Warum braucht Karl der Große die Pfalzen?

Paderborn

Die Entdeckung war eine Sensation: Anfang der Sechziger fand man in Paderborn gleich neben dem Dom die Grundmauern der Pfalz, die Karl der Große bauen ließ. Den Ort also, der so wichtig war für die Geschichte Westfalens und der Welt.

Aachen war Karls Lieblingsresidenz, aber Paderborn sein wichtigster Stützpunkt - jedenfalls was sein neues Reich betraf. Denn hier an den Paderquellen gründete er die neue Pfalz, seine Operationsbasis, von der aus er die Eroberung der Sachsen steuerte. Der christliche Frankenkönig sollte die heidnischen Sachsen unterwerfen, so hatte es die Wormser Reichsversammlung 772 n. Chr. beschlossen. Die Sachsen, darunter auch die ansässigen Engern, wehrten sich aber erbittert. Es dauerte 22 Jahre, bis die entscheidende Schlacht geschlagen wurde, die Engern aufgaben und Paderborn ganz offiziell Teil des Frankenreichs wurde.

Ein Papst zu Gast in der Kaiserpfalz

Da war die Pfalz, die anfangs schlicht "Karlsburg" hieß, schon längst Mittelpunkt des Reiches. Karl holte wichtige politische Versammlungen nach Paderborn - sozusagen ein Signal an die Sachsen. Und er ließ eine Kirche bauen, gründete das Bistum - noch eine Botschaft. Einmal war die Pfalz sogar Bühne für eine welthistorische Begegnung: Papst Leo III. floh vor einem Aufstand in Rom zu Karl, um ihn um Hilfe zu bitten. Dafür soll er dem fränkischen König die römische Kaiserkrone versprochen haben. Ob das stimmt, ist umstritten. Fest steht, dass Karl wenig später in Rom gekrönt wurde - ein Mann, der in Paderborn seine Macht bewiesen hatte.

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Sie sind hier:   Karolingerzeit und die "Kaiserpfalz"

Autoren: Margarethe Köhler und Hartmut Geißler

Von den Merowingern zu den Karolingern

Die „Hausmeier“

Für die Bewohner des Ingelheimer Fiscus, d. h. des weiten Ingelheimer Königsgutes, war der Wechsel der Königsherrschaft von den Merowingern zu den Karolingern im 8. Jahrhundert wahrscheinlich kein spürbares Ereignis; vielleicht hatte man mitbekommen, dass die Autorität der zerstrittenen Merowinger-Familie seit dem 7. Jahrhundert geringer wurde und dass eine immer mächtiger werdende Hausmeier-Familie, die der "Arnulfinger", "Pippiniden" oder "Karolinger", sie im ganzen Frankenreich allmählich verdrängte.

„Hausmeier“ ist die deutsche Version des lateinischen „Major Domus“ (d.h. Oberer des [königlichen] Hauses). Es ist die Bezeichnung für den obersten Amtsträger der merowingischen Könige des 7. und 8. Jahrhunderts, der zuständig war für den königlichen Haushalt, die Reichsverwaltung, Rechtsprechung, Staatsfinanzen, das Heer und für seine Güter, damit auch für den Ingelheimer Königshof mit seinem umfangreichen Landbesitz. Sie regierten auch vom "Palatium" des eigentlichen Königs aus, also von seinem Herrschaftssitz aus.

Durch geschickte Diplomatie sicherten sich Karlmann und Pippin die Unterstützung der römischen Kirche (vgl. hierzu auch Merowingerzeit, letzter Abschnitt „Frühe Kirchen und ein Königshof in Ingelheim“). Im Jahre 751 setzte schließlich Pippin, ein Sohn Karl Martells, den letzten Merowingerkönig Childerich III. ab, schickte ihn ins Kloster, ließ sich vom fränkischen Hochadel zum König der Franken ausrufen. Papst Stephan II., der im Spätherbst 753 nach in St. Denis gekommen war, um sich die Hilfe der Franken gegen die Langobarden in Italien zu sichern, blieb damals einige Monate im Frankenreich.

Am 28. Juli 754 salbte (oder weihte; umstritten) er als Gegenleistung Pippin als fränkischen König, ebenso wie seine Frau Bertrada und seine beiden Söhne Karl (der spätere Große, damals 6 oder 7 Jahre alt) und Karlmann. Dies war das erste Mal, dass ein abendländischer König seine und seiner Söhne Legitimation durch eine religiöse Zeremonie (im Namen der Dreieinigkeit) bekräftigen ließ.

Der Papst verlieh ihm und seinen Söhnen Karl und Karlmann dabei den byzantinischen Titel "Patrikios" des früheren byzantinischen Statthalters in Ravenna und des Statthalters in Sizilien, nun in der Form "Patricius Romanorum", was als "Schutzherr der Römer" verstanden wurde. Mit "Römern" war aber mehr gemeint als nur die Bewohner der Stadt Rom, nämlich die Bewohner des römischen Reiches.

Im Gegenzug sicherte sich der Papst dadurch die Unterstützung der Franken gegen die Langobarden in Italien. So begann mit Pippin eine lange Periode der - oft konfliktreichen - Zusammenarbeit von fränkischen (später deutschen) Königen und römischen Päpsten, die unter seinem Sohn Karl dazu führte, dass dieser schließlich am Weihnachtstage 800 in Rom die alten Kaisertitel "Imperator" und "Augustus" zusätzlich zum fränkischen und langobardischen Königstitel annahm. Außerdem gehörte zu seiner Kaisertitulatur noch die Aussage: "Romanum gubernans imperium", also: "das Römische Reich regierend". Damit war der Anspruch auf eine Fortsetzung des "Römischen Imperiums" im Westen verbunden, auf gleicher Ranghöhe mit dem byzantinischen Kaiser (bzw. Kaiserin Irene) in Konstantinopel, weshalb es darüber auch diplomatische und kriegerische Verwicklungen gab.

Auch dieser Pippin hat sich vielleicht schon einmal auf dem Ingelheimer Königshof aufgehalten, denn er soll hier nach der Biografie des Mainzer Bischofs Lul, cap. 8, im Jahre 755 den damaligen Abt Lul von Hersfeld empfangen haben ("in curte regia Inghilenheim" - "im Königshof Ingelheim"). Classen, Ingelheim, S. 91, bezweifelte allerdings diesen Aufenthalt Pippins in Ingelheim. Jedenfalls hatte das Kloster Hersfeld lange Zeit Besitz in Ober-Ingelheim.

Eine ca. 7 km lange unterirdische Wasserleitung in römischer Bauweise lieferte nämlich frisches, fließendes Quellwasser in den Palast, zusätzlich zu dem ohnehin reichlichen Aufkommen von Quellwasser und Brunnenwasser im Bereich des neuen Palastes - ein großer Luxus! Wurde das Wasser im Halbkreisbau für die Klausurtagungen der Adligen gebraucht? Da diese Wasserleitung, die sich ja mit einem ganz bestimmten Gefälle dem Geländeverlauf anpassen musste, schon von Anfang an eingeplant werden musste, hat ihr geologisch ziemlich festliegender Verlauf mit darüber entschieden, an welcher Stelle des Hanges zum Rhein hin (in der Nord-Süd-Dimension) der neue Palast gebaut werden konnte bzw. musste.

Über den Beginn des Baues gibt es nach wie vor weit voneinander abweichende Vermutungen, denn Einhard hat uns das nicht mitgeteilt. Sie reichen von 774 bis in Karls letzte Regierungsjahre.

Wann er fertig gestellt wurde, ist ebenso unklar; fest steht nur, dass Einhard eindeutig schrieb, dass Karl den Palast zu bauen "begonnen" habe. Für die gleichfalls von ihm begonnene Pfalz Nijmegen/Nimwegen ist unter Karl keine einzige Reichsversammlung feststellbar gegenüber fünf unter Ludwig, sodass man daraus schließen kann, dass der Bau auch dieses Palatiums unter Karl wirklich nur begonnen wurde.
 

Die Funktionen von Königsland, Königshöfen und Pfalzen

Im Früh- und Hochmittelalter spielten Königshöfe (villaoder curtis regia) eine unersetzliche Rolle für den oftmals im Reich herumreitenden König mit seinem zahlreichen Gefolge. Von diesen einfacheren Königshöfen allerdings muss man die "Pfalzen"im engeren Sinne unterscheiden, die zu mehr als nur zu Übernachtungen dienten. Sie waren mit ihrem Umfeld des Königsgutes unerlässlich zum "Regieren" und als Versammlungsorte für Adel und Militär. Auf ihnen mussten bei Reichsversammlungen, Hoftagen oder Festen oft Hunderte, sogar Tausende von Gästenmit ihren Tieren (Ochsen, Maultiere, Pferde), Transportwagen und Zelten untergebracht werden.

Brühl (S. 71) geht von einem möglichen Gefolge allein des Königs von (bisweilen) 1000 Personen aus. Zur Dauer von solchen Reichsversammlungen stellte Seyfarth (S. 114 ff) die verfügbaren Daten zusammen. Danach konnten sie je nach Erfordernis und Möglichkeit von einem Tag bis (ausnahmsweise) zu fünf Wochen dauern, meistens wohl 2-3 Wochen.

Insgesamt hat Konrad Plath 1892 ca. 150 merowingische und karolingische Königshöfe geschätzt, von denen aber bisher die wenigstens archäologisch gefunden und untersucht werden konnten.

Für Reichsversammlungen unter Ludwig dem Frommen führt Eichler (Reichsversammlungen, Anhang Tabelle 2) 19 Pfalzen/Paläste auf:

- Aachen - Compiègne - Quierzy - Attigny - Diedenhofen/Thionville - Nimwegen - Ingelheim - Worms - Frankfurt - Tramoyes - Chalons - Orléans - Paderborn - Augsburg - - Vannes - Mainz - Tours - Langres - Jouac

Fried, S. 386 f., beschreibt den umherreisenden "Hof" so:

"Der Hof befand sich eben dort, wo der Herrscher weilte. Mit der Zeit lassen sich aus bestimmten Anlässen bevorzugt aufgesuchte Pfalzen erkennen, Winterpfalzen, Jagdpfalzen, Festtagspfalzen. «Pfalz», Palatium publicum konnte alles zugleich bezeichnen: die Versammlung der Großen, den Hoftag, das gesamte Ensemble der Pfalzbauten und deren Einrichtungen, die in der Lage waren, den König und seine engere Familie mit ihrem Gefolge - Männer, Frauen und Kinder, Vasallen, Dienstpersonal, Knechte und Mägde - für einige Wochen zu versorgen, Werkstätten, Lagerbauer und Scheunen, Ställe für Pferde, Kühe, Schweine und Zugochsen eingeschlossen. Die unterentwickelte Infrastruktur des Landes und die daraus resultierenden Versorgungsschwierigkeiten verboten eine feste Residenz. Nur Ansätze dazu lassen sich erkennen.

Worms oder Ingelheim, günstig am Rhein gelegen, wurden wiederholt aufgesucht; doch zuletzt ragte Aachen heraus.

Eine «Pfalz» - domus, palatium, aula, curia regis - war damit räumlich, personal, institutionell und kommunikativ zu verstehen; und sie machte - gleichsam paränetisch - die Herrscherdoktrin öffentlich. Sie war alles in einem: ein Ort, bald hier, bald da zu finden, eine Personengruppe mit dem König im Zentrum, die feste Herrschaftsmitte, ein Hort kirchlichen und kulturellen Wissens, eine Begegnungsstätte und Kommunikationsgemeinschaft, ein Mittelpunkt auch der wiedererstehenden Wissenskultur und Religionspraxis.

Eine feste Hofgesellschaft gab es, von der engeren Königsfamilie und den erwähnten Funktionären abgesehen, nicht. Hunderte von Personen, bis ein- oder zweitausend Menschen versammelte der Hof: Männer, Frauen, auch kleine Kinder, Berater, Besucher, Herbeigerufene, Fremde, die Verwandten des Königs, die Ehefrau, Zofen, Söhne, Töchter, Ammen, Diener und Knechte und Köche, der ganze Troß. Zahlreiche Bewaffnete begleiteten den Hof, wohin immer er zog. Das alles wälzte sich von Zeit zu Zeit mit dem König durch die Lande, von Pfalz zu Pfalz. Von daher versteht sich, daß «Palatium» in erster Linie die Gesamtheit der Personen am Königshof meinte und nicht bloß die Baulichkeiten der Pfalz. Und dennoch: Solches Reisen, notwendig wie es im personalen Herrschaftssystem zunächst war, wurde lästig mit der Zeit. Die Fahrten durch das Reich wurden vom Hof aus geregelt. Man wußte an den zentralen Pfalzen - etwa in Worms, Ingelheim oder Aachen - wo sich der König gerade aufhielt. Der Reiseweg mußte rechtzeitig festgelegt werden, um die Masse an Pferden, Zugochsen und Menschen aufnehmen und verköstigen zu können, die mit dem König durch die Lande zogen. Als Alkuin im Jahr 797 wissen wollte, wann der König aus Sachsen zurückkehre und in welcher Pfalz er den Winter verbringen werde, wandte er sich an die Königin Liutgard. Die Königin war ja, dem «Capitulare de Villis» folgend, für weite Bereiche der wirtschaftlichen Versorgung des Königshofes zuständig. Seneschall, Mundschenk und Stallgrafen hatten sonst die Fahrten des Königs durch das Reich zu organisieren und Vorsorge dafür zu treffen, daß überall ausreichende Vorräte an Getreide, Fleisch und Futter für Pferde und Ochsen zur Verfügung standen. Wein mußte mitunter von weither herbeigeschafft werden, wenn der König sein Kommen angesagt hatte. Ganze Dörfer waren für die Transportdienste zuständig. Für die Unterkunft des Gefolges mußten oft genug Zelte herhalten. Welch ein Triumph an Organisation, Kontrolle und Anziehungskraft des Herrschers.

Die über das Reich gestreuten Königshöfe unterschieden sich nach Größe und Ausstattung, wohl auch nach ihrer Funktion, ob Festpfalz oder Jagdpfalz, ob nur für Durchreise eingerichtet oder für längere Dauer."

Rosamond McKitterick (2008, S.190) ist jedoch skeptisch, ob wirklich der gesamte Hof ständig mit dem König herumzog, und nimmt stattdessen an, dass normalerweise nur ein relativ kleiner Personenkreis den reisenden König begleitete.

Man versucht aus Chroniken, aber auch aus den Orts- und Zeitangaben von Urkunden die Reiserouten der Könige teilweise zu erschließen, ihr "Itinerar" mit den Königshöfen bzw. Pfalzen, in denen sie Halt machten, "Hof" hielten und amtierten, auch wenn man beachten muss, dass nicht alle Urkunden tatsächlich in Anwesenheit des betr. Königs ausgegeben wurden (McKitterick, 173 ff.). Das war wohl auch in Ingelheim bisweilen so.

Der Ingelheimer Palast zählt neben Paderborn und Aachen mittlerweile zu den am besten erforschten. Da ein solcher Palast ohne die umfangreichen Ressourcen eines oder mehrerer Königsländereien nicht benutzbar gewesen wäre, darf man den Palast niemals isoliert betrachten, sondern immer im Versorgungszusammenhang mit seinem Königshof (Brühl, Fodrum).

Dass sich Bevorzugungen einzelner Pfalzen herausbildeten, vor allem für Winteraufenthalte, ist nur natürlich; für Karl war es neben Worms (in den 780er Jahren) vor allem Aachen und das belgische Herstal an der Maas, nördlich von Liège/Lüttich (siehe: Itinerar Karls des Großen). Etwa ab 794 wurde Aachen zu einer Dauerresidenz, in der Karl erstmals 788 Weihnachten verbrachte, (nach dem ersten Halbjahr in Ingelheim), dann 789 und 790 in Worms, 791 und 792 in Regensburg und 793 in Würzburg. Danach (nach dem Tod Fastradas 794) wurde die Pfalz in Aachen zu seiner regelmäßigen Weihnachtspfalz und überhaupt zur Residenz ausgebaut, eine Funktion, die diese Pfalz auch unter seinem Sohn Ludwig behielt. In Aachen wurde Karl († 28. Januar 814) auch bestattet.
 

In Ingelheim lässt sich Karl - entgegen der weit verbreiteten Meinung, es sei seine "Lieblingspfalz" gewesen - nur selten nachweisen. Details zu den damit zusammenhängenden schwierigen Fragen siehe hier! Seine Aufenthalte in Igelheim:

774 war Karl nur kurz hier, um vier "Scharen" gegen die Sachsen in Marsch zu setzen, Ingelheim diente also als Truppensammelplatz; zu diesem frühen Zeitpunkt gab es den Palast sicherlich noch nicht.

787/88 war er an Weihnachten, Ostern und im Sommer hier; im Juni fand hier der Tassilo-Prozess statt; sonstige Aktivitäten jener Zeit (bis auf die Ausfertigung einer Urkunde für das italienische Kloster Farfa am 28. März in "Inghilinhaim villa nostra") sind nicht bekannt; die Benutzbarkeit zumindest einiger neuer Palastbauten wird für diesen Prozess zwar meistens angenommen, es heißt aber in den Annales regni Francorum: "Et celebravit natalem Domini in villa, quae dicitur Ingilenhaim, similiter et pascha." - Und er feierte Weihnachten in einem Königshof, der Ingelheim genannt wird, und ähnlich auch Ostern.

Wenn er 787/788 das Weihnachts- und Osterfest hier (und nicht z.B. in St. Alban bei Mainz) feierte, dann brauchte er dazu eine große Kirche. Und das kann nur die Remigiuskirchegewesen sein, denn die Saalkirche wurde erst später gebaut, und die Trikonchienkapelle war viel zu klein dafür.

Wahrscheinlich traf sich Karl 791 hier mit seinem 13jährigen Sohn Ludwig, der ihm das aquitanische Truppenkontingent für den Awarenkrieg brachte, in einem "Engelheim", womit wahrscheinlich Ingelheim gemeint war.

im Jahre 807 war es aber mit ziemlicher Sicherheit der gleichnamiger Sohn Karl († 812), nicht sein "großer" Vater, der hier "seine" Versammlung von Bischöfen, Grafen und anderen Vasallen abhielt. Dies wird ausschließlich in einer späten Handschrift, der Chronik von Moissac berichtet; eine Bestätigungs-Urkunde Karls für einen Würzburger Besitztausch, der in Ingelheim verhandelt wurde ("actum Inghilenhaim palatio nostro"), wird mit dieser Versammlung in Verbindung gebracht; sie muss aber nicht vom Vater selbst ausgegeben worden sein. Auch dazu mehr hier.

Karl hat also das mit großem Aufwand begonnene Ingelheimer Palatium, wenn überhaupt, dann recht wenig genutzt bzw. noch gar nicht nutzen können.

Welche Gründe gab es für die Hinwendung nach Aachen außer den Thermalquellen dort? Wir wissen es nicht. Rauch diskutiert das ausführlich in BIG 11. Stefan Weinfurter fügte in seinem Festvortrag zur Eröffnung der beiden Ingelheimer Pfalzausstellungen am 07.09.2014 lächelnd eine weitere These hinzu: Der Palast sei zwar im Jahr 787/88 schon soweit fertig gewesen, dass er benutzbar war, etwa zum Prozess gegen Tassilo. Karl habe sich aber von ihm ebenso wie vom bis dahin vielfach besuchten Worms abgewandt, nachdem seine Frau Fastrada, die in unserer Region beheimatet war und in St. Alban bei Mainz bestattet wurde, im Jahre 794 gestorben war. Fastrada als tieferer Grund für den Baubeginn des Ingelheimer Palastes und ihr Tod als Grund seiner Nichtbenutzung?

Andere Historiker, die sich mit dem Itinerar Karl befasst haben, denken eher an die Kriegszüge Karls, die ihn in verschiedenen Epochen seines Lebens verschiedene Pfalzen als Schwerpunkte haben wählen lassen.
 

Warum wurde der neue Palast in Ingelheim gebaut?

Über die Tatsache seiner häufigen Benutzung im (Früh-) Mittellater hat sich schon Sebastian Münster am Ende seines Artikels über seinen Geburtsort Ingelheim in der Cosmographie in der Mitte des 16. Jahrhunderts gewundert (Cosm., Ausg. 1545, S. 418: "in disem sal so viel zu hausieren"). Als Erklärung führt er die schöne Lage zwischen Mainz und Bingen an, dem Rheingau gegenüber, sowie die Jagdmöglichkeiten als Ursachen der mittelalterlichen Beliebtheit Ingelheims. Gejagt hat aber Karls Sohn Ludwig in der Rhön, in den Ardennen und im Elsass, nicht in Ingelheim

Aus der Zeit von Karls Sohn Ludwig, unter dem dieses Regierungsviertel wohl vollendet wurde, konnten bisher keine konkreten Baumaßnahmen festgestellt worden. Es spricht nichts dafür, dass die Bauzeit in Ingelheim sich länger als in Aachen (etwa 10 Jahre) hingezogen haben müsste, es sei denn, dass die angefangenen Bauten wegen der Hinwendung zu Aachen einige Jahre unvollendet liegen blieben. Bis zum Auffinden weiterer archäologischen Befunde, die eine genauere Zeitstellung ermöglichen, können wir uns hierbei nur im Bereich von Spekulationen bewegen.

Die Zeit seines Sohnes Ludwig

Das heutige Renommée Ludwigs, der ihn als einziger seiner Söhne überlebte, leidet etwas unter seinem Beinamen "der Fromme", der aber falsche Assoziationen weckt. Denn er war bei aller Eingebundenheit in Kirche und Christentum nicht etwa ein "frömmelnder" Monarch im Sinne des 19. Jahrhunderts, sondern seine Zeitgenossen meinten mit dem lateinischen Beinamen "pius" die schon in Vergils Aeneis dem trojanischen Helden zugeschriebene Eigenschaft Pflichtbewusstein, und zwar dem Vater Karl und Gott gegenüber. Das mittelhochdeutsche Wort "vrum, vrom, from" bezeichnete Eigenschaften wie "tüchtig, brav, ehrbar, gut, tapfer, gottgefällig". Mit demselben Beiwort wurden übrigens auch bisweilen sein Vater und sene Nachfolger benannt.

Außerdem hat ihm die nationale Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts eine Art Schuld an den Teilungen des fränkischen Reiches gegeben, obwohl schon sein Vater einen Teilungsplan hatte beschließen lassen, der aber durch den vorzeitigen Tod der anderen Söhne hinfällig wurde - ein historischer Zufall.

In Ingelheim mag man sich deshalb lieber an den "großen" Karl erinnern, obwohl er so selten hier war, als an seinen "frommen" Sohn, unter dem die Ingelheimer Pfalz erst ein häufig benutzter Ort für Großveranstaltungen von europäischer Bedeutung wurde. Classen (S. 99) charakterisiert die Bedeutung der Ingelheimer Pfalz unter Ludwig folgendermaßen: "Sie dient der großen Repräsentation des Herrschers im Sommer vor den höchsten Vertretern seines eigenen Reiches und gegenüber den auswärtigen Kräften und Mächten."

Als Ludwig im Jahre 814 die Nachfolge seines Vaters antrat, war er bereits 36 Jahre alt. Bis dahin hatte er seit 781 als Unterkönig in Aquitanien (Südwestfrankreich) regiert und brachte von dort seine Vertrauten mit, darunter den Mönch Benedikt (von Aniane) und den Kanzler Helisachar. Die meisten Berater Karls mussten gehen, ebenso die vielen Töchter und unehelichen Kinder Karls, die wohl teilweise ein lockeres Leben in Aachen führten. Einhard jedoch konnte bleiben und wurde ein enger Berater Ludwigs.

Die von Ludwig getroffenen Erbfolgeregelungen hatten nachhaltige Auswirkungen auf das Frankenreich. Zunächst wurde 817 die Thronfolgeordnung ("Ordinatio Imperii") erlassen. Mit ihr sollte die Reichseinheit gesichert werden. Auf der Reichsversammlung von 829 jedoch verfügte Ludwig zu Gunsten seines nachgeborenen Sohnes Karl (von seiner zweiten Frau Judith) eine Änderung, mit der er diese Ordinatio selbst überging. Daher und aus anderen Gründen überschatteten Rebellion, Haft, Kirchenbuße und dauernde Auseinandersetzungen mit den Söhnen die letzten 10 Lebensjahre des Kaisers.

Am 20. Juni 840 starb Ludwig nach längerer Krankheit auf einer Rheinaue vor Ingelheim mit Blick auf seine vielbenutzte Pfalz. Er wurde aber - anders als sein Vater Karl in Aachen - nicht etwa hier in "seiner" Pfalz, sondern am traditionellen Bestattungsort seiner Familie in Metz bestattet.

Zur Zusammenstellung von Ludwigs Aufenthalten in Ingelheim
 

Aus der Regierungszeit Ludwigs des Frommen stammt eine Urkunde des Klosters Prüm (vom 06.02.835), in der ein "exactor palatii ingilenheim“ namens Agano mit dem Kloster Prüm einen Gebietstausch von 30 Morgen Weinbergs- und Ackerland vereinbarte.

Agano war eine Art Amtmann des Königsgutes, "Eintreiber" von Abgaben ("exactio" war die Eintreibung von jeder Form von Abgaben und Steuern); Schmitz, Pfalz und Fiskus, S. 56, nennt ihn einen "obersten königlichen Beamten". Fried (2014, S. 209) erwähnt als Verwalter eines karolingischen Domänen-Amtsbezirkes "iudices" (eigentlich Richter, so allgemein im capitulare de villis für die Leiter von königlichen Fiskalbezirken verwendet; siehe Steinitz 1911; aus Ingelheim nicht bekannt) oder "actores", die vielfach erwähnt werden (z. B. 823 ein "actor dominicus" aus dem Fiscus Frankfurt). Metz (S. 476) vermutet, dass dieser Agano identisch sein könnte mit einem missus und vasallus Ludwigs des Frommen von 821 und 831.

Unterschrieben bzw. gesiegelt haben diese Urkunde vier "Liberi homines", also Freie, mit Namen Gernand, Duodonius, Atto, Willibert, und neun "Fiscalines", also wohl hörige Angehörige des Fiscus Ingelheim, Hugo der Ältere, Williger, Hiltbreth, Albunc, Guntar, Teganolf, Otger, Hildebald und Guntbreth.

Einen "Pfalzgrafen" als Verwalter der Pfalz scheint es unter dieser Bezeichnung in Ingelheim niemals gegeben zu haben.

Das Ende der karolingischen Epoche

Ludwig „der Deutsche“ (852) und Karl „der Dicke“ (882) übertrugen der Frankfurter Pfalzkapelle, die dem hl. Salvator geweiht war, dem Vorgängerbau des heutigen Domes, Einkünfte aus dem Ingelheimer Königshof, die man damals wohl in Frankfurt nötiger brauchte. Das Salvatorstift behielt diese Rechte bis ins 14. Jahrhundert.  Das deutet darauf hin, dass man in der späteren Karolingerzeit und nach den Reichsteilungen, die Ingelheim in eine westliche Grenzlage rückten, andere Pfalzen für wichtiger hielt.

Unter Ludwigs Nachfolgern häuften sich nun Einfälle von Ungarn in Süddeutschland und Normannen (Wikingern) an Küsten und flussaufwärts im Binnenland, ohne dass die Könige viel dagegen ausrichten konnten. Dies förderte im östlichen Frankenreich die Bildung von Stammesherzogtümern (Sachsen, Thüringen, Bayern, Schwaben, Lothringen und Franken). Die Karolinger wurden schließlich von neuen Königen aus dem Gebiet von Niedersachsen bzw. Sachsen-Anhaltabgelöst.

Sie, beginnend mit Otto I., benutzten Ingelheim wieder; sie renovierten Gebäude in der Pfalzanlage und  brachten die Ingelheimer Pfalz (im weiteren Sinne) zu neuer und größerer Blüte.


Die Ingelheimer Pfalz mit ihren Palastgebäuden bildeten über 250 Jahre (bis zum Hochzeitsfest Heinrichs III. 1043) für viele Könige bzw. Kaiser einen wichtigen Ort für hochrangige politische und kirchliche Veranstaltungen, mit Häufungen unter Ludwig dem Frommen, unter den Ottonen und den ersten Saliern (Konrad II. und Heinrich III.).

Als sich jedoch der Schwerpunkt königlichen Lebens im 11. Jahrhundert von ländlichen Pfalzen wie Ingelheim in die mit der Geldwirtschaft aufblühenden Städte verschob, wurde sie – wie andere ländliche Pfalzen auch – nicht mehr in der bisherigen Weise benötigt. Sie verfiel, und ihre Regierungsgebäude wurden vielleicht schon in salischer Zeit, spätestens aber in staufischer Zeit zu einer Burganlage umgebaut, die durch die Einbeziehung des "Zuckerberges" erheblich erweitert wurde. Sie allein blieb zusammen mit der Remigiuskirche aus der alten Pfalz Karls des Großen übrig.

Spätere Illustrationen (Sebastian Münster) und Baubeschreibungen (s. u.) lassen zwar den Baukörper der Aula regia noch immer erkennen, wissen aber nichts mehr vom Nordflügel und dem Halbkreisbau, deren unter dem Niveau liegenden Ruinenreste schon Sebastian Münster nicht mehr bekannt waren. Für ihn sichtbar waren im Norden und Osten nur noch die Wehrmauern des "Ingelheimer Saals", wie man das ehemalige Palastgebiet nun nannte. Dass diese Wehrmauern immer noch karolingische Außenmauerteile enthielten, dieses Wissen war im Verlauf des Mittelalters verloren gegangen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein hielt man daher die spätmittelalterliche Burganlage für die Kaiserpfalz (siehe zweites Firmenzeichen der Firma Boehringer von 1905). 

Ab dem 14. Jh. wurden die Einkünfte solcher nicht mehr vom König benutzten Königsgüter vielfach verpfändet und die alten oder neuen Gebäude anderweitig verwendet, im Ingelheimer "Kaiser-Saal" (= "in aula nostra imperiali") z. B. als Augustiner-Chorherrenstift. 

Die Ruinen des ehemaligen Palastes dienten den Bewohnern als Steinbruch und wurden schließlich von ihnen überbaut, wobei einzelne Mauern als Teile der Wehrmauer und neuer Gebäude weiterverwendet wurden und dadurch (glücklicherweise) erhalten blieben. Es gibt also in Ingelheim an vielen Stellen noch aufgehendes Mauerwerk, das aus der Zeit Karls des Großen stammt, also über 1200 Jahre alt ist.

Zur Beschreibung und zu Abbildungen des Ingelheimer Saals bei Sebastian Münster 1545 und 1550.

Zur Beschreibung und den Abbildungen des "kayserlichen Ingelheimer Saals" 1619 von Laurentius Engelhart.

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Gs, erstmals: 31.07.05; Stand: 04.12.21

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Autor: Hartmut Geißler

Auf der Basis von
Hinkmar De ordine palatii (von 882, Edition 1980)
Diefenbach (1921),
Gauert (1965),
Brühl (1968),
Zotz, Palatium in Staab (1990),
McKitterick (2007),
Fałkowski, Wojcech: Wahrnehmung des königlichen palatium im westfränkischen Reich im 9. und 10. Jahrhundert. Bulletin der Polnischen Historischen Mission, 2009 (2022 online)
Ehlers (2007 und 2020),
Aachen Bd. 2, 2013
Fried (2014),

und nach der Durchsicht aller merowingischen Urkunden sowie der Urkunden von Arnolf bis Otto III in den DD der dMGH


sowie nach der Durchsicht aller Schriftquellen zur Ingelheimer Pfalzgeschichte bis zur Stauferzeit durch den Autor

Zur weiteren Begriffsgeschichte bis heute siehe "Pfalz Begriffsgeschichte"

1. Zur Forschungsgeschichte

Im Sprachgebrauch der deutschen Pfalzenforschung wird der Begriff "Pfalz" oftmals auch für alle Wirtschaftshöfe des Wanderkönigtums benutzt. Denn "Pfalz" genauer zu definieren, fällt schwer.

Adolf Gauert schloss 1965 seinen Forschungsüberblick mit der Feststellung ab, dass "der in königlicher Nutzung stehende Wirtschaftshof" ... ein "unentbehrliches Grundelement im Gefüge der Pfalzen" gewesen sei. "Pfalz" also etwas anderes, zu dem aber der Wirtschaftshof gehört.

Carlrichard Brühl versuchte 1968, "Pfalz" in seiner Untersuchung zu den wirtschaftlichen Grundlagen des (Reise-) Königtums im Frankenreich definitorisch gegenüber den einfachen Königshöfen abzugrenzen:

"Damit stellt sich nun die Frage nach einer Definition des Begriffs „Pfalz“. Aus der Terminologie der Urkunden und Annalen der Zeit läßt sie sich mit Sicherheit nicht herauspräparieren: willkürlich bezeichnen die Quellen einen Ort abwechselnd als villa, curtis, palatium, seltener auch als fiscus, civitas, castrum u. a. m. oder aber - und das kommt gar nicht so selten vor - sie lassen jede ergänzende Qualifikation weg und beschränken sich ausschließlich auf die Nennung des Ortsnamens. Danach bestimmen zu wollen, was eine Pfalz ist, wäre reine Willkür. Mit Recht wies Heimpel darauf hin, daß in den Quellen häufig nach dem Prinzip des „pars pro toto“ oder „totum pro parte“ verfahren wird."

Er empfiehlt daher einen engeren und einen weiteren Pfalzbegriff:

"Der engere bezeichnet das eigentliche Wohngebäude [und offenbar nur das! Gs] des Königs, der weitere den gesamten Siedlungskomplex, also einschließlich des Wirtschaftshofes, der Kapelle, der Befestigung usw. Nur in diesem weiteren Sinne möchte Heimpel, und wir pflichten ihm darin bei, von „Pfalzen“ sprechen, während er für die einzelnen Elemente der Pfalz vorschlägt, die lateinischen Termini (palatium, curtis, capella, castrum) beizubehalten. Natürlich ist auch damit keine Definition gegeben. [...] Ohne Zweifel waren die Königshallen der Höfe einschließlich der Nebengebäude, ja wohl nicht einmal die großen Pfalzen der „Kernlandschaften“ in der Lage, das gesamte Gefolge des Königs aufzunehmen, das, wie wir gesehen haben, auf über tausend Mann geschätzt werden muß. Rübel hat hier auf die in den Quellen mehrfach zu beobachtende Unterscheidung zwischen palatium und heribergum aufmerksam gemacht und im palatium zu Recht den eigentlichen Königspalast, im heribergum die Unterkunft für das weitere Gefolge oder das Heer erblickt. Doch nicht überall werden feste Gebäude für das Gefolge vorhanden gewesen sein, das häufig in Zelten bei dem Königshof oder der Pfalz biwakiert.“ Er möchte also den Pfalzbegriff im engeren Sinne nur auf die Wohngebäude, also sozusagen den „Palast“ der Könige beschränken.

Zusammenfassend bekannte er: "Man wird in diesem Buch vergeblich nach einer klaren Definition des Begriffes „Pfalz“ suchen. Es gibt sie nicht, und alle bisherigen Versuche - wir möchten meinen: auch alle künftigen - führten und führen zu keinem voll befriedigenden Ergebnis." (S. 770)

Zum Raumbedarf für Regierungszwecke schrieb er allerdings nichts. Auch bezog er ebenso wie die anderen Autoren die Änderung in der Wahl der Bezeichnungen im zeitlichen Verlauf nicht ein. Deshalb kann man letztlich auch mit seiner Unterscheidung der Ingelheimer Situation nicht gerecht werden, denn zu dem von Einhard wahrscheinlich (!) gemeinten Gebäudeensemble (die "Kaiserpfalz") gehörten ja mindestens drei Großbauten mit unterschiedlicher Funktion, zu denen noch nicht einmal das oder die Wohngebäude der Königsfamilie gehören muss/müssen.

Rudolf Schieffer,1980 der Mitherausgeber und Übersetzer von Hinkmars De ordine palatii, stellte in Anmerkung 103 auf S. 57 fest:
"Die genaue Bedeutung des Begriffs palatium ist den Quellen der Zeit kaum zu entnehmen; bisweilen werden synonym auch Bezeichnungen wie villa, curtis, fiscus, castrum und civitas verwendet [...]" - Er betont aber völlig zu Recht: "Bei Hinkmars Sprachgebrauch ist weniger an den lokalen Pfalzenbegriff zu denken [...] als an die personale Bedeutung des Begriffs: Hof, Hofhaltung, Hofgericht, König und Hofleute."

Hinkmar kennt jedoch durchaus den Begriff für Regierungsgebäude, auch wenn er ihn nur ungern so verwendet, was sich aus seiner Erklärung eines Zitates aus der Schrift des von ihm benutzten Adalhard ergibt:
"praetoria" (im Sprachgebrauch Gregors), die man heutzutage Königshöfe ("regia") und häufiger Pfalzen ("palatia") nenne. (Cap. IV, S. 60)
 

Das Ingelheimer Schlichtungsprotokoll von 876 als Beispiel für drei unterschiedliche Bezeichnungen in einem einzigen Text (Gs)

Die drei verschiedenen Verwendungen von „palatium“ als Regierung, als Königsgut zur Ortsangabe und als "palatium" im Eschatokoll zeigt ein Ingelheimer Schlichtungsprotokoll vom 18. Mai 876, also zur Zeit des Bischofs Hinkmar, wo vor König Ludwig "dem Deutschen" und 26 Großen (2 Erzbischöfe, 3 Bischöfe, 15 Äbte, 6 Grafen) der Streit zwischen dem Erzbischof Liutbert von Mainz und dem Abt Sigihard von Fulda über die Zehnten in Thüringen zugunsten des Klosters geschlichtet wurde. 

Darin heißt es :

- zuerst "ad palacium res ex utrisque partibus perlata“ – die Angelegenheit wurde von beiden Parteien der Regierung, also einem Personenkreis, vorgelegt;
- dann versammelten sich die Berater in der Ingelheimer Pfalz, dem Königshof, „apud cortem regiam lngilunheim“ - zur Lokalisierung wurde lieber Curtis verwendet als das vorher anders verstandene Wort palatium;
- und schließlich wurde die Sache verhandelt („acta“) „in palatio Ingilunheim vocitato“ in der erwähnten Pfalz Ingelheim, hier nun ganz offiziell-konservativ das herkömmliche „palatium“ synonym zu "curtis" gemeint (oder zum bloßen Ortsnamen). Die Formulierung "vocitato" offenbart, dass man damals (!) unter der Angabe von "palatium" in der Schlussformel das betreffende Hofgut verstand, also Gebäude, nicht personal die Regierung, aber auch nicht nur ein bestimmtes Regierungsgebäude der Ingelheimer Pfalz. So blieb das auch noch im 10. Jahrhundert, wo bei mehreren Eschatokollen Ottos II. deutlich wird, dass mit dem "palatium" Gebäude gemeint waren, z. B. bei seiner Urkunde Nr. 264 vom 18.10.981: „actum Beneventi in palatio regio“ – verhandelt in Benevent im Königspalast.

Auch bei den Annalisten wird "palatium" sowohl im Sinne eines Gebäudekomplexes, als auch im Sinne von "Hof" als Personengruppe verwendet. Hier ein Beispiel aus den Annalen von Fulda (aus dem Ende des 9. Jahrhunderts). Dort heißt es zum Aufstand von Ludwigs Söhnen im Jahr 830, dass sie nicht wollten, dass Bernhard (Ludwigs Neffe) genauso wie sie mit Teilen des Reiches ausgestattet würde: "Quem in palatio esse noluerunt" - den sie nicht im "Palast", d.h. in ihrem Kreise(also gleichberechtigt) haben wollten: Palast als personaler Hof.

Caspar Ehlers stellte 2007 in der Einleitung zum Tagungsbericht über die "Zentren herrschaftlicher Repräsentation im Hochmittelalter" lapidar fest: Es ist bekannt, dass nicht jeder Aufenthaltsort eines mittelalterlichen Königs als "Pfalz" bezeichnet werden darf." (Ehlers 2007, S. 9). Andererseits beantwortete er die selbst gestellte Frage, was eine "Königspfalz" (palatium regis oder ähnlich) von einem "Königshof" ("curia regis" oder ähnlich) unterscheide, so: "Man weiß es nicht genau." (Ehlers 2020, S. 33)

2. Verwendung von "palatium" in den Schriftquellen (Chroniken, Viten oder Urkunden) der (Ingelheimer) Pfalzgeschichte im Laufe der Zeit

In den wenigen erhaltenen echten Urkunden aus der Merowingerzeit wird palatium erstaunlicherweise sehr selten verwendet, in der Nr. 22 aus dem Jahr 584 mit der Ortsangabe "stirpiniaco (= Étrépagny) ... ad vet(us pa(latium)" (in Stirpiniacum, im alten Palast). In späteren Fälschungen, die die Merowingerzeit betreffen, wird das Wort hingegen sehr oft verwendet, wohl um die Echtheit zu bekräftigen. Gelegentlich wird palatium in Urkunden der Hausmeier-Arnulfinger benutzt, z.B. in einer Urkunde des Noch-Hausmeiers Pippin von 743 (Nr. 17), wo im Eschatokoll steht: "in civitate Metts in palatio regio" - in Metz im Königspalast- eine eindeutige Ortsangabe.

In der Zeit seit Karl dem Großen wurde der Begriff in wachsender Häufigkeit mit vier verschiedenen Bedeutungen verwendet:

- als nun häufige Ortsangabe im Eschatokoll, der Schlussformel von Urkunden (Diplomen)
- vielfach für die Regierung als Personenkreis
- bisweilen schon im weiteren Sinn synonym für einen ganzen Königshof (villa/curtis)
- und, was Ingelheim betrifft, bei Einhard, Ermoldus und dem Poeta Saxo im engeren Sinn für das neu erbaute Ingelheimer Palatium Karls des Großen, ein Regierungsviertel (sit venia verbo!), die heutige "Kaiserpfalz", möglicherweise eine Ingelheimer Besonderheit

In der späteren Karolingerzeit, als das Ingelheimer Hofgut mit seiner Pfalzanlage nicht mehr für Großveranstaltungen benutzt wurde, schwand wohl die Erinnerung an Karls Palatium als eine Besonderheit, "palatium" wurde nun überwiegend in den drei anderen Bedeutungen verwendet, vor allem für die Regierung, und im Eschatokoll allmählich durch villa/curtis bzw, überwiegend durch den bloßen Ortsnamen ersetzt. Diese allgemeine Tendenz, die nicht auf Ingelheim beschränkt war, setzte sich unter den sächsischen Königen im 10. Jahrhundert fort, bis hin zum fast völligen Verschwinden des mehrdeutigen Begriffes "palatium". Im Hochmittelalter bezeichnete man damit nur noch bewohnte Königs- oder Bischofspaläste, z. B. in Benevent, keine ländlichen "Pfalzen" mehr.

In der späteren Karolingerzeit wurde "palatium" in Urkunden-Eschatkollen immer weniger benutzt. Die Häufigkeit seiner Benutzung scheint ein Phänomen der frühen Karolingerzeit gewesen zu sein.

- bei Arnolf (König 887-899) 6 Mal (=3,6%) von 166 (echten) Urkunden - also schon verschwindend selten
- bei Zwentibold (König 895-900) 7 Mal von 27 (echten) Urkunden
- bei Ludwig dem Kind (König 899-911) 5 Mal von 77 (echten) Urkunden

Im 10. Jahrhundert:

- bei Konrad I. (König von 911-918) 2 Mal von 35 (echten) Urkunden


- bei Heinrich I. (König 919-936) 1 Mal von 41 (echten) Urkunden
- bei Otto I. (König 936-973) 27 Mal (=6%) von 435 (echten) Urkunden
- bei Otto II. (König von 973-983) 13 Mal (=4%) von 317 (echten) Urkunden
- bei Otto III. und Theophanu (König von 983-1002) 18 Mal (=4,2%) von 428 (echten) Urkunden

Gerhard Streich erwähnte diese allgemeine Entwicklung, die im Ingelheimer Gebrauch ihre Entsprechung findet, schon in seinem Beitrag zur Speyerer Tagung von 1988  "Die Pfalz. Probleme einer Begriffsgeschichte" (1990) mit folgender Feststellung:

"Wir können also für die ottonische Zeit eine weitgehende Einschränkung der Verwendung des Palatium-Begriffs sowohl in der offiziellen Urkundensprache als auch bei der zeitgenössischen Chronistik feststellen."

Seine Vermutung, warum trotz dieser allgemeinen Tendenz bei Aachen das Wort "palatium" noch etwas häufiger wegen des Andenkens an Karl den Großen neben etwa gleichviel anderen Formulierungen auftritt, braucht man jedoch nicht zu übernehmen, denn der Ortsnamen "Aquae/Aquis" (= "Baden") musste von vielen anderen Orten wie z. B. Aix-en-Provence im frankphonen Bereich unterschieden werden, und dazu verwendete man die Hinzufügung von "Grani" (also das "Baden des Granus") oder "palatii" (das "Baden der - ehemaligen - Pfalz").

1. Die örtlichen Verhältnisse der Ingelheimer Pfalz haben eine Besonderheit: Wie Einhard bemerkte (und nur er allein), wurde das neue Palatium Karls nicht wie üblich im Zentrum, bei der Kirche eines Königshofes gebaut, sondern daneben ("iuxta"), in fast 500 m Entfernung. Das war wohl ungewöhnlich, obwohl unser Wissen über die Lage der Regierungsgebäude in anderen Königsgütern, z. B. in Aachen, äußerst gering ist.

Unter der Ingelheimer "Pfalz" im weiteren Sinne sollte man aber sowohl die Gebäude und den gesamten Besitz des schon bestehenden Königshofes bei der Remigiuskirche verstehen, als auch die neu gebauten Palastanlage. Wenn seit dem ausgehenden 10. Jh. königliche Urkunden nur noch in Ingelheim" oder (in) curti/villa ausgefertigt wurden, folgt daraus aber keineswegs ein Gebäudewechsel bei der Verhandlung der Gegenstände und ihrer Urkundenbearbeitung, denn auch die alte Eschatokoll-Formel mit "palatio" hat niemals explizit Karl neues Palatium gemeint, sie war älter. Es spricht freilich einiges dafür, dass solche Regierungsgeschäfte tatsächlich im neuen Palatium stattfanden (siehe Hinkmar). Das macht die Beantwortung der Frage oft unmöglich, welche Gebäude bei den Erwähnungen von Ingelheim als Handlungsort zu verschiedenen Zeiten konkret gemeint waren, z. B. wo die Absetzung Heinrichs IV. stattfand, vermutlich doch in der Aula regia, aber ausgesprochen wird es in keiner der vielen Quellen.

2. Aus Traditionsgründen wird man sicherlich weiterhin die großartige Palastanlage Ingelheims als "Pfalz" bezeichnen, die heute sogenannte "Kaiserpfalz", aber am besten mit dem Zusatz "im engeren Sinn". Wir sollten uns durch ihr eindrucksvolles Modell im Museum nicht zu einem Tunnelblick verleiten lassen und unter der Ingelheimer Pfalz nur diese Palastgebäude verstehen.

Aus Karls Regierungsviertel und nur aus ihm wurde jedoch im hohen Mittelalter (seit Heinrich IV./V. oder spätestens seit der Stauferzeit) ein Castrum, eine Ritterburg, die in deutschen Urkunden später der Ingelheimer "Saal" genannt wurde, während die Gebäude des Königshofes, die wir noch nicht gefunden haben, mit der Remigiuskirche, beides viel älter als das karolingische Palatium, nicht mehr im Zusammenhang mit dem Saal gedacht wurden. Deshalb hielt man jahrhundertelang nur den Saal, bzw. - noch mehr verengt - sogar nur dessen westliche Gebäude für die ganze und alleinige "Pfalz".

Sebastian Münster schrieb 1544 zur Ingelheimer Pfalz/Saal: "Dann do ligt ein schloß, daß man jetzunt den Ingelheimer sal nennt, das vor achthundert jaren des großen keyser Carles pallast gewesen ist..." Und dort suchten auch der Mitarbeiter Schöpflins, Andreas Lamey 1764, und Johann Wolfgang von Goethe 1814 Kaiser Karls Palast und waren ziemlich enttäuscht von dem, was man dort noch sehen konnte.

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Gs, erstmals: 20.06.14; Stand: 14.01.22

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