Warum 3. oktober und nicht 9. november

Warum 3. oktober und nicht 9. november

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Verdammt lang her. Man muss heute schon beinah 50 sein, damit das Hirn Erinnerungen an diese Zeit speichern konnte. Björn Höcke ist 49, wuchs im Westen auf und fand in Thüringen seine geistige Heimat, wobei ihm der Postfaschismus näherliegt. Aber auch die DDR dient ihm gern mal als Bezugsgröße im Ressentiment gegen das real existierende Deutschland. Alexander Gauland ist 80 und es fehlt eigentlich noch sein Hinweis, dass die DDR nur ein Fliegenschiss in der deutschen Geschichte war. Größer immerhin, mit 40 Jahren Verweildauer, als die 12 Hitler-Jahre.

Für andere Zeitgenossen ist die verblichene DDR ein Nostalgiefaktor besonderer Güte. Das kann man zum Beispiel in der "Berliner Zeitung" nachlesen, die einmal Großes mit sich vorhatte. So etwas wie die deutsche "Washington Post" wollte sie sein, auch lang her. Vor wenigen Jahren hat Holger Friedrich das Blatt gekauft, ein in der IT-Branche reich gewordener Unternehmer mit Stasi-Schwefelgeruch.

In der "Berliner Zeitung" kann man jetzt viel Verständnisvolles über die freundlichen Seiten der DDR finden, die rechtsstaatlich der Bundesrepublik durchaus auch überlegen gewesen ist, nicht wahr, und jedenfalls kein Unrechtsstaat war, oder? Na ja. Noch mehr Empathie für Herz und Gemüt der versunkenen Zeit bringt der Mitteldeutsche Rundfunk auf, in Filmen, Dokumentationen und Serien.

DDR spielt kaum eine Rolle

Erinnerungen sind persönlich gefärbt, wie denn auch nicht. Zugleich sind sie ein Reservoir zur politischen und kulturellen Abgrenzung. Anlass für eine Dauerbeschwerde in Sachsen-Anhalt oder Thüringen oder Sachsen bietet das Unverständnis der westlichen Eliten gegenüber den Besonderheiten des Ostens. Daran ist ja auch einiges wahr. Denn im kollektiven Gedächtnis spielt die DDR nur eine Nebenrolle. Geschichtsdebatten kreisen heute immer noch um die Nazizeit oder wie seit Kurzem um den Wilhelminischen Kolonialismus.

Nationale Feiertage werden immer gerne genommen. So haben wir Westdeutschen es mit dem 17. Juni gehalten, dem Tag des Aufstandes gegen die Arbeitsnormen im Jahr 1953, von Sowjetpanzern überrollt. Der 3. Oktober ist zum Glück weniger blutig gefärbt.

Praktische Gründe führten dazu, dass er zum nationalen Feiertag erkoren wurde. Am 12. September hatten die vier Siegermächte und die beiden deutschen Staaten den 2+4-Vertrag unterzeichnet, der die Wiedervereinigung völkerrechtlich ermöglichte. Am 2. Oktober trafen sich dann die Außenminister der KSZE-Staaten und wurden förmlich von den Signatarmächten informiert. So war der 3. Oktober 1990, ein Mittwoch, der frühestmögliche Termin. Dieser Tag ist zum Glück nicht so durchtränkt mit deutscher Geschichte wie der 9. November, die verworfene Alternative.

Mehr Show geht nicht. Auf den Champs-Elysées wird getanzt und gefeiert, hoch oben ziehen neun Alpha Jets die Nationalfarben in den Himmel über Paris. Der 14. Juli in Frankreich ist ein Spektakel. Eines, das die Geschichte der ehemaligen Grande Nation auf ein Ereignis reduziert – auf den Sturm auf die Bastille und somit auf den Beginn der Französischen Revolution 1789.

Nun ist die französische Geschichte nicht frei von Brüchen, doch niemand jenseits des Rheins käme auf die Idee, die Schattenseiten an einem Feiertag in den Vordergrund zu stellen. Vielleicht stand diese Idee des einen, noch dazu guten, Moments Pate, als die Deutschen ihren Feiertag auf den 3. Oktober legten.

Vor 31 Jahren wurde Anfang Oktober die deutsche Einheit vollzogen. Schon das Wort "vollzogen" verrät, dass es eher ein verordneter Anlass für einen Feiertag denn ein passender ist. Den Politkern, allen voran Helmut Kohl, der sich gerne als Kanzler der Einheit titulieren ließ, ging es viel um Symbolik und weniger um die Frage, ob dieser Tag tatsächlich unsere komplexe Geschichte repräsentieren kann.

Was in Frankreich funktioniert, die Zuspitzung der auch von viel Negativem begleiteten Vergangenheit auf den Dreiklang Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit, kann in Deutschland nicht annähernd klappen. Dafür ist unsere Vergangenheit zu ambivalent, dazu ragt als unverrückbarer Teil unserer Geschichte die Nazi-Barbarei zu sehr heraus.

Der 3. Oktober hat denn auch seine Funktion nie vollständig erfüllen können. Abgesehen vom offiziellen Einheitsfest, das durch die Bundesländer tourt, tut sich nicht viel. Die meisten von uns können allenfalls von schönen Wandertagen in der Oktobersonne berichten, die wenigsten verbinden dieses Datum mit einer Reflexion über unsere Vergangenheit.

Unter Experten gibt es deshalb schon lange keinen Zweifel mehr: Dieses Datum passt nicht wirklich. Ein anderes dafür umso mehr. Der 9. November bietet alles, woran es dem 3. Oktober mangelt: Emotion, Ambivalenz und Tiefgang. Und ja: auch viel Schatten.

"Gegen den 9. November als nationaler Feier- und Gedenktag spricht eigentlich nur das Wetter. Ansonsten verbinden sich mit diesem Tag so viele Facetten deutscher Geschichte, positive wie negative, dass dieser Tag eigentlich der Tag des Feierns und des kritischen Nachdenkens über das eigene Land sein müsste", erläutert Alexander Schmidt, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Dokuzentrums Reichsparteitagsgelände.

Wir Deutschen sollten diese Widersprüche aushalten

Der Nürnberger Historiker verweist auch darauf, dass der 9. November "ein viel emotionalerer Tag ist als der 3. Oktober: Ich verbinde nicht mit dem 3. Oktober 1990, sondern mit dem 9. November 1989 die deutsche Einheit und mit dem 9. November 1918 einen Aufbruch in demokratische Zeiten. Dass mit dem Pogrom 1938 ein Tiefpunkt deutscher Geschichte ebenfalls mit dem 9. November verbunden ist, macht den Tag als Feier- und Gedenktag nur noch glaubwürdiger. Wir Deutschen sollten und können diese Widersprüche aushalten."

Genau diese Widersprüche machen den Tag aber offenbar zu komplex, um ihn für Politiker als ernsthafte Alternative in Erwägung zu ziehen. Charlotte Knobloch, die Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde für München und Oberbayern, weiß sehr genau Bescheid, wenn es um die Vor- und Nachteile dieses Datums als Gedenktag geht: "Ich wäre dafür, den 9. November zu wählen, aber nicht jetzt."

Frei übersetzt: Knobloch hält die Zeit noch nicht für reif, um den Deutschen dieses Datum zuzumuten. Zumal die Antisemiten und Rechtsextremen im Lande nur darauf warten, einen solchen Vorschlag zu zerpflücken. Wer, wie der damalige AfD-Fraktionschef Alexander Gauland, die zwölf Jahre NS-Diktatur als "Vogelschiss" der deutschen Geschichte bezeichnet, will von einem aufgewerteten Gedenken an das Pogrom von 1938 wohl wenig wissen. Es sind solche unbequemen Debatten, die Deutschland zunächst aushalten müsste.

Es spräche dennoch viel dafür, denn der 9. November hat nicht nur Konjunktur, was auch eine Vielzahl von Veröffentlichungen belegt (Wolfgang Niess: Der 9. November. Die Deutschen und ihr Schicksalstag, C.H. Beck), sondern "dieses Datum ist als symbolischer Tag bedeutsam", sagt Jörg Skriebeleit, der an der Uni Regensburg Erinnerungskultur lehrt. "Ich befürworte, den 9. November als Gedenktag zu wählen". Skriebeleit, der als Leiter der KZ-Gedenkstätte in Flossenbürg überregional Anerkennung erhalten hat, verweist auf die Tradition dieses Gedenktages in der Bundesrepublik: "Der 9.11. ist das zentrale Datum der Erinnerung an die Ermordung der Juden." Über Jahrzehnte wurde an diesem Tag an die "Reichskristallnacht" (ein Begriff, der heute ob seiner verharmlosenden Grundaussage verpönt ist und durch Pogromnacht ersetzt wurde) erinnert.

Es sei eine Erinnerung gewesen, die sehr breit getragen wurde: Von den Gewerkschaften bis zu den Kirchen hätten sich alle gesellschaftlichen Gruppen engagiert, hebt Skriebeleit den "partizipativen Ansatz" des 9. November hervor. Durch die Ereignisse des 9. November 1989, als die DDR-Grenzen überraschend geöffnet wurden, habe dieses Datum einen "anderen Switch, eine Umdeutung" erhalten.

Ein Tag, der alle Aspekte unserer Geschichte vereint

"Diese Veränderung in unsere Gedenkkultur aufzunehmen, das ist eine herausragende Aufgabe", appelliert der Kulturwissenschaftler an die Politik. Für deren Nöte hat er durchaus Verständnis. Die Gefahr einer Vermengung von guter und böser Geschichte bestehe natürlich. Dennoch beinhalte der 9. November "alles, was deutsche Geschichte ausmacht".

Oder, wie Autor Wolfgang Niess schreibt: "Unser Weg zur Demokratie war nicht bequem und leicht. Der 9. November macht mit all seinen Daten – 1918, 1923, 1938, 1989 – diesen langen, von furchtbaren Rückfällen in die Barbarei unterbrochenen, schließlich aber erfolgreichen Kampf um die Demokratie anschaulich und nachvollziehbar wie kein anderen Tag des Jahres." Nicht die schlechtesten Voraussetzungen für einen Feiertag, der den 3. Oktober ablösen sollte.

Michael Husarek, NN-Chefredakteur: Der 3. Oktober hat mich nie bewegt. Ganz anders nehme ich den 9. November wahr: Als Geschichtsstudent erlebte ich 1989 mit dem Fall der Mauer ein Ereignis, das ich nie für möglich gehalten hätte. Und 1938 zeichnete sich an diesem Tag der Weg in den Holocaust ab. Was für ein Datum!