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Wenn es um Gesundheit geht, nehmen die Unterschiede zwischen besser und schlechter gebildeten Bevölkerungsgruppen erkennbar zu. Sich um die eigene Verfassung und das Wohlbefinden der Familie zu kümmern, wird immer mehr zu einem Privileg derjenigen, die Ratgeber lesen und Aufklärungskampagnen rezipieren. Bei den sogenannten "sozial Schwachen" und "Bildungsfernen" kommen die Botschaften oft gar nicht an.
Es gibt medizinische Projekte wie die Poliklinik Veddel in Hamburg, die sich in die Viertel der Armen begeben und auf Augenhöhe mit den Bewohnern zu agieren versuchen. Aber in allgemeinen Versorgungszentren, in vielen Kliniken und Ambulanzen, herrschen nach wie vor oft „Halbgötter in Weiß“, deren Kommunikationsverhalten zu wünschen übriglässt. Menschen mit niedrigem sozialem Status tun sich logischerweise nochmal schwerer als andere Patienten, Fragen zu stellen und auf Antworten zu bestehen.
"Das Gesundheitssystem fängt die soziale Ungerechtigkeit nicht auf, sondern befördert sie noch."
Prof. Dr. Gerhard Trabert, Sozialmediziner
Wer zum Arzt oder in die Apotheke geht, wird abkassiert. Es fallen Rezeptgebühren und Zuzahlungen für Medikamente an; spezielle Therapie- und Diagnoseangebote müssen bezahlt werden, etwa Augeninnendruckmessungen oder ein Ultraschall der Eierstöcke. Auch wenn der medizinische Nutzen der individuellen Gesundheitsleistungen (kurz iGeL genannt) umstritten ist - der Beruhigung von Patientinnen dienen sie meist allemal. Arme Menschen dagegen können sich zwar z. B. von Zuzahlungen befreien lassen, aber der bürokratische Akt eines Antrags will dann eben auch bewältigt sein bzw. muss man überhaupt wissen, dass die Möglichkeit besteht.
Der aktuelle Regelsatz für alleinstehende Hartz-IV-Empfänger sieht im Moment 416 Euro monatlich vor. Von dem Betrag soll der Lebensunterhalt gesichert werden, sprich: insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege und Hausrat. Dem Sachverhalt, dass Arme durchschnittlich kränker sind als Reiche, trägt der Hifesatz nicht Rechnung.
"Der Hartz-IV-Satz ist zu niedrig. Die sozialen Transferleistungen beinhalten nur 15 Euro 50 als Gesundheitsbudget. Aber es gibt immer mehr Eigenbeteiligungen im Gesundheitssystem: Brillen werden überhaupt nicht mehr bezahlt, die muss jeder selbst bezahlen."
Prof. Dr. Gerhard Trabert, Sozialmediziner
In Deutschland leben offiziell mindestens 80.000 Personen, die über keine Krankenversicherung verfügen. Die Dunkelziffer ist wesentlich höher und liegt bei über 200.000. Vor allem handelt es sich um Ausländer und Selbstständige. Mit jedem Monat, in dem sie ohne Versicherung bleiben, erhöhen sich ihre Beitragsschulden. Denn es besteht in Deutschland Krankenversicherungspflicht. Auch deshalb ziehen nicht wenige Arme lieber die Decke über den Kopf, wenn es um ihre Gesundheit geht.
Der Sozialmediziner Gerhard Trabert richtete in Mainz die "Ambulanz ohne Grenzen" ein, in der Obdachlose und Menschen ohne Versicherungsschutz behandelt werden. Unter den Patienten befinden sich zunehmend Privatversicherte, die z. B. einen eigenen Betrieb hatten und jetzt insolvent sind. Weil sie nicht mehr für ihre einstmals hohen Beiträge aufkommen können, gehen sie lange aus Scham nicht zum Arzt.
"Und dann kommen sie irgendwann zu uns, Jahre später. Wir versuchen sie wieder ins System zu reintegrieren, aber wir haben viele Patienten, die dann einfach eine fortgeschrittene Erkrankung haben, weil sie die letzten Jahre nicht mehr beim Arzt waren. Das Gesundheitssystem trägt hier durchaus Mitschuld. Denn es gibt Möglichkeiten, den Versicherungsbeitrag zu senken, wenn ich nachweise, dass ich in einer ökonomischen Notsituation bin. Darüber wird aber nie proaktiv informiert."
Prof. Dr. Gerhard Trabert, Sozialmediziner
20.06.2009, 00:00 Uhr
Sie sind nicht nur bei der Schulwahl, sondern auch in der Gesundheitsversorgung benachteiligt: Vor allem Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien leiden an Sprach- und Konzentrationsproblemen.
Berlin - Sie sind nicht nur bei der Schulwahl, sondern auch in der Gesundheitsversorgung benachteiligt: Vor allem Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien leiden an Sprach- und Konzentrationsproblemen, hervorgerufen durch schlechte Ernährung, zu wenig Bewegung und zu hohen Fernsehkonsum – auch wenn die Zahl der akut Kranken dank der Fortschritte in der Impfung zurückgegangen ist. „Wir verwenden heute 60 bis 70 Prozent unserer Arbeitszeit für Kinder mit sozialen Problemen und Entwicklungsstörungen“, sagte Wolfram Hartmann, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) beim 39. Kinder- und Jugendärztetag in Berlin.
Vor allem Kinder- und Jugendärzte sehen sich offenbar gezwungen, die sozialen Brennpunkte in Städten wie Berlin, Hamburg, Bremen und Köln zu verlassen, in denen sie am meisten gebraucht werden. Für den Verbandspräsidenten Hartmann sind die Ursachen klar: Ärzte bekommen für die Behandlung von Armen, die meist gesetzlich versichert sind, weniger Geld als von den reichen Privatversicherten. Schuld sei also das Zwei-Klassen-System der Krankenkassen. Außerdem würden die gesetzlichen Krankenkassen nicht für Vorsorgeuntersuchungen nach neuestem wissenschaftlichen Standard aufkommen, bemängelte Hartmann. cos
In Österreich liegt das ärztliche Versorgungsangebot im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Argen. Das trifft für den stationären genauso zu wie für den niedergelassenen Bereich. Die Folgen sind nicht nur eine Unterversorgung, sondern auch empfindliche Zugangsbarrieren, speziell für sozial schwächere Familien.
Von Ruth Mayrhofer
Seit langem ist klar: Der Wandel der Krankheitsspektren und soziale Veränderungen, gepaart mit einer Verschiebung von somatischen zu psychischen Störungen mit hoher Persistenz lassen den Bedarf der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung in die Höhe schnellen. Im Durchschnitt werden in Deutschland anhand einer Studie aus 2007 immerhin zehn Prozent der Bevölkerung in diesem Feld als „behandlungsbedürftig“ eingestuft. Dieses Ergebnis, das auch für Österreich umgelegt werden kann, bedeutet, dass hierzulande rund 180.000 Personen einer Therapie bedürfen.
Allein: Weder in den Krankenhäusern noch im niedergelassenen Bereich stehen ausreichend gut ausgebildete Fachärzte zur Verfügung. Orientierungszahlen, dass etwa auf 300.000 Einwohner eine Spitalsabteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie kommen sollte oder ein niedergelassener Facharzt pro 80.000 Einwohner zur Verfügung stehen sollte, werden in Österreich bei weitem nicht erreicht.
Versorgung im „Teufelskreis“
Die Gründe dafür liegen in einem „Teufelskreis“: Zum einen stehen an den Krankenhäusern nicht ausreichend Ausbildungsplätze für angehende Fachärzte zur Verfügung, was automatisch zu einem Nachwuchsproblem führt. Erringt jemand dennoch einen durchaus begehrten Ausbildungsplatz in dieser Disziplin, wird ihm oder ihr die Niederlassung auch nicht gerade leicht gemacht: Nach wie vor handelt es sich um reine Wahlarztpraxen. So gibt es in ganz Österreich derzeit nur in Vorarlberg eine einzige (!) Facharztpraxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie mit einem §2‑Kassenvertrag. In Niederösterreich läuft zur Zeit die Evaluierung eines Pilotprojektes in Sachen „fixe Kassenpraxis“ , deren Ergebnisse im April 2011 mit der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse diskutiert werden sollen, wie Charlotte Hartl, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Purkersdorf (Niederösterreich), berichtet.
Alles im Fluss?
Hartl, die sich seit Jahren für eine Verbesserung der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung in Österreich einsetzt, mahnt: „Wir brauchen flächendeckend in den Krankenhäusern Abteilungen, die zukünftige Fachärzte ausbilden, und wir brauchen verbesserte Bedingungen für die freie Niederlassung von Fachärzten, die ihre Leistungen auch mit den Kassen verrechnen können!“ Im Fall der Ausbildungsplätze müssten die Spitalsträger österreichweit lediglich die Empfehlungen des Österreichischen Strukturplanes Gesundheit (ÖSG) umsetzen; dieses Kriterium wird jedoch nur in Ausnahmefällen erfüllt. Was die Kostenübernahme der Krankenkassen im Bereich der niedergelassenen Arztpraxen betrifft, ist die Ärztin vorsichtig optimistisch: Entsprechende Verhandlungen seien gerade im Laufen, lässt sie wissen. Auch das Bundesministerium für Gesundheit hätte sich im Rahmen des Gesundheitsdialoges dieser Thematik angenommen. Die Zielvorstellungen der auch hier laufenden Gespräche: die Erfüllung der ÖSG-Kriterien und der flächendeckende Ausbau von „Kassenstellen“. Hartl attestiert dem Ministerium dabei eine „ganz gute Unterstützung“, und berichtet, dass auch der Hauptverband – der ja letztlich für die Kostenübernahme sorgen soll – „vorsichtiges Entgegenkommen“ signalisiert hat.
„Das Interesse von jungen Ärzten an einer Ausbildung im Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie ist gegeben“, weiß Hartl. Aber: Die Stolpersteine sind fast unüberwindlich. Hartl weiter: „Bleibt die Situation in Österreich so wie sie ist, dann werden noch viel stärker als schon bisher Ärzte für die Ausbildung oder genauso ‚fertige‘ Fachärzte ins Ausland abwandern, weil dort Bezahlung und Arbeitsbedingungen ganz einfach besser sind.” Österreich – und damit jene Patienten, die dringend Hilfe brauchen – bliebe in diesem Fall auf der Strecke; nur nicht die schmale Schicht Personen, die zu den fünf Prozent der besser situierten Bevölkerung zählen, und die, wie Hartl es ausdrückt, „es sich richten (sprich: zahlen) können“. Aus ihrer Sicht sei daher gerade die Kinder- und Jugendpsychiatrie „ein klarer Fall von Zwei-Klassen-Medizin, und das halte ich für ethisch nicht vertretbar“.
Für Wien wurde am 30. September vergangenen Jahres ein neuer Gesamtvertrag ausverhandelt, der die Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie mit einschließt, wie Sabine Schuh, stellvertretende Kurienmanagerin der Kurie Niedergelassene Ärzte der Ärztekammer für Wien berichtet. Darin vorgesehen ist ein Pilotprojekt, das mit zwei Jahren anberaumt ist und das einen Kostenzuschuss für die Patienten vorsieht, die dann diese Leistungen gemäß Wahlarztsystem von der Wiener GKK rückerstattet bekommen. Dabei orientiert man sich an Vorarlberg und Kärnten, wo eine Wahlarzt-Rückerstattung bereits Usus ist. Noch dieses Jahr sollen auch die Verhandlungen für einen neuen Tarifkatalog abgeschlossen werden. Weiters ist geplant, dass es 2012 in Wien eine erste Kassenplanausschreibung geben soll. Frühestens am 1.1.2013 könnte dann ein Vertragsbeginn erfolgen. Dazu der Kurienobmann der Niedergelassenen Ärzte, Günther Wawrowsky: „Ziel bei der Versorgung muss es sein, dass es eine Honorarordnung für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Rahmen des Gesamtvertrages gibt.”
© Österreichische Ärztezeitung Nr. 4 /25.02.2011