten der Liebe gibt es kleine, poetische Einträge, in denen Barthes umschreibt, wofür uns im Alltag oft die Worte fehlen: Von der Abwesenheit des geliebten Anderen, über die Wendung "Ich liebe dich", bis hin zu den Schattierungen des Unglücklichseins.

Dabei verweist Barthes immer wieder auf Klassiker der Liebesliteratur und bildet damit einen perfekten Startpunkt für jeden, der alles über die Liebe lernen will. Und wer will schon nicht alles über die Liebe lernen?! (Hier gibt's das Buch.)

Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Es gibt Bücher, die sind so vielseitig, dass sie einem in jeder Situation begleiten können. Das hier ist so eins. Das Buch ist leicht zu lesen, sehr unterhaltsam und wunderbar geschrieben. Und es bringt dir alles über die Liebe bei, was du bei Roland Barthes nicht verstanden oder überblättert hast.

Wenn du die verschlungene Liebesgeschichte von Tomas und Teresa noch nicht gelesen hast, solltest du das jetzt schnell nachholen. Auf die Verfilmung auszuweichen, soll jedenfalls keine gute Idee sein… haben wir gehört. (Hier gibt's das Buch.)

Silvia Plath: Die Glasglocke

Jung und schlecht drauf sind heutzutage fast alle Charaktere der sogenannten Pop-Literatur: Der Erzähler in Christian Krachts "Faserland", A in "A wie B und C" von Alexandra Kleeman, die Leute in Ronja von Rönnes "Wir kommen" …

Bei Silvia Plath war das (1966) noch neu – und richtig gut. Der Protagonistin aus "Die Glasglocke" steht die Welt offen, und doch weiß sie nicht, was sie werden soll, wo sie hin will, wie sie glücklich werden könnte. New York ekelt sie an, ihre Stelle bei einem Modemagazin gibt ihr nichts, Männer – ach, komm mir nicht mit Männern! Sie schlittert tiefer und tiefer in die Depression.

Mit diesem Thema war Plath eindeutig ihrer Zeit voraus. Heute kann der Roman jedem helfen, der sich mit seiner Verlorenheit alleine fühlt. Und dir vielleicht sogar ein wenig heraushelfen. (Hier gibt's das Buch.)

William T. Vollmann: Afghanistan Picture Show

Wenn wir jung sind, wollen wir die Welt retten – und sind außerdem überzeugt, dass wir das auch können. Wir gehen auf die Straße oder ins Ausland, melden uns freiwillig, begehren auf, kämpfen für das Gute. So ähnlich stellt sich das auch Vollmann vor, als er 1982 nach Afghanistan reist, um mit den Mudschahedin gegen die russische Besatzung zu kämpfen.

Natürlich endet die Reise im Chaos. Aber im Buch findet Vollmann Gelegenheit, über seine Reise nachzudenken: Hat er der "Sache" mehr genutzt oder mehr geschadet? War die Sache überhaupt gut? Und viel wichtiger: Hatte er ein Recht dazu, sich in die Sache einzumischen? Dieses Buch sollte jeder junge Mensch gelesen haben, der sich politisch oder humanitär engagiert. (Hier gibt's das Buch.)

So, das sind unsere Lese-Tipps für deine Zwanziger – nach allerbestem Wissen und Gewissen. Natürlich können wir hier keine Zufriedenheitsgarantie geben. Wenn es dir bei dem einen oder anderen Buch also so geht:

...gib uns nicht die Schuld. Du bist jetzt schließlich alt genug, selbst die Verantwortung für dein Handeln zu tragen.